Bildungspolitik ohne Bildungskultur?

Wer einen Abschluss macht — wie auch immer, ob mit oder ohne Haken und Ösen — immer hat er oder sie Anlass zu feiern.

Ob Soldat, ob Techniker, Handwerker, ob Kauf-, Land-, Handels-, See- oder Arbeitsmann, ob Lehrling, Geselle, Meister, Schüler, Student oder Doktorand — feiert Euren Abschluss! Das muss man den Allermeisten nicht zweimal sagen.

Bei akademischen Abschlüssen geht es in Deutschland nüchtern zu. Anders in den USA, wo gute Universitäten sich um die Eltern und die Studierenden als Kunden weitaus intensiver bemühen. Dort werden erfolgreiche ehemalige Absolventen oder der Universität verbundene Menschen geehrt, indem sie gebeten werden, bei der Abschlussfeier eines Jahrgangs die Festrede zu halten, die Commencement Speech.

Da geht es um die Botschaft, aus der Erfahrung des Berufslebens gewachsen: Nun seid Ihr Erwachsene, das erwartet Euch jetzt, das ist mein Rat!

Das amerikanische Magazin TIME *1) hat im Mai 2015 eine eindrucksvolle Liste solcher Commencement Speeches veröffentlicht. Der SPIEGEL *2) berichtete kürzlich über die Rede von Michelle Obama an der Universität von Tuskegee im Südstaat Alabama.

Hier geht es um zwei Commencement Speeches, die den Absolventen sagen: Dies ist die Welt, vor der Ihr jetzt steht; dies sind die Eigenschaften, mit denen Ihr die heutigen Herausforderungen bestehen könnt.

Es sind die Reden zu Abschlussfeiern, die zwei große Persönlichkeiten gehalten haben: Madeleine Albright, ehemalige Außenministerin der USA, für die Tufts University und die Schriftstellerin Joyce Carol Oates für das Niagara County Community College. *3)

Die Tufts University wurde Mitte des 19. Jahrhunderts in New England von der Universalist Church und dem Geschäftsmann Charles Tufts unter dem Motto „Pax et Lux“ gegründet.

Ihre Stimmen zu erheben für „Frieden und Licht“ und damit mehr zu sein als „Konsumenten der Freiheit“ — dies forderte Madeleine Albright von den Tufts-Absolventen 2015.

Für solche Haltung habe Tufts die amerikanischen Studenten mit ihren Kommilitonen aus mehr als 100 Ländern vorbereitet: für eine geistige Orientierung nach außen, für eine globale Perspektive.

In Zeiten des Umbruchs müsse sich Aufgeschlossenheit in der Heimat und in der Welt bewähren.

In der Heimat dürfe die Vielfalt der Identitäten und Loyalitäten nicht zum Gegeneinander führen: „No matter our race, creed, gender, or sexual orientation, we are all equal shareholders in the American Dream.“

Die Kluft zwischen armen und reichen Ländern werde tiefer, die Umwelt sei zunehmend gefährdet. In Europa und Asien drohe neuer Nationalismus, im Mittleren Osten extremes Sektierertum. Gruppen, für die Religion als Lizenz zum Töten dient, nutzen immer zerstörerische technische Mittel. „The world is a mess.“

In dieser Welt bleibt für Madeleine Albright Amerika das hellste Leuchtfeuer der Freiheit: Wir sind vielfältig, unternehmerisch und unverwüstlich. Diese Stärken Amerikas sollten gemeinsam mit Partnern dem internationalen Dialog und dem Ziel dienen, die Herausforderungen der Globalisierung zu bewältigen.

Joyce Carol Oates widmete ihre Commencement Speech den Absolventen des Niagara County Community College in Sanburn, New York.

Auch sie warf einen kritischen Blick auf unsere Zeit: „a morally schizoid time“, die einen tiefen Bruch zwischen dem „öffentlichen“ und dem „privaten“ Leben für die meisten von uns bedeute.

Wir Lehrer verlangen von unseren Schülern ehrliche Arbeit, dass sie nicht betrügen oder plagiieren. Und dennoch sehen wir unsere amerikanischen Mitbürger, ja, unsere vermeintlichen „leader“ in Wirtschaft und Politik buchstäblich jeden Tag als unehrlich, betrügerisch, korrupt entlarvt. Als Menschen, die Unternehmen ausplündern, die Umwelt ruinieren, die abgebrüht gleichgültig gegenüber dem Schicksal hilfloser Mitbürger und die Ausbeuter junger Menschen sind.

In dieser „moralisch schizoiden“ Zeit steht „Ihr vor dem großen Abenteuer“: das eigene Leben persönlich, moralisch, intellektuell, spirituell zu behaupten. Joyce Carol Oates rät, welche Haltung die persönliche Integrität auf der Suche nach der eigenen Rolle in dieser Zeit stärkt.

▪ Stoische Qualitäten und ein Sinn für Humor seien entschieden gute Ideen!

▪ Ratsam sei ein „Sinn für Proportionen“: Weder können wir alle die „Besten“, noch alle die „Schlechtesten“ sein.

▪ Wir sollten wissen, dass andere eine ebenso schwere, wenn nicht gar eine schlimmere Zeit durchleben müssen als wir selbst.

Amerika sei ein wundervolles Land, aber der Fokus seiner Medien auf „winner“, „stars“, „celebrities“, „champions“ sei unrealistisch und nicht hilfreich, uns auf das Leben in dieser Welt vorzubereiten.

Oates schildert die Erfahrungen des jungen Stephen King, heute der erfolgreichste Autor der Welt. Als junger Lehrer musste er in einem Schlachthof arbeiten, weil er nicht genug verdiente. Er schrieb 60 Erzählungen, alle wurden von den Verlagen abgelehnt. Er schrieb 4 Romane, alle abgewiesen. Verzweifelt hatte er den vierten Roman, „Carrie“, in den Mülleimer geworfen, als der Verlag ihn zurück schickte. Heimlich holte seine Frau, Tabitha King, die immer wieder als eigentlicher Schriftsteller der Familie King gepriesen wurde, das Manuskript aus dem Müll und sandte es an einen anderen Verlag. Damit begann der Aufstieg Stephen Kings.

Deshalb rät Joyce Carol Oates: „Energy—industry—refusal to be discouraged—a prevailing sense of humor: these are essential in our lives.“

Wir alle haben „Schwächen“, aber uns bleibe nicht die Zeit, unsere Schwächen zu „verbessern“. Uns bleibe nur die Zeit, um uns auf unsere „Stärken“ zu konzentrieren. Was Du gut kannst, musst Du besser machen. Und wenn es besser gelingt, musst Du es noch besser machen. Dies sei der einzige Weg, um Herausragendes zu erreichen, gleich auf welchem Gebiet.

„Heart“ wünscht Joyce Carol Oates den jungen Menschen, jenen nicht fassbaren Kern des Individuums, der fordert: Ich gebe nicht auf, ich werde durchhalten!

Der Spiegel schreibt zum Universitätsabschluss in Deutschland, „meist läuft das doch so: letzte Prüfung, dann kann man sich das Diplom im Sekretariat abholen.“

Andere Länder, andere Sitten, andere Bildungskultur …

*1) https://flipboard.com/@time/advice-for-2015-grads-that-everyone-should-read

*2) SpiegelOnline, 11. Juli 2015; US-Abschlussfeiern. Mut fürs Leben. Von Jiffer Bourguignon.

*3) http://time.com/3882439/madeleine-albright-tufts-graduation-speech/. (Am 18. Mai 2015); http://time.com/3893106/joyce-carol-oates-to-grads-be-stubborn-and-optimistic/. (Am 21. Mai 2015).