Brexit: Wessen Werk?

Antworten auf diese Frage häufen sich erst jetzt in deutschen Medien, weil in der Bundesregierung zwar viel von Europa geredet, aber den EU-Partnern wenig zugehört wurde. Warum ist diese Frage wichtig und nicht sinnloses Gejammere über vergossene Milch?

1. David McAllisters Brexit-Legende.

David James McAllister, CDU, Mitglied des Europäischen Parlaments (MdEP), ehemaliger Ministerpräsident Niedersachsens zwischen 2010 und 2013, Inhaber eines britischen Passes, ist „enttäuscht“ und „bedauert“ im TV die „Demokratiekrise“ im Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland (Kurz: UK).

Dann schiebt er jedoch die Schuld an den Brexit-Ereignissen auf die politisch allerbequemsten üblichen Verdächtigen: „Die Ereignisse in London seien das Werk von Nationalisten, Populisten und Demagogen.“ *1)

Will McAllister damit hochangesehene Brexit-Anhänger als Mitläufer von „Nationalisten, Populisten und Demagogen“ abstempeln?

Das träfe nicht nur bedeutende Mitglieder der Konservativen Partei wie Michael Gove, MP, der seit 2010 eine Reihe hoher Ämter im Ministerrang bekleidet. Sondern auch langjährige Freunde und Partner der deutschen Sozialdemokratie. Wie z. B. Gisela Stuart, Labour Party, Member of Parliament (MP) (1997 – 2017) und „Chair of the Vote Leave Campaign Committee“ gemeinsam mit dem konservativen Michael Gove, MP. Oder den im Rahmen der britischen konstitutionellen Monarchie hoch ausgezeichneten Baron Owen (CH, PC), also David Owen, ehemaliger Außenminister des UK und heute Mitglied des House of Lords, dem Oberhaus des britischen Parlaments.

Das Urteil McAllisters über die Brexit-Lage als „Werk von Nationalisten, Populisten und Demagogen“ ist sowohl irreführend, als auch für den weiteren Umgang der EU mit dem UK gefährlich, weil es die Lage im bleibend wichtigen Partnerland Großbritannien völlig verkennt. Mit McAllisters getrübter und einseitiger Wahrnehmung der Ursachen des Brexit-Problems wird eine Lösung in jedem Fall schwieriger, wenn nicht verbaut.

2. Brexit: Wessen Werk?

Im folgenden wird dem aktuell häufiger gewordenen Blick auf die Ursachen des Referendums mit dem Brexit-Ergebnis nachgegangen.

2.1. David Camerons Scheitern.

David Cameron, der von 2005-2016 als Vorsitzender der Konservativen Partei deren ökologisch-soziale Modernisierung vorangetrieben hatte, führte vom 11. Mai 2010 bis zum 13. Juli 2016 als Premierminister das UK. Bei der Unterhauswahl im Mai 2015 errang die Konservative Partei mit Cameron die absolute Mehrheit der Sitze im Unterhaus des UK.

Seit 2013 war Premierminister Cameron bestrebt,

  • durch Verhandlungen für praktische EU-Reformen mit den Zielen
  • mehr marktwirtschaftlichen Wachstums,
  • einer Begrenzung des Zuzugs von und der Sozialleistungen für Migranten,
  • finanz- und außenpolitischer Stabilität sowie
  • der Ausnahme des UK von dem „ever closer union“-Ziel einer EU-Staatsidee.
  • Damit wollte Cameron die gespaltenen britischen Einstellungen zur EU im Sinne einer endgültig dauernden Mitgliedschaft stabilisieren.

Dazu initiierte Cameron das „European Union Referendum Bill“; dieses Gesetz trat im Mai 2015 in Kraft. Im Februar 2016 wurde der 23. Juni 2016 als Tag der Abstimmung über Verbleib in oder Austritt aus der EU anberaumt. *2) Vorher hatte Cameron nach Verhandlungen mit der EU ein Reformpaket vorgelegt, das aus Sicht des Premiers überzeugend für den Verbleib Großbritanniens in der EU sprach.

Nachdem Cameron mit dem Versuch, das Referendum für den EU-Remain zu gewinnen, knapp gescheitert war, trat er von seinen politischen Ämtern zurück.

Das Leave-Lager hatte mit 51.9 % die Mehrheit gegenüber dem Remain-Lager mit 48.1 % gewonnen. Es waren vor allem die regionale Mitte und der Süden des UK (außer London), wo das Leave-Votum, also der Brexit, sich durchgesetzt hatte.

2.2. Brexit: Die größte politische Spende in der britischen Geschichte.

Dieses Brexit-Ergebnis des Referendums mag auch „Nationalisten, Populisten und Demagogen“ geschuldet sein.

Nicht zuletzt sei es jedoch Folge der Unterstützung der Leave-Kampagne über den Russland verbundenen Geschäftsmann Arron Banks in Höhe von umgerechnet 7 bis 8 Mio. €. „The largest political donation in British history“, stellt das britische Qualitätsblatt „The Guardian“ dazu fest. „The Guardian“ und der Autor Nick Cohen belegen dazu russische Kontakte zur Leave-Kampagne und prangern als beschämenden Skandal an, dass die äußerst peinlich belastete Regierung, die Labour-Opposition, die rechtsgewirkte Massen-Presse und sogar BBC sich allesamt kompromittiert fühlen und deshalb abgetaucht seien. *3)

2.3. Brexit: Die Hilfe von Freund Deutschland.

Eine weitere ausländische, bestimmt nicht minder wirkmächtige Hilfe erfuhr die Leave-Kampagne durch die deutsche Flüchtlingspolitik.

Schon aus Platzgründen wird hier nicht auf die Beiträge dieser Webseite seit September 2015 zurückgegriffen, die Kritik von Fachleuten referierten an dem unilateral und gesetzwidrig von Bundeskanzlerin Merkel verfügten und obendrein chaotisch ablaufenden Kontrollverzicht an der deutschen Grenze. In dessen Folge mehr als eine Million unbekannter Migranten in das Land kamen.

Hier sei auf Positionen des Deutschlandkenners Professor Anthony Glees, Buckingham University, verwiesen, der schon vor dem Referendum vom Juli 2016 vor den Folgen massiver Migration in kontinentale EU-Länder und von dort aus in das UK gewarnt hatte. *4)

Die in Deutschland emotional und volltönend posaunte „Willkommenskultur“ wurde von nüchternen Briten als „Tugendprahlerei“ (Kolumnistin Melanie Phillips) verachtet. Der Historiker und Politikwissenschaftler Anthony Glees bezeichnete Deutschland als „Hippie-Staat, der sich nur von Gefühlen leiten lässt“. Und Glees betonte, dass „die Deutschen entgegen ihrer Selbstwahrnehmung nicht sympathischer, sondern, zumindest auf Briten, ´sehr unsympathisch` wirkten.“ *4)

Glees Kommentare zu Merkels Flüchtlingspolitik seit 2015/2016 finden heute nach dem fortgesetzten Brexit-Desaster ihr Fazit: „Merkel habe aus ´gutem Herzen` die Migranten eingeladen. ´Wenn sie das nicht gemacht hätte, wäre es nicht zu 52 Prozent pro Brexit gekommen, sondern umgekehrt.`“ *5)

3. Blick nach vorn.

Wenn im Hinblick auf die Frage, wessen Werk der Brexit war, nunmehr berücksichtigt wird,

  • welche Riesen-Einnahmen Deutschland über Gazprom und künftig vermehrt noch über Nordstream 2 in Putins Russland pumpt, das bereits mehr als genug Unheil im uns verbündeten Großbritannien und in Europa angerichtet hat,
  • und welche Rolle die kurzsichtige deutsche Flüchtlingspolitik 2015/2016 spielte, indem sie nicht nur unser Land spaltete, sondern auch die EU und außerdem wesentlich zum Brexit beitrug,

dann sollten Deutschland und die EU nunmehr Großbritannien so weit wie irgend möglich entgegenkommen, um der Regierung Theresa May einen im britischen Parlament konsensfähigen Brexit zu ermöglichen.

Und deshalb ist der Rückblick auf Deutschlands flüchtlingspolitische Mitwirkung am Brexit-Ergebnis des Referendums von Juni 2016 kein sinnloses Jammern über vergossene Milch. Dieser Rückblick möge vielmehr zu Einsicht und zu größtmöglichem Entgegenkommen für Großbritanniens Interessen führen.

„Die Zeit der Spielchen ist jetzt vorbei“ *6) — solch unangemessenes Gerede des Außenministers Maas über Großbritannien wäre besser unterblieben.

Angesichts der ernsten wirtschaftlichen Folgen eines ungeregelten harten Brexit für das UK und nicht zuletzt für Deutschland, dessen drittgrößter Markt für Warenexporte (2015) das UK ist, sollten die Positionen bedeutender Wirtschaftsforscher im weiteren Umgang mit Großbritannien berücksichtigt werden *7):

  • Das Ergebnis der Unterhaus-Abstimmung „sei ´tragisch`, ein Abschied der Briten ohne Abkommen werde jetzt sehr wahrscheinlich. Ein ´No Deal` bedeutet nicht einfach nur Güterhandel mit Zöllen, sondern dürfte den Handel zwischen der EU und Großbritannien vorübergehend komplett zum Erliegen bringen“, warnt Dennis Snower, Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel.
  • „Ein harter Brexit mit seinen riesigen Kosten muss vermieden werden … Alles andere wäre ein ´nicht akzeptables Politikversagen`“ (Prof. Dr. Clemens Fuest, Präsident des Münchner Ifo-Instituts).
  • Das Abstimmungsergebnis im Unterhaus gegen den „UK-EU-Vertrag über den Ausstieg Großbritanniens aus der EU“ sei nachvollziehbar, da er das UK zu einer „Handelskolonie“ herabgestuft hätte. Die EU sollte „mit ihrem ´politischen Dogma` der vier Freiheiten — beim Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen — brechen und in den Verhandlungen Großbritannien etwa zugestehen, die Personenfreizügigkeit einzuschränken.“ (Prof. Gabriel Felbermayr, Ph.D., Leiter des Ifo-Zentrums für Außenwirtschaft).
  • Der Chefvolkswirt der Commerzbank, Dr. Jörg Krämer, Mitglied des geldpolitischen Expertengremiums des EU-Parlaments, kritisierte, „dass die EU Großbritannien in der Nordirland-Frage nicht stärker entgegengekommen sei. Es räche sich nun, ´dass die EU Großbritannien abstrafen wollte, um andere potenzielle Austrittskandidaten abzuschrecken`. Nicht die Angst vor den Folgen eines Austritts, ´sondern nur die eigene Attraktivität hält die EU langfristig zusammen`“.

Es bleibt zu hoffen, dass die referierten Hinweise, wessen Werk der Brexit ist, gerade die deutsche Bundesregierung dazu bringen, sich für neue Impulse einzusetzen, um Großbritanniens Interessen entgegen zu kommen. Damit eine von bisherigen Vorgaben der EU-Kommission weitgehend befreite Lösung mit Großbritannien gelingen kann: etwa freie Handelsbeziehungen zwischen EU-Irland und UK-Nordirland zu ermöglichen und dennoch das Recht Großbritanniens auf eigenständige Migrations- und Handelspolitik anzuerkennen.

Die wirtschaftlichen Folgen eines ungeregelten harten Brexit sind zu schwerwiegend, um auf europapolitischem Status-quo-Denken zu beharren. Ein politischer Neuansatz gegenüber Großbritannien sollte jetzt gewagt werden, um diesem Land und der auch künftig unverzichtbaren Sicherheitspartnerschaft gerecht zu werden.

Ganz im Sinne der Warnungen und der pragmatischen Anregungen, die den zitierten Wirtschaftsforschern in dieser ernsten Lage zu verdanken sind.

*1) INTERVIEW. Moderation: Klaus Weber. McAllister (EVP) bezeichnet Brexit als Werk von Nationalisten, Populisten und Demagogen. Mittwoch, 16.01.2019.

https://www.phoenix.de/der-sender/presse/aktuelle-interviews/mcallister-evp-bezeichnet-brexit-als-werk-von-nationalisten-populisten-und-demagogen-a-772064.html?

RS: McAllister ist ein hochrangiges MdEP: Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten im Europaparlament und Vizepräsident der Europäischen Volkspartei (EVP).

*2) Die Frage des Referendums lautete: „Should the United Kingdom remain a member of the European Union or leave the European Union?“

*3) Why isn’t there greater outrage about Russia’s involvement in Brexit? Nick Cohen. This scandal should cause uproar but the BBC and Labour just change the subject. Sun 17 Jun 2018 07.30 BST; https://www.theguardian.com/commentisfree/2018/jun/17/why-isnt-there-greater-outrage-about-russian-involvement-in-brexit.

Nick Cohen: „The first duty of the leaders and citizens of a democracy is to defend its elections from subversion. Yet a country that boasts of giving the world free parliaments feels no obligation even to look at allegations that Russia subverted British democracy. The government and opposition are compromised and want the scandal closed down. As does an embarrassed rightwing press and a shamefully negligent BBC.“

*4) Kritik aus Großbritannien. „Die Deutschen wirken sehr unsympathisch“.

In Großbritannien ist die deutsche Willkommenskultur nicht populär. Britische Kolumnisten sprechen mit Blick auf Deutschlands Flüchtlingspolitik gar von Tugendprahlerei und moralischen Zuchtmeistern.

22.09.2015, von JOCHEN BUCHSTEINER, LONDON; faz.net.

*5) „HART ABER FAIR“. Briten-Professor gibt Merkel Schuld am Brexit. Artikel von: ERNST ELITZ, veröffentlicht am 15.01.2019 – 01:10 Uhr; bild.de.

Nicht nur Anthony Glees, sondern auch Jeremy Vine, britischer Radio-Moderator, und der bekannte ehemalige Präsident des Ifo-Instituts, der Ökonom Prof. Dr. Hans-Werner Sinn, wiesen öffentlich auf die Flüchtlingspolitik Bundeskanzlerin Merkels 2015/2016 als Hauptursache für das Brexit-Ergebnis des Referendums. Siehe:

BRITISCHE RADIO-LEGENDE. „Für viele war Merkel der Grund für das Brexit-Votum“. Von Stefanie Bolzen. Warum Briten wegen Merkel den Brexit wählten. 25.12.2017; https://www.welt.de/politik/ausland/article171790302/Britische-Radio-Legende.

Vine: „Vor dem EU-Referendum riefen viele an und sagten: Merkel ist der Grund, warum wir aus der EU rauswollen. Wegen der Flüchtlinge und wegen Griechenland.“

„Das Flüchtlings-Problem ist schuld am Brexit“. Der ­Finanzexperte und Volkswirt Prof. Hans-Werner Sinn greift die Bundesregierung und Kanzlerin Angela Merkel an, weil er ihre Flüchtlingspolitik für falsch hält.

Hans-Werner Sinn. Euro am Sonntag, 02.07.2016, S. 8-10;

http://www.hanswernersinn.de/de/Interview_EuroamSonntag_02072016.

Sinn: „Meiner Meinung nach ist vor allem die Flüchtlingsproblematik für den Austritt der Briten verantwortlich … Der Auslöser waren die Probleme in der Eurozone, die auch die EU massiv verändert haben. Die Briten haben Angst, wie Deutschland in eine Haftungsspirale hineingezogen zu werden. Die großen politischen Mehrheiten macht man aber mit dem Thema Flüchtlinge.“

*6) Brexit. „Die Zeit der Spielchen ist vorbei“. Nach der Ablehnung des Brexit-Abkommens im britischen Unterhaus fordert Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) Klarheit von Großbritannien. Es brauche eine schnelle Lösung, sagte er im Dlf. Nachverhandlungen des Deals sieht er kritisch — ebenso wie einen Sturz Theresa Mays. Heiko Maas im Gespräch mit Sandra Schulz. 16.01.2019; https://www.deutschlandfunk.de/brexit-die-zeit-der-spielchen-ist-vorbei.694.de.html?dram:article_id=438435

*7) Harter Brexit oder neues Referendum. May-Niederlage spaltet Topökonomen in zwei Lager. Nach der Abstimmung im Unterhaus geht die Brexit-Hängepartei weiter. Wirtschaftsexperten sind sich uneins, ob der harte Brexit nun unausweichlich ist — oder die Chancen für ein zweites Referendum steigen. 16. Januar 2019, 11:27 Uhr; http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/brexit-theresa-may-niederlage-spaltet-top-oekonomen-a-1248288.html
http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/brexit-theresa-may-niederlage-spaltet-top-oekonomen-a-1248288.html.