“Brüssel“!

Brüssel ist Europa. Brüssel ist eine schöne Stadt, aber gerade als Hauptsitz der Europäischen Union (EU) ist es oft Quelle unschöner EU-Nachrichten. Dies zeigt sich heute.

Bild: Flüchtlings-Drama spaltet Europa. FAZ: Keine Einigung auf Flüchtlingsquote. Handelsblatt: Das neue Europa der Grenzen. SZ: EU vertagt Quote. Tagesspiegel: Europa bremst. taz: Kann Merkel Flüchtlinge? Welt: Europa am Ende seiner Kräfte.“ *1)

Osteuropäischer Widerstand habe verhindert, dass die EU-Innenminister bei ihrem gestrigen Treffen in Brüssel eine verbindliche Quotenregelung zur EU-weiten Verteilung von Flüchtlingen beschließen konnten.

Diese Nachricht aus Brüssel kommentierte der Vizekanzler der Bundesregierung und SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel: „Europa hat sich gestern ein weiteres Mal blamiert“. *2)

Der Fingerzeig Gabriels auf Brüssel hilft der Bundesregierung nicht; trotz äußerster Überzeugungsarbeit gestern durch Innenminister Thomas de Maizière urteilt die linke Opposition über die Flüchtlingspolitik der Regierung: „menschenverachtend“ (Katja Kipping, Vorsitzende LINKE).

Solche Vorwürfe richten sich auch gegen EU-Mitglieder im östlichen und südöstlichen Mitteleuropa. Umso häufiger, je stärker linke Überzeugung der Ankläger. Dies gehört zur politischen Debatte, die EU wird das aushalten, zumal die Polemik etwas billig daherkommt.

Denn es wird übersehen, dass die Regierungen und viele Politiker aus baltischen Ländern, der Visegradgruppe (Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei) oder aus Rumänien mit der Ablehnung verpflichtender Aufnahmequoten für Flüchtlinge unter dem Druck der Mehrheit ihrer Bürger handeln.

Wie ist das erklärbar? Mit dieser Frage beschäftigt sich die deutsche LINKE nicht. Ihr genügt die rasche Verleumdung.

Deshalb ist weiter zu fragen und nicht zu vergessen, dass die Menschen in unserer östlichen Nachbarschaft in jungen Demokratien leben. Mit heutigen ethnopolitischen Problemen oder Wahrnehmungen, die mal zu Ängsten oder auch zu nationalem Auftrumpfen führen. Mit 45 Jahren Geschichte unter dem Kommunismus. Mit einer besonderen Art politischer Integration: Moskau befiehlt.

Und das mag auch nachwirken auf osteuropäische Sichtweisen zur EU-Integration: Schon wieder ein Block, schon wieder Anpassung? Ausgerechnet an Vorgaben aus Deutschland?

Wenige haben die brutale Seite der historischen Bürde des Kommunismus und ihre Folgen für die Werte und Einstellung vieler Menschen im östlichen Europa so klar erfasst wie Herta Müller.

Seit vielen Jahren für ihr literarisches Werk ausgezeichnet, wurde ihr 2009 der Nobelpreis für Literatur verliehen: „Fast alles, über das sie schreibt, handelt vom Leben unter der rumänischen Diktatur Ceauşescus, von der Furcht, dem Verrat und der ständigen Überwachung. Aber Herta Müller hat auch eine Art Diktatur in der Diktatur gezeichnet: die kleine, Deutsch sprechende ländliche Gesellschaft im westlichen Rumänien, wo sie aufwuchs.“ *3)

So hat sie erfahren und daran gelitten, dass der Kommunismus durch „die Abschottung … ein gespenstisches negatives ´Nationalgefühl` produziert (hat), einen aggressiven Heimatbesitz, der sich sogar subversiv fühlen konnte im Vergleich zur Parteiideologie. Man hatte ja sonst nichts.“ Und dieses böse Erbe des Kommunismus wirke weit über seinen Zusammenbruch hinaus: „geblieben ist dieser verbohrte Ethnozentrismus und eine provinzielle Überheblichkeit, die an Rassismus grenzt.“ *4)

Die Analyse prägender Wirkungen des Kommunismus mögen Kenner des Lebens unter diesem System mit Herta Müller teilen. Erweisen wir solchen Erfahrungen die gebotene Achtsamkeit!

Herta Müllers Sichtweise ist aus Leid erwachsen und sehr hart erscheint ihr Urteil über das Verhalten osteuropäischer Politiker: „Jeder denkt nur national, auch in Brüssel. Die Länder Osteuropas, einschließlich der DDR, sind Länder, aus denen jahrzehntelang Menschen geflohen sind und an deren Grenzen tausende ihr Leben ließen … Dass Verzweiflung und Flucht zusammengehören, haben sie vergessen.“ *4)

Deutschland sollte die eigene Erfahrung erinnern — mit einer jungen Demokratie, der Weimarer Republik. Nicht einmal das Grauen des Ersten Weltkriegs hatte verhindern können, dass die Weimarer Republik zur „Demokratie ohne Demokraten“ verfiel. *5) Mit so katastrophalen Folgen, dass das Projekt Europa, von großen Staatsmännern geleitet, Wirklichkeit werden konnte.

In Brüssel ist deshalb deutsche Zurückhaltung geboten — statt deutschem Auftreten als Vertreter europäischer Moral, statt deutschem Fingerzeigen auf „Brüssel“, auf die jungen Demokratien des östlichen Europa, statt kaum verhüllter Hinweise auf „Folterinstrumente“ (Merkel), auf die dicke Keule des großen „Nettozahlers“ (Gabriel).

Und Zurückhaltung bei europapolitischer Polemik ist im Lichte der Analyse Herta Müllers gerade von der LINKEN zu erwarten, deren Mitglieder mehrheitlich Kader oder „jeunesse dorée“ des Kommunismus waren.

Brüssel sollte der Ort bleiben, an dem die Vertreter der Bundesrepublik Deutschland immer wieder das zivilisierte Gespräch, den Ausgleich der Interessen suchen. Gerade auch mit ihren Kolleginnen und Kollegen der jungen Demokratien in unserer östlichen Nachbarschaft.

*1) Tagesspiegel Morgenlage. Für Politik-Entscheider am Dienstag, 15. September 2015.

*2) n-tv; Blamage in Brüssel. Gabriel: Europa steht auf dem Spiel, Dienstag, 15. September. 2015.

*3) Award Ceremony Speech. Presentation Speech by Professor Anders Olsson, Member of the Swedish Academy, 10 December 2009. (Übersetzung RS).

*4) Herta Müller. „Verzweiflung und Flucht gehören zusammen“; http://www.rp-online.de/kultur/herta-mueller-verzweiflung-und-flucht-gehoeren-zusammen-aid-1.5346322, 28. August 2015. Interview von Lothar Schröder.

*5) Die verachtete Republik. Von Heinrich August Winkler, 21. Februar 2012; http://www.cicero.de/berliner-republik/die-verachtete-republik/48336. Professor Winkler analysiert: „Eine Demokratie ohne Demokraten sei Weimar gewesen, und daran sei die erste deutsche Republik letztlich gescheitert: So lautet eine Schulweisheit, die man in so pauschaler Form freilich in keinem Schulbuch findet. Denn Demokraten gab es zwischen 1918 und 1933 in Deutschland durchaus, nur dass sie seit 1930 immer mehr in die Minderheit gerieten, bis es bei den Reichstagswahlen vom 31. Juli 1932 schließlich eine satte Mehrheit von zusammen 51,7 Prozent für zwei Parteien gab, die der Demokratie auf unterschiedliche Weise radikal den Garaus machen wollten: die Nationalsozialisten und die Kommunisten.“ (Hervorhebung RS).

**) Nachtrag 18.9.2015. Bis zur nächsten Bundestagswahl ist noch viel Zeit. Vor allem “politische“ Zeit. Aber Vizekanzler Gabriel und Außenminister Steinmeier schlagen schon jetzt gegenüber den osteuropäischen EU-Mitgliedsländern einen populistischen und obendrein kontraproduktiven Ton an: „Flüchtlinge. Steinmeier droht Quotenverweigerern“ (18.September2015). „Wer unsere Werte nicht teilt, kann auf Dauer auch nicht auf unser Geld hoffen.“ („Sigmar Gabriel warnte in der Bild -Zeitung …“, 18. September 2015); Quelle: http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-09/fluechtlinge-steinmeier-quoten-verteilung-europa. Ferner: http://www.spiegel.de/politik/ausland/fluechtlinge-frank-walter-steinmeier-warnt-gegner-einer-quote-a-1053538.html

Warum müssen ausgerechnet deutsche Sozialdemokraten im 70. Jahr der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg mit Sperrung unserer (!) Kassen drohen? Ausgerechnet den damals von Deutschland überfallenen und geschundenen östlichen Nachbarn, deren Leiden mit dem Nazi-Krieg keineswegs beendet war.