Brexit: Nullnummern

In ganz abfälliger Weise hat Bundesjustizministerin Katarina Barley die Politik der britischen Regierungschefin Theresa May im schwierigsten Prozess parlamentarischer Verhandlungen herabgesetzt: „ziemliche Nullnummer“! *1) Wer oder was eine „Nullnummer“ ist, sei für einen Moment dahingestellt.

1. Brexit: Gespaltenes UK.

Freunde des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland (Kurz: UK) haben sich mit den innerhalb und sehr wohl auch außerhalb des Landes (z. B. die deutsche Flüchtlingspolitik 2015/16) wirkenden Ursachen für das Brexit-Ergebnis des Referendums vom 23. Juni 2016 beschäftigt.

Sie wissen, dass oberflächliche Antworten — Nationalismus, Populismus, Demagogie — zur tiefen Spaltung der britischen Bevölkerung in der Frage Brexit oder Bremain zu nichts führen.

Die Spaltung des Landes, die Spaltung der Meinungen in den Regionen, in den Wahlkreisen, von denen die Existenz der MPs abhängt, erscheint so tief, dass selbst ein neues Referendum vielleicht ein knappes Bremain brächte, aber sicher keinen Frieden im UK.

Obwohl zu hoffen ist, dass der langjährige ehemalige Premier Tony Blair und andere Mahner von Bedeutung das Wunder des Bremain im Laufe von 2019 noch hinbekommen, scheint derzeit wohl nur realistisch zu erwarten, dass wenigstens ein geregelter Brexit gelingt.

Die Führung der gleichermaßen gespaltenen Labour Party unter Oppositionsführer Jeremy Corbyn verweigert bisher eine Zusammenarbeit mit der Regierung der konservativen Theresa May.

2. Theresa May: Suche nach Konsens für „Brexit-Deal“.

Damit steht diese nach drastisch verlorener Abstimmung über den „Austrittsvertrag zwischen UK-EU“ („Brexit-Deal“; nur 202 pro, bei 432 contra) und knappem Sieg (325 zu 306) über das von Labours Oppositionsführer Corbyn eingebrachte Misstrauensvotum („vote of no confidence“) vor einer extrem schwierigen Aufgabe. Einer Aufgabe, die bisher darin gesehen wird, einen ungeregelten, „harten Brexit“ durch Ablauf der Austrittsfrist bis zum derzeit gesetzlich geltenden Austrittstermin am 29. März 2019 zu vermeiden.

Prime Minister Theresa May hat deshalb in ihrer Rede vor dem britischen Unterhaus (House of Commons) am 21.01. 2019 *2) dargelegt, dass ihre Regierung nunmehr das Vorgehen in der Brexit-Politik geändert habe. So seien Gespräche mit einer Reihe von Abgeordneten des Regierungs- wie des Oppositionslagers sowie Unabhängiger geführt worden, denen sich allerdings der Oppositionsführer Jeremy Corbyn bisher verweigert habe.

Der neue Ansatz der Regierung May, damit doch noch Konsens in der Brexit-Frage gelinge, besteht aus sechs Elementen, die im Zentrum der derzeit geführten politischen Verhandlungen stehen. *2)

Vereinfacht dargestellt, sind dies die folgenden Punkte:

  1. Ein harter „No Deal“-Brexit solle ebenso vermieden werden wie der Ausweg, das Referendum vom 23. Juni 2016 zu ignorieren und der EU weiterhin anzugehören. Dazu müsse schlussendlich erreicht werden, dass das Parlament dem „Austrittsvertrag zwischen UK-EU“ (Brexit-Deal) doch noch zustimmen könne. Zumal auch die EU bisher Änderungen am fast zwei Jahre lang ausgehandelten Brexit-Deal ausschließe.
  2. Eine Wiederholung des Referendums vom 23. Juni 2016 sei ausgeschlossen. Dies würde dem Umgang mit Referenden im UK jede Glaubwürdigkeit nehmen und die britische Demokratie beschädigen. Außerdem gäbe es dafür derzeit keine Mehrheit im Parlament.
  3. Das „Karfreitags-Abkommen“ (Belfast-Agreement) für Frieden in Nordirland von 1998 (das die Regierung Tony Blair mit den dortigen Konfliktgruppen aushandelte) sei unantastbar und zu respektieren. Eine „harte Grenze“ insbesondere für wirtschaftliche Beziehungen zwischen Irland und Nordirland müsse deshalb vermieden werden.
  4. Eine Zustimmung des UK-Parlaments könne aus zusätzlicher Präzisierung der vereinbarten Rahmenbedingungen für die künftigen Beziehungen zwischen UK-EU („Political Declaration“) entwickelt werden — dies reiche von sicherheits- bis zu handelspolitischen Themen. Darüber sei auch mit Vertretern aus Nordirland, den englischen Regionen, der Wirtschaft, der Zivilgesellschaft und den Gewerkschaften zu sprechen.
  5. Der Brexit dürfe nicht die im UK bestehenden sozialen und umweltpolitischen Standards sowie insbesondere nicht die Arbeitnehmerrechte schmälern.
  6. Schließlich seien unabhängig von der Gestaltung eines Brexit die Rechte der EU-Bürger im UK und — in kommenden Gesprächen mit der EU — die Rechte der UK-Bürger in der EU auf dem gegenwärtigen Stand zu gewährleisten.

Gemäß dem „EU Withdrawal Act 2018“, dem Gesetz des britischen Parlaments, das den Austritt aus der EU regelt, werde die Regierungschefin May dem Parlament am 29.01.2019 einen Antrag zur Debatte und Abstimmung vorlegen. Bis dahin wolle das Regierungskabinett May bei Parlamentariern, Gewerkschaften, den Unternehmen und der Zivilgesellschaft für den „broadest possible consensus on a way forward“ *2) werben.

Getreu dem Mandat des Referendums vom 23. Juni 2016 wolle die Regierung des UK die Zustimmung des britischen Parlaments für einen Brexit Deal mit der EU durch drei Schwerpunkte der Regierungspolitik erreichen *2):

  1. Das UK-Parlament werde flexibler, offener und stärker an den Verhandlungen mit der EU über die künftige Partnerschaft beteiligt.
  2. Dabei werde der bestmögliche Schutz von Rechten der Arbeitnehmer und der Umwelt angestrebt.
  3. Ferner werde die Verpflichtung der Regierung, eine harte Grenze in Nordirland und Irland zu vermeiden, so dargelegt, dass eine Zustimmung des britischen Parlaments und der Europäischen Union erreichbar sei.

3. Noble Geste aus Deutschland.

Am 18.01.2019 publizierte das britische Qualitätsblatt The Times einen Leserbrief der Vorsitzenden von CDU, SPD, Grünen, dem Industrieverband BDI, dem Arbeitgeberverband BDA, der Zentralverbände von Industrie- und Handelskammern (DIHK), des Handwerks (ZDH), des Deutschen Gewerkschaftsbundes DGB und von Repräsentanten aus Wirtschaft, Zivilgesellschaft, Sport, Kultur und Politik. *3)

Initiiert hätten den Brief der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag, Norbert Röttgen (CDU), und die Sprecherin für Europapolitik der Grünen im Bundestag, Franziska Brantner. *4)

Dieses Schreiben hat historischen Rang und betont großartige Gedanken und Wünsche zu den deutsch-britischen Beziehungen *3):

  • „Sir, Without your great nation, this Continent would not be, what it is today: a community defined by freedom and prosperity. After the horrors of the Second World War, Britain did not give up on us. It has welcomed Germany back as a sovereign nation and a European power. This we, as Germans, have not forgotten and we are grateful.
  • Because we realise that the freedom we enjoy as Europeans today has in many ways been built and defended by the British people, we want Britons to know that we respect their choice. It is theirs, not ours.
  • But Britons should equally know that we believe that no choice is irreversible. Our door will always remain open: Europe is home.
  • Therefore Britons should know: from the bottom of our hearts, we want them to stay.“

Diese Botschaft ist so bedeutend, dass sie auszugsweise im englischen Originaltext des Leserbriefs wiedergegeben werden musste.

Freunde des UK werden dem Labour-Politiker und Berater der Tony Blair-Regierung Andrew Adonis, Mitglied des House of Lords, des britischen Oberhauses, gewiss zustimmen. Baron Adonis kommentierte das bewegende Schreiben: „The most remarkable & significant letter to the Times of my lifetime“. *5)

4. Zwei deutsche Nullnummern.

Der im UK hochbeachtete Leserbrief der Vorsitzenden von CDU, SPD, Grünen sowie anderer Repräsentanten Deutschlands zeichnete sich durch Respekt gegenüber der britischen Politik und die Aufrichtigkeit des Wunsches aus, das UK möge in der EU bleiben.

Dagegen fallen ausgerechnet die Reaktionen zweier prominenter deutsch-britischer Europa-Politiker enttäuschend ab:

  • Bundesjustizministerin Katarina Barley, Spitzenkandidatin der SPD für die Europawahl am 26. Mai 2019: Ihre gerade aus Sicht der britischen Politik aufdringlich und wenig durchdacht wirkende sowie sicher vorschnelle Forderung nach einem zweiten Referendum *6) wird nur noch unterboten durch den oben zitierten abfälligen Kommentar zur britischen Regierungspolitik: „ziemliche Nullnummer“. *1) Außerdem entbehrt Barleys Behauptung, ein 2. Referendum könne das UK „befrieden“, angesichts der tiefen Spaltung zwischen Brexit-Anhängern und Brexit-Gegnern jeder empirischen Grundlage und jeder politischen Plausibilität. Vielleicht hängt Barley auch der Illusion an, die schon brutale Zurückweisung des Austrittsabkommens mit der EU durch die britischen Parlamentarier sei Ausdruck besonderer Neigung, Mitglied der EU zu bleiben.
  • Unsinnig erscheinen auch die Behauptungen David McAllisters, CDU-MdEP, Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten im Europaparlament und Vizepräsident der Europäischen Volkspartei (EVP). Er stilisiert die sicher notwendige und harte Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition im UK-Parlament zu einer „Demokratiekrise“ hoch. Eine offensichtlich absurde Auffassung McAllisters, wenn man historisch die Widerstandskraft der Demokratie in Deutschland und im UK vergleicht. Und seine verfehlt reduzierte Diagnose, „die Ereignisse in London seien das Werk von Nationalisten, Populisten und Demagogen“ lässt die gebotene Achtung vor hochrangig vertretenen Positionen beider Seiten in der britischen Brexit-Kontroverse vermissen. *7)

Fast erliegt der Politikbeobachter der Versuchung, bei solch dürftigen Stellungnahmen den Volksmund zu bemühen und die geschätzten Briten zu warnen: Hütet Euch vor Sturm und Wind, und vor Briten, die Deutsche geworden sind.

Aber bewahre! Die hier begründete Ablehnung von zwei europapolitischen Stimmen darf natürlich nicht in pauschale Verallgemeinerung gegenüber deutsch-britischen Bürgern ausgreifen, zumal gern erinnerte Freundschaften gepflegt wurden.

Jedenfalls muss das Urteil, wer oder was „ziemliche Nullnummern“ (Barley) in der Brexit-Debatte sind, nunmehr jedem deutschen, jedem britischen und natürlich jedem deutsch-britischen Bürger selbst überlassen werden. Inzwischen dürfte jedoch klar sein, auf wen der beleidigende Ausdruck „Nullnummer“ zurückschlägt.

Es bleibt die Freude über eine großartig noble Geste der Vorsitzenden von CDU, SPD, Grünen und bekannter Repräsentanten Deutschlands gegenüber den Menschen des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland.

*1) Kein Ausweg aus Brexit-Chaos. Mays „Plan B“ entpuppt sich als alter „Plan A“. Bundesjustizministerin Katarina Barley hat die jüngsten Brexit-Vorschläge der britischen Premierministerin Theresa May als „ziemliche Nullnummer“ kritisiert. 22.01.2019. Quelle: n-tv.de.

*2) Prime Minister Theresa May gave a statement to the House of Commons on Brexit. Published 21 January 2019

From: Prime Minister’s Office, 10 Downing Street and The Rt Hon Theresa May MP. Delivered on: 21 January 2019 (Transcript of the speech, exactly as it was delivered); https://www.gov.uk/government/speeches/pm-statement-to-the-house-of-commons-on-brexit-21-january-2019.

*3) Times Letters: ‚German friends‘ urge Britain to stay in EU. 18.01.2019; https://www.norbert-roettgen.de/artikel/times-letters-german-friends-urge-britain-stay-eu-18012019.

*4) Brief in der „Times“. Chefs von CDU, SPD und Grünen rufen Briten zum EU-Verbleib auf. 18. Januar 2019; http://www.spiegel.de/politik/ausland/brexit-annegret-kramp-karrenbauer-robert-habeck-rufen-briten-zu-eu-verbleib-auf-a-1248743.html.

*5) LETTERS TO THE EDITOR, january 19 2019, 12:01am, the times.

Times Letters: Britons respond to ‚our German friends‘; letters@thetimes.co.uk.

Hier findet sich der Twitter-Kommentar @Andrew_Adonis. 11:52 – 18. Jan. 2019. Mit einer Resonanz von Zehntausenden.

Von bedeutenden Wissenschaftlern sind allerdings auch kritische Kommentare zur deutschen Mitverantwortung an der Brexit-Krise zu verzeichnen:

„Sir, The warm words of Annegret Kramp-Karrenbauer and the other leading figures in German politics, industry and the arts (letter, Jan 18) are welcome but the horse has bolted. Had Germany not unilaterally junked the Dublin III Regulation in 2015 in the Syrian refugee crisis, had it offered David Cameron more in 2016 before the June referendum, and had it slowed the pace of the EU project to respond to rising national populism, we would probably not be in this mess.“ Professor Shaun Gregory. University of Durham.

Siehe dazu: Professor Shaun Gregory, Chair in International Security in the School of Government and International Affairs at the University of Durham; University of Cambridge, http://www.csap.cam.ac.uk/network/shaun-gregory/.

*6) Brexit. Barley: Zweites Referendum könnte Situation befrieden. Die SPD-Europapolitikerin und Bundesjustizministerin Katarina Barley hat sich für ein zweites Brexit-Referendum ausgesprochen. Sie halte es für „hochdemokratisch“, die Bevölkerung über das Austrittsabkommen abstimmen zu lassen, sagte sie im Dlf. Eine inhaltliche Neuverhandlung des jetzigen Vertrags komme nicht infrage. Katarina Barley im Gespräch mit Mario Dobovisek. 22.01.2019; https://www.deutschlandfunk.de/brexit-barley-zweites-referendum-koennte-situation-befrieden.694.de.html?dram:article_id=438958

*7) INTERVIEW. Moderation: Klaus Weber. McAllister (EVP) bezeichnet Brexit als Werk von Nationalisten, Populisten und Demagogen. Mittwoch, 16.01.2019. https://www.phoenix.de/der-sender/presse/aktuelle-interviews/mcallister-evp-bezeichnet-brexit-als-werk-von-nationalisten-populisten-und-demagogen-a-772064.html?