BoJo ausgebremst!

Freunde der Briten, noch immer auf Bremain hoffend, respektieren dennoch, dass die Regierung des UK das Ergebnis des Brexit-Referendums von Juni 2016 umsetzen will.

1. EU-Außenseiter UK?

Premierminister Boris Johnson hat in seiner Brexit-Rede im Unterhaus *1) dargelegt, wie aus seiner Sicht das UK seit Jahrzehnten zu einem Außenseiter der EU abgestempelt wurde: Großbritannien als ewiges EU-Schlusslicht, außerhalb der Gemeinsamkeit des Schengen-Raumes, gegen den Euro, gegen das Ziel der immer engeren Politischen Union, also ohnehin nur als halbherzig in der EU angesehen.

In einem Inselvolk, das stolz auf seine weltpolitische Vergangenheit und seinen Kampf als letzte westeuropäische Bastion gegen die Nazis ist, hinterlässt solche Wahrnehmung vom “Kontinent“ gewiss tiefe Spuren.

Die Brexit-Verhandlungen zwischen der britischen Regierung und Michel Barnier, dem Beauftragten der EU-Kommission, wirkten seit Oktober 2016 auch für die europäische Öffentlichkeit als quälend langsames Hin und Her.

2. Anmaßung aus Deutschland gegenüber Premier Johnson.

Unangenehm wurden dennoch im Vorfeld der aktuellen Verhandlungsrunde Stimmen hochrangiger deutscher Politiker nicht nur auf der britischen Insel empfunden.

Da ist zunächst die Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Katarina Barley (SPD-Linke), zu nennen. Seit ihren mit “Plapperei” (Kolumnist Jan Fleischhauer) bewerteten Einlassungen als deutsche Spitzenkandidatin der SPD bei der EU-Wahl sind ihre Auftritte berüchtigt.

Die Verhandlungen zwischen der Regierung von Premier Boris Johnson und Michel Barnier wurden von Barley jedoch mit Urteilen begleitet, für die “Plapperei” noch höfliche Umschreibung ist: *2)

  • Premier Johnson verfolge “rein egoistische Motive“. „Es geht ihm nur um sich selbst“. „Das ist das einzige, was ihm wichtig ist.“ Dem Premierminister “komme es gar nicht auf den Inhalt an, sondern nur darauf, dass er möglichst gut dastehe.“
  • „Ich bin wütend, weil die gesamte Brexit-Entwicklung von Beginn an eine Ausgeburt von männlichem Narzissmus und innerparteilicher Profilierung ist“.
  • „Es wird kein gutes Ende haben, denn es gibt keinen befriedigenden Ausweg aus der Situation.“

Nur wenig maßvoller erscheint im Vergleich das Urteil von Bundespräsident Steinmeier. Steinmeier war zwar auch nicht zuständig für die EU-Brexit-Verhandlungen, trat dafür jedoch mit Vorgaben für das Resultat hervor: *3)

  • “EU wird Haltung zu Backstop nicht ändern.“ “Die EU wird keine Kompromisse in der Frage des sogenannten Backstops nach einem britischen EU-Austritt machen. Alle Varianten, um eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland zu vermeiden, seien bereits durchdiskutiert worden“.
  • “Eine Änderung der Position der EU und des ausgehandelten Austrittsvertrages sei deshalb ´wenig wahrscheinlich`“. Steinmeier “halte es für wenig wahrscheinlich, dass die Verhandlungen mit Großbritannien nochmals in Gang kommen“. Denn Steinmeier “habe den Eindruck, dass es mehr um ´Schuldzuweisungen` gehe.“

Erstaunlich auch der “Takt“ des deutschen Staatsoberhauptes, sich derart öffentlich nach einem Treffen mit der slowakischen Präsidentin Zuzana Caputova und außerdem kurz vor dem Besuch des britischen Premierministers Boris Johnson in Berlin zu äußern.

3. Der neue Brexit-Vertrag zwischen UK und EU.

Barleys und Steinmeiers Ausführungen zu den Brexit-Verhandlungen schaden zwar dem Deutschland-Bild im UK, können aber als schräg, anmaßend und irrelevant abgetan werden. Denn am 17. Oktober 2019 wurde von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, UK-Premier Boris Johnson und EU-Verhandlungsführer Michel Barnier der neue Brexit-Vertrag verkündet. *4)

  • Der Backstop sei weg, eine neue Lösung sei gefunden worden.
  • Eine Zollgrenze zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland sei vermieden.
  • Mitspracherechte der nordirischen Volksvertretung seien gewährleistet.
  • Die britische Regierung sage zu, EU-Umwelt- und EU-Sozialstandards nicht zu unterbieten.
  • Nordirland werde auch künftig Regeln des EU-Binnenmarktes anwenden.
  • Damit sei der ursprüngliche Plan hinfällig, dass notfalls das gesamte Vereinigte Königreich in einer Zollunion mit der EU bleibt. Großbritannien steht es frei, internationale Handelsverträge abzuschließen.

Auch die mit ihrem Brexit-Deal gescheiterte Vorgängerin Johnsons, Theresa May, hat in der Sondersitzung des britischen Unterhauses am 19.10.2019 eindringlich dafür geworben, den neuen Brexit-Deal zu ratifizieren: „Wenn das Parlament den Willen des Volkes ernst nehme, sei es nun in seiner Verantwortung, den geregelten Austritt aus der Europäischen Union zu ermöglichen. Man könne nicht ein zweites Referendum abhalten, nur weil Manche mit dem Ergebnis des ersten Referendums nicht zufrieden seien.“ *5)

4. Sternstunde der britischen Demokratie: Samstag, 19. Oktober 2019.

Sicher werden Analyse und Debatte der Effekte des neuen Brexit-Abkommens auf die britische Wirtschaft und den politischen Zusammenhalt des UK nicht enden. Das bleibt Aufgabe der Politik und vor allem des Parlaments.

Am Samstag,19. Oktober 2019, fand deshalb eine Sondersitzung des britischen Unterhauses zum neuen Brexit-Vertrag mit der EU statt. *6)

Diese Sondersitzung gipfelte in einer denkwürdigen Demonstration parlamentarischer Selbstbehauptung gegenüber der Regierung. Der parlamentarische Mut wird hier betont angesichts maßloser Hetze in britischen Pro-Brexit-Massenblättern gegen das Unterhaus: Wichtigtuer, Irrenhaus, Brexit-Verschrotter, Anschleimer u.ä.m.. *7) Gerade deshalb kann diese Sondersitzung als eine Sternstunde der britischen Demokratie gesehen werden.

Der Unterhausabgeordnete Oliver Letwin hatte mit parteiübergreifender Unterstützung einen Änderungsantrag zum neuen Brexit-Vertrag zwischen dem UK und der EU initiiert.

Dieses “Letwin amendment“ erfordert, dass eine Abstimmung über den neuen Brexit-Vertrag und dessen Ratifizierung erst dann erfolgen kann, wenn dieser Brexit-Vertrag vollständig in britisches Recht übertragen und das entsprechende Gesetz sowohl vom Unterhaus wie vom Oberhaus (House of Lords) verabschiedet worden ist.   

Die Begründung Letwins wird hier als Ausdruck parlamentarischer Würde in der Brexit-Debatte bewertet und bewundert: *8)

  • Der Zweck des Änderungsantrags sei, die durch den Benn-Act ermöglichte Risiko-Absicherung zu gewährleisten, die verhindert, dass das UK automatisch am 31. Oktober die EU verlässt, wenn der neue Brexit-Vertrag bis dahin nicht von beiden Häusern UK-Parlaments ratifiziert ist.
  • Letwin verstehe und akzeptiere die Strategie des Premierministers, schwankende oder entscheidungsschwache Parlamentarier vor die Alternative zu stellen “Mein Deal oder kein Deal. Stimmt den kommenden Gesetzen zur Umsetzung meines Deals zu oder wir scheiden ohne Deal aus“. Trotz Letwins Unterstützung des neuen Brexit-Deals sei es für ihn nicht zu verantworten, die britische Nation durch solche Drohung dem Risiko eines No-Deal-Brexit auszusetzen.
  • Niemand könne wissen, welche Strategien und Taktiken von einigen Abgeordneten bei der Abstimmung am Samstag, 19. Oktober, über den Brexit-Vertrag beabsichtigt seien. Letwin wolle niemandem etwas vorwerfen; denn es sei überhaupt nicht unehrenhaft, mit bestimmter Zielsetzung strategisch über den neuen Brexit-Vertrag abzustimmen. Dennoch sei das Risiko unvertretbar, die Regierung aus der Verpflichtung des Benn-Acts zu entlassen, einen Aufschub des Brexit bei der EU zu beantragen. Eben weil es vorstellbar bleibe, dass nach einmal erfolgter Zustimmung zum neuen Brexit-Vertrag die rechtzeitige Zweite oder Dritte Lesung eines britischen Brexit-Gesetzes scheitere. Und dass dann das UK ohne Brexit-Gesetz am 31. Oktober in einer dem No-Deal-Brexit entsprechenden rechtlichen Situation aus der EU scheiden müsse.
  • Wenn der Premierminister das Gesetz zur endgültigen Ratifizierung des UK-EU-Vertrags dem Unterhaus vorlegt, werde Letwin dafür stimmen. Jedoch nur in der Gewissheit und mit rechtlicher Garantie, dass das UK nicht am 31. Oktober 2019 ohne einen nach britischem Recht ratifizierten Brexit-Vertrag aus der EU scheidet, falls die Gesetzgebung zu diesem britischen Brexit-Vertrag aus irgendeinem Grunde nicht abgeschlossen würde.

Ebenso hat der Präsident des Unterhauses (The Commons Speaker) John Bercow die Unabhängigkeit und die Würde des britischen Parlaments gegen die Regierung Johnson verteidigt. John Bercow hat heute das Ansinnen der Regierung zurückgewiesen, eine “Ja“- oder “Nein“-Abstimmung über das Brexit-Abkommen der Regierung mit der EU durchzuführen, um am 31. Oktober 2019 aus der EU scheiden zu können. Die Regierung Johnson wird zunächst einen in britisches Recht umgesetzten und parlamentarisch ratifizierten Brexit-Vertrag vorweisen müssen, bevor sie das Parlament um Zustimmung für ihren Brexit-Deal mit der EU ersuchen kann. Andernfalls ist der Regierung durch das „Letwin-amendment“ zum UK-EU-Brexit-Vertrag und durch den „Benn-Act“ gegen einen No-Deal-Brexit der Austritt aus der EU verwehrt.

Wichtiger als verbreitete deutsche “Genervtheit“ über Dauer und Komplexität des Brexit-Verfahrens oder die schrägen Kommentare von Barley und Steinmeier im Vorfeld der letzten Brexit-Verhandlung mit der EU ist, dass die Würde des traditionsreichen britischen Parlaments gewahrt wurde.

Deshalb können sich Demokraten freuen, dass BoJo vom House of Commons ausgebremst wurde. Auch die Intervention des Obersten Gerichtshofes des UK  gegen Premier Johnsons Versuch im September 2019, das Parlament zu umgehen, indem er es in längeren „Zwangsurlaub“ schicken wollte, zeigte eindrucksvoll die Stärke britischen Rechts und der demokratischen Gewaltenteilung.

Dennoch wird die Freude größer sein, wenn die kommenden Verhandlungen über eine neue Beziehung der EU mit dem großen europäischen Partnerland Großbritannien die Freiheit, die Marktwirtschaft und die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in Europa stärken.

*1) Prime Minister’s Statement. 19 October 2019. Volume 666; https://hansard.parliament.uk/commons/2019-10-19/debates/8C3F5267-8186-4536-83EC-56E3C88DCC8E/PrimeMinister’SStatement.

*2) Vizepräsidentin des EU-Parlaments kritisiert Johnson. Meldung der dts Nachrichtenagentur vom 13.10.2019.

*3) Steinmeier – EU wird Haltung zu Backstop nicht ändern. 21.08.2019. Reuters; https://www.onvista.de/news/steinmeier-eu-wird-haltung-zu-backstop-nicht-aendern-267418195. Ebenso: https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/brexit-bundespraesident-steinmeier-eu-position.

*4) NACH LAST-MINUTE-VERHANDLUNGEN. Endlich eine Einigung im Brexit-Streit! EU-Boss Juncker: „Wo ein Wille ist, da ist ein Deal – wir haben ihn“ ++ Boris Johnson glaubt an Mehrheit im britischen Parlament ++ Börsen feiern den Deal. Artikel von: ALBERT LINK (BRÜSSEL), veröffentlicht am 17.10.2019 – 13:22 Uhr; https://www.bild.de/politik/2019/politik/brexit-endlich-eine-einigung.

*5) Theresa May wirbt leidenschaftlich für neuen Brexit-Deal. Meldung der dts Nachrichtenagentur vom 19.10.2019.

*6) Seit 80 Jahren habe das Unterhaus nur vier Mal an einem Samstag getagt: Am 2. September 1939 (Beginn des Zweiten Weltkriegs durch Nazi-Deutschland). Am 30. Juli 1949 (letzte Sommer-Sitzung). Am 3. November 1956 (Suez-Krise zwischen Ägypten gegen Großbritannien, Frankreich und Israel nach Verstaatlichung des Suez-Kanals durch Ägypten). Und eben am 19. Oktober 2019 zur Brexit-Sondersitzung.

*7) Man mag sich selbst an Übersetzungen der Schimpftiraden in der britischen Pro-Brexit-Massenpresse versuchen.

*8) Sir Oliver Letwin: ehemaliger Staatsminister (2010 – 2016) unter Premier David Cameron. Wegen der Unterstützung des “Anti-No-Deal-Brexit“-Gesetzes (sog. Benn-Act) im September 2019 aus der Konservativen Partei ausgeschlossen, nunmehr unabhängiges Unterhaus-Mitglied, mit der Aussage seine seit 1997 währende Parlamentslaufbahn zu beenden.

Das “Letwin amendment“ lautet: Im Lichte des neuen Vertrags, der mit der EU vereinbart wurde, und der es dem UK ermöglicht, das Resultat des Referendums über seine Mitgliedschaft in der EU zu respektieren und die EU zum 31. Oktober mit einem Vertrag zu verlassen, hat dieses Haus die Angelegenheit erwogen, hält jedoch die Zustimmung zurück, es sei denn, die Gesetzgebung zur Umsetzung des Brexit-Vertrags ist verabschiedet worden. (Übertragung RS). Das “Letwin amendment“ wurde am 19.10. 2019 mit 322 Ja-Stimmen gegen 306 Nein-Stimmen angenommen. (Vgl.: 1.03 pm Sir Oliver Letwin (West Dorset) (Ind); https://hansard.parliament.uk/Commons/2019-10-17/debates/C7D5E220-3549-4DF1-AF9E-07079573464C BusinessOfTheHouse(Saturday19October).

Der Benn-Act ist ein Gesetz, das auf Initiative des Abgeordneten Hilary Benn (Labour-Party) parteiübergreifend beschlossen wurde, auch von etwa 20 Konservativen, die daraufhin aus ihrer Partei ausgeschlossen wurden (wie auch Oliver Letwin). Der Benn-Act bezweckt, dass das UK die EU am 31. Oktober 2019 nicht ohne Brexit-Vertrag verlassen kann, es sei denn, das britische Parlament beschließt dies bis zum 19.10.2019. Da ein No-Deal-Brexit bereits vom Unterhaus abgelehnt wurde, ist Premier Johnson durch den Benn-Act verpflichtet worden, die EU am 19.10.2019 bis 23.00 Uhr (London-Zeit) um Aufschub des Brexit zu ersuchen. Dies ist geschehen, wenn auch in fragwürdiger Form. (Vgl.: https://www.thesun.co.uk/news/9882395/benn-act-what-bill-hilary/).