Brexit: Kein Chicken-Game!

Wer einfältig genug ist, mag glauben, dass die Verhandlung zwischen dem UK und der EU dadurch einfacher wird, dass beidseitig Katastrophen-Szenarien im Fall des Austritts ohne Vertrag vorgeführt werden.

Für das UK: Schwerwiegender wirtschaftlicher Schaden, Abwanderung von Unternehmen, Verlust von Arbeitsplätzen, hinreichend in Gutachten dokumentiert.

Für die EU: Vorwurf der Prinzipienreiterei durch deutsch-französische Dominanz, regional durchaus harte Handelsverluste und vor allem der Verlust an internationalem Ansehen.

Mit solchen Folgen eines Scheiterns ist sicher zu rechnen. Jedoch geht es bei den Verhandlungen nicht um eine Variante der Spieltheorie (Chicken-Game oder Wer gibt aus Angst vor dem Katastrophen-Szenario als erster nach). Beide Seiten suchen nicht „Sieg“, sondern den Erhalt einer bewährten Partnerschaft über den Brexit hinaus. Und beiden Verhandlungspartnern sind ihre wechselseitigen Sachzwänge bewusst.

Die EU steht fest in der Grenzfrage Republik Irland (EU)/Nordirland (UK); denn Irland bleibt in der EU, und das UK will raus aus der EU: Da ist klar, wessen Interessen für die EU vorrangig sind. Das wird auch Premier Theresa May wissen. Außerdem wird die EU kein unkontrollierbares Einfallstor für Importe von sonst woher über UK-Nordirland in den EU-Raum zulassen können, weil das UK künftig irgendwelche Freihandelsabkommen trifft.

In Großbritannien gibt es wohl ein Defizit in der Wahrnehmung über die wirtschaftlichen Folgen eines Brexit ohne Austrittsvertrag. Latente Deutsch- und EU-Feindlichkeit „against the continent“, die in dortigen Massenmedien geschürt wird, mag dazu beitragen.

Einsicht in die Vernunft, einen „No Deal Brexit“ zu vermeiden, wird nur nach und nach in das Bewusstsein der Briten, in den Regionen, in den Wahlkreisen, und schließlich in die Sichtweise der Abgeordneten des Unterhauses (MPs) eindringen, deren Mandate sämtlich vom Sieg in ihrem Wahlkreis (Mehrheitswahlrecht!) abhängen.

Deshalb mag der häufige Vorwurf in unseren Medien an Premier Theresa May, sie spiele auf Zeit, zwar zutreffen, aber tatsächlich notwendiger Teil ihrer Strategie sein, für ein Brexit-Abkommen doch noch die Zustimmung des Parlaments zu sichern.

Da könnte einer parlamentarischen Zustimmung schließlich helfen, wenn der Brexit ohne Vertrag („No Deal Brexit“) zunehmend als wirtschaftliches Unheil für die Briten erkannt wird. Hat solches Umdenken bei MPs bereits begonnen? *1)

  • Jeremy Corbyn, Labour, Oppositionsführer: Es wird uns kein Trost sein, der Regierung vorzuhalten, „wir haben Euch gewarnt“, wenn Gütertransporte im Stau blockiert sind, Krebspatienten keine Medikamente bekommen und die Preise in den Geschäften steigen. Deshalb haben wir die Möglichkeit, den „No Deal“ zu vermeiden.
  • Nick Boles, Tory MP: Ein Brexit am 29. März ohne Abkommen ist kein Erfolg, sondern ein Desaster. Für die Dauer einer Generation würde dies die Briten gegen das Handeln ihrer Regierung aufbringen, das nehme ich nicht auf mein Gewissen.
  • Tory MP Dominic Grieve: Dass man ein Referendum anerkennt, heißt nicht, das Land aus der EU ohne Abkommen in eine düstere Zukunft zu führen. Damit würden wir unsere Verantwortung aufgeben.
  • Tory MP Oliver Letwin: Wenn die mit dem „No Deal Brexit“ verbundenen Risiken eintreten, wird unserer Partei auf viele kommende Jahre hinaus nicht vergeben werden. Und wenn die Menschen unserer Nation schreckliche Folgen wegen dieser Risiken ertragen müssen, werden wir die Schuld dafür nicht anderen geben können.

Der britische Abgeordnete des Europaparlaments, der Jurist Ashley Fox, appellierte an das EU-Parlament und an die Vertreter der EU-Kommission, nach der drastischen Ablehnung des EU-Austrittsabkommens im britischen Unterhaus nunmehr mit der britischen Regierung nach einem Ausweg zu suchen. *2)

  • Nicht nur grundsätzlich wäre es falsch, das Ergebnis des Brexit-Referendums zu ignorieren, sondern auch aus praktischen Gründen: Dafür gäbe es ebenso wenig eine parlamentarische Mehrheit, wie für ein zweites Referendum. Die britische Regierung und das Unterhaus wollen die EU im Rahmen eines Abkommens verlassen. Um dies zu erreichen, müsse die Funktionsweise des Nordirland-Protokolls geändert werden. Das Karfreitagsabkommen sei unbedingt zu erhalten. Jedoch werde die Notfall-Regelung („backstop“), um eine harte Grenze auf der irischen Insel zu vermeiden, in nur 58 Tagen zur Ursache für genau solch eine harte Grenze werden: „Let me repeat, the backstop in its current form will not prevent a hard border, it will create it.“
  • Lassen Sie uns alle innehalten: Es mag sehr leicht erscheinen, hier Beifall zu ernten für eine rigide Verteidigung bestehender Positionen. Die Geschichte könnte dies einst weniger freundlich beurteilen. Denn Tatsache bleibt, dass wir keinen Vertrag haben. Es gibt kein Abkommen, bevor ihm nicht beide Seiten rechtmäßig zugestimmt haben.
  • Es führe nicht weiter, endlos zu wiederholen, dass der Vertrag nicht geändert werden könne. Dies wird zu einem Austritt ohne Vertrag und zu einer harten Grenze zwischen dem UK und Irland führen, wie die EU-Kommission erst vor einer Woche festgestellt habe. Dazu ein Zitat von Herrn Barnier (Beauftragter der EU-Kommission für die Austrittsverhandlungen mit dem Vereinigten Königreich (Brexit)): „Im Falle, dass kein Vertrag zustande kommt, würde die EU eine alternativen operationalen Weg finden, um Kontrollen und Überprüfungen vorzunehmen, ohne dass wieder eine Grenze eingerichtet wird.“
  • Lassen Sie uns auf diesen Ausweg blicken. Lassen Sie uns erwägen, ob sich über Fristverlängerung und andere Austritts-Maßnahmen eine Lösung anbietet: „Let us proceed with good will, remembering that flexibility and generosity are not signs of weakness but of strength.“ Denn auf dem Spiel steht nicht nur der Entwurf des Abkommens. Auf dem Spiel steht die künftige Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich.
  • Sichern wir den Aufbau einer langfristigen Partnerschaft, um unsere gemeinsamen Werte und Interessen in einer unsicheren Welt zu fördern. Suchen wir einen gemeinsamen Weg in die Zukunft.

Andere Redner schwankten zwischen Trauer (Elmar Brok) und entnervter Wut (Guy Verhofstadt). Jedoch werden nicht wenige Beobachter der Debatte dem ruhigen Appell von Ashley Fox größtmögliche Wirkung in den europäischen Öffentlichkeiten wünschen.

Die Bereitschaft, in der scheinbar festgefahrenen Brexit-Lage einen Ausweg zu finden, ist gewiss vorhanden.

Nicht nur in der EU-Kommission, deren Präsident Jean-Claude Juncker, dessen Situation in diesen extrem komplizierten Vorbereitungen und Verhandlungen ohne wirklichen Präzedenzfall schwierig genug ist (Hinweis: Beim EU-Austritt Grönlands war bekanntlich nur ein Produkt betroffen: Fisch).

Präsident Jean-Claude Junckers ermutigender Kommentar wird im EU-Parlament, im UK und in der europäischen Öffentlichkeit nicht vergessen werden: „I am still an optimist by nature, and a believer in democratic institutions by conviction. This leads me to believe that there can and will be agreement with the United Kingdom, so that we can move on and move forward together with our new partnership.“ *2)

Beiträge zur öffentlichen Diskussion von Lösungsansätzen leisten bereits Wissenschaftler, die als einflussreiche Politikberater wirken. Zwei zusammenfassende Stellungnahmen seien hier angeführt.

  • „Kann der Brexit nicht mehr verhindert werden, sollte es das Ziel sein, ein Nachfolgeabkommen zu schließen, das für beide Seiten den Schaden minimiert. Dabei sollte, unter Verhinderung eines „Rosinenpickens“ bei allen vier Grundfreiheiten, eine möglichst weitgehende Öffnung angestrebt werden. Keines der bestehenden Freihandelsabkommen der EU mit anderen Regionen wird diesen Anforderungen gerecht, weshalb ein umfassenderes Abkommen, das Regelungen für Waren, Dienstleistungen und Migration und zudem für die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik einschließt, der richtige Weg sein könnte.“ *3)
  • „The EU should stand firm on principles, but consider either a softening of the negotiated deal or a short deadline extension for talks about the future, if there is trans-partisan appetite for it. A partnership between Britain and the EU would preserve the close economic, political, and security links built over decades. And the EU would be better able to address the challenges of its own differentiated integration. Perhaps in a decade or two, the EU and the UK will have undergone comprehensive reforms that put them on a new path toward convergence. Brexit should be managed in a way that makes such a future possible.“ *4)

Bei allem Respekt vor der Wissenschaft von Konflikten, das Chicken-Game über den renommierten Spieltheoretiker Varoufakis in die Analysen und Debatten zum Brexit einzuführen, ist nur albern. *5) Solche Interpretation der Brexit-Verhandlungen ist schon deshalb unsinnig, weil es beim Brexit nicht um einen Konflikt mit Sieg oder Niederlage, sondern um Partnerschaft zwischen dem UK und der EU unter neuen Rahmenbedingungen geht.

Die Idee des Chicken-Game wird weder der politischen Leistung der Premierministerin Theresa May, noch dem Regelungsbedarf für die EU und das UK und erst recht nicht dem Umfeld von Millionen betroffener Akteure gerecht.

Der Brexit bei Erhalt der tiefen Partnerschaft und Verbundenheit mit dem Vereinigten Königreich ist weder für das UK noch für die EU ein „Chicken-Game“.

*1) MPs‘ best quotes from the Brexit debate. Key soundbites from Tuesday’s Commons debate on Theresa May’s EU withdrawal deal. Peter Walker. Political correspondent. Tue 29 Jan 2019 20.57 GMT.

Last modified on Wed 30 Jan 2019 07.17 GMT; https://www.theguardian.com/politics/2019/jan/29/mps-best-quotes-from-the-brexit-debate. (Übertragung, RS).

*2) European Parliament. Debates. Wednesday, 30 January 2019 – Brussels. 18. The UK’s withdrawal from the EU (debate); http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=//EP//TEXT+CRE+20190130+ITEMS+DOC+XML+V0//EN&language=EN# (Übertragung RS).

*3) Jahresgutachten 2018/19 – Sachverständigenrat. III. EUROPA: BREXIT ABFEDERN, EU UND EURO-RAUM STÄRKEN. S. 29 ff. Ziffer 49; https://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/fileadmin/dateiablage/gutachten/jg201819/JG2018-19_gesamt.pdf.

*4) OPINION. The EU needs a Brexit endgame. Britain and the EU must try to preserve the longstanding economic, political, and security links and, despite the last 31 months spent arguing over Brexit, they should try to follow a new path toward convergence. BY: JEAN PISANI-FERRY. DATE: JANUARY 31, 2019; http://bruegel.org/2019/01/the-eu-needs-a-brexit-endgame/?

*5) DIENSTAG, 29. JANUAR 2019. Auf dem Weg zum Chaos-Brexit. May macht den Varoufakis. Ein Kommentar von Jan Gänger; https://www.n-tv.de/politik/May-macht-den-Varoufakis-article20834061.html.

Oder: Opinion. Undercover Economist. Brexit as a game of Chicken. What if, as you hurl your own steering wheel out of the window, you notice your rival has done exactly the same? TIM HARFORD. JANUARY 25, 2017; https://www.ft.com/content/d3d99d7e-e284-11e6-9645-c9357a75844a. Tim HARFORD betont immerhin: „Chicken is an idiotic game, whose players have little to gain and much to lose.“