Das Septembermärchen.

„Ein echtes Septembermärchen“, erlebt die Fraktionsvorsitzende der GRÜNEN, Katrin Göring-Eckardt. „Wir sind plötzlich Weltmeister der Hilfsbereitschaft und Menschenliebe. ´Die Welt zu Gast bei Freunden`“ *1) Diese Worte während der Debatten im Deutschen Bundestag über den Haushaltsplan 2016 sollten uns Weckruf sein.

Natürlich wollen wir gerne glauben, die ganze Welt bewundere den „Weltmeister“ der „Willkommenskultur“, liebe uns gar oder möge uns wenigstens. Viele Griechen, Menschen des Balkan, Ungarn, Österreicher, nicht zuletzt Briten sehen das anders, machen Deutschlands „Willkommen“ für die „Völkerwanderung“ nach Europa verantwortlich, kalkulieren kühl, stoppen Flüchtlinge oder reichen sie weiter, die Roma und Sinti gleich mit.

Und nicht wenige unserer Nachbarn warten auf das dicke Ende in Deutschland, wenn die Euphorie der Willkommenskultur erschöpft ist. Wenn die Stimmung umkippt, die ersten Massen-Demonstrationen Medienbilder bestimmen: „Wir sind das Pack.“ Und dann nicken sie sich zu und: Haben wir es nicht immer gesagt? Die Deutschen hast Du entweder zu Füßen oder an der Gurgel. Dieses zwischen Extremen schwankende Bild der Deutschen hält sich seit den Tagen seines Urhebers, Sir Winston Churchill. Machen wir uns nichts vor.

Der SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Thomas Oppermann, hielt sich mit dem Septembermärchen Göring-Eckardts nicht lange auf, nannte die Kritik der Grünen an der Flüchtlingspolitik der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD „kleinteilig“ und forderte: „Diese Aufgabe ist so groß, dass auch die Opposition mithelfen muss.“ *1)

Das ist der Weckruf. Bund, Länder und Gemeinden stehen vor der Aufgabe, in den nächsten Jahren Millionen von Flüchtlingen zu „integrieren“.

Bundeskanzlerin Merkel versichert: „So groß die Herausforderung auch ist … so sehr bin ich überzeugt, dass Deutschland sie bewältigen kann.“ *1) Bayern und die Stadt München, wo Zehntausende Flüchtlinge von hilfsbereiten Bürgern und fähigen Regierungs- und Verwaltungsstellen aufgenommen wurden, haben diese Überzeugung der Kanzlerin scheinbar bestätigt.

Jedoch kommen gerade aus Bayern deutliche Warnungen. Finanzminister Söder: „Der Zustrom und die Sogwirkung werden erkennbar immer größer. Das beginnt uns zu überfordern.“ *2)

Vizekanzler Sigmar Gabriel warnt, „dass die Europäische Union (EU) an der Flüchtlingskrise scheitern könnte … , wenn sich keiner mehr an Regeln halte und Flüchtlinge etwa nicht mehr dort registriert würden, wo sie in einen Mitgliedstaat der EU einreisten. ´Ich kann nur hoffen, dass die Staats- und Regierungschefs zur Vernunft kommen`“. *2)

Diese Hoffnung Gabriels teilen wir Bürger und richten sie auch an die deutschen Landesregierungen. Nehmen wir die rot-grüne Landesregierung Nordrhein-Westfalens unter Ministerpräsidentin Hannelore Kraft. Da vernehmen wir vor allem zwei Forderungen.

Erstens, mehr Geld vom Bund. Obwohl die Steuereinnahmen in NRW derzeit um 9,3 % steigen, während die des Bundes um 5,2 % zunehmen. *3)

Zweitens, ordnet Ministerpräsidentin Kraft über das TV an: „Langzeitarbeitslose als Asylentscheider einsetzen.“ Auch dies ist eine Initiative besonderer Qualität. Werden Langzeitarbeitslose neue Konkurrenten am Arbeitsmarkt begrüßen? Der großen Mehrheit der Tüchtigen unter den Flüchtlingen kann man nur wünschen, dass sie schnell auf Arbeitgeber treffen. Weniger Arbeitswillige könnten sich über Krafts Vorstoß freuen, ihren Asylentscheider bewundern und ihn fragen: Wie hast Du das geschafft bei dem Arbeitskräftemangel in Germany?

Der Arbeitsmarkt mag derzeit rosig erscheinen. Und von Erzählern des Septembermärchens hören wir enthusiastische Berichte über Begegnungen mit Flüchtlingen: Ärzte, Ingenieure, Architekten, Anwälte und mindestens zu einem Drittel Menschen mit Abitur.

Die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Andrea Nahles, SPD, vermittelt ein anderes Bild: Flüchtlinge sollen zwar möglichst schnell in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden. „Allerdings bringe nicht einmal jeder Zehnte die Voraussetzungen mit, um direkt in eine Arbeit oder Ausbildung vermittelt zu werden. ´Nicht alle, die da kommen, sind hoch qualifiziert. Der syrische Arzt ist nicht der Normalfall.`“ *4)

Deshalb sieht der Stellvertretende Fraktionsvorsitzende Hubertus Heil (SPD) drei Integrationsaufgaben: „Erstens soll die große Zahl derjenigen, … die das Recht haben, dauerhaft hier zu bleiben … integriert werden. Zweitens müssen wir unsere Gesellschaft während dieses Prozesses zusammenhalten. Drittens müssen wir Europa zusammenhalten und auch auf dieser Ebene für Integration sorgen.“ *5)

Diese politischen Integrationsaufgaben verbindet der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitiker Hubertus Heil jedoch mit einer Warnung, die für nicht wenige Ökonomen und Unternehmer das Ziel der raschen Eingliederung von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt gefährden könnte: „Was aber nicht passieren darf, ist, … dass das zum Vorwand für eine Deregulierung am Arbeitsmarkt führt, damit mit Billiglohnkräften hier gesellschaftlicher Unfrieden gestiftet wird.“ *5)

Arbeitsministerin Nahles sagt voraus, die „Arbeitslosenzahlen werden wegen der Flüchtlinge wohl steigen“. *4) Hoffen wir daher, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften eine auf die Flüchtlinge zugeschnittene Öffnung von Tarifverträgen organisieren können. *5)

Wir ahnen die Zahl der in den nächsten Jahren zu uns kommenden Flüchtlinge: Mindestens 1,5 bis 2 Millionen. Wir wissen jedoch nicht, wer sie sind. Und das ist das Beunruhigende an den Warnungen des ehemaligen Bundesinnenministers Hans-Peter Friedrich aus Bayern:

„Wir haben die Kontrolle verloren … (es sei) völlig unverantwortlich, dass jetzt zig-Tausende unkontrolliert und unregistriert ins Land strömen und man nur unzuverlässig genau abschätzen kann, wie viele davon ISIS-Kämpfer oder islamistische Schläfer sind.“*2)

Das Septembermärchen ist bald vorbei.

*1) 11614 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 120 . Sitzung . Berlin, Mittwoch, den 9 . September 2015, http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/18/18120.pdf. Politiker der Grünen verwenden bereits vor der Asylentscheidung häufig für Flüchtlinge den Begriff der „Neubürger“. Die Implikation „Wahlbürger“ sei hier gar nicht unterstellt. Solche Begriffe mögen erheblich zu dem von CSU-Politikern befürchteten „Sogeffekt“ weiterer Flüchtlingsströme nach Deutschland beitragen, s. *2).

*2) Ex-Innenminister. „Wir haben die Kontrolle verloren“; http://www.welt.de/146283759, 11. Sep. 2015.

*3) Siehe: Steuereinnahmen in Nordrhein-Westfalen bis März 2015. Im ersten Quartal des Jahres 2015 flossen dem Landeshaushalt Steuereinnahmen in Höhe von 12.360,5 Mio. EUR zu, 1.051,1 Mio. EUR oder 9,3 v.H. mehr als in den ersten 3 Monaten des Vorjahres. Ferner: Die Bundessteuern wiesen ebenfalls mit insgesamt + 5,2 % ein deutliches Wachstum auf. (https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Monatsberichte/2015/05/Inhalte/Kapitel-4-Wirtschafts-und-Finanzlage/4-2).

*4) Arbeitsministerin Nahles. „Der syrische Arzt ist nicht der Normalfall“. Die Arbeitslosenzahlen werden wegen der Flüchtlinge wohl steigen, sagt Arbeitsministerin Andrea Nahles. Denn die meisten könnten nicht sofort in einen Arbeitsplatz oder eine Ausbildung vermittelt werden. 10.09.2015, faz.net.

*5) Hubertus Heil, MdB, SPD, Stellvertretender Fraktionsvorsitzender, zuständig für die Themenfelder Wirtschaft und Arbeit. Siehe *1) Nicht wenige Fachleute werden fragen: Wenn die Kanzlerin jetzt mehr “Flexibilität“ anmahnt, gilt dies auch für die Rahmenbedingungen am Arbeitsmarkt? Damit geeignete Flüchtlinge Arbeit finden können? Oder werden sich Gewerkschaften weigern, Tarifverträge für Flüchtlinge zu öffnen, mehr Werk-, Zeit-, Fristverträge für Flüchtlinge sowie Ausnahmen vom flächendeckenden Mindestlohn zu erlauben?

*) Nachtrag 13.9.2015: Heute um 19.55 Uhr ruft der Deutschlandfunk auf, an einer Umfrage teilzunehmen. „Welche Flüchtlingspolitik braucht Europa? Willkommenskultur oder Stacheldraht? Sagen Sie uns Ihre Meinung!“ Hier wird zur Entscheidung zwischen Extremen, zwischen „gut“ und „böse“, zwischen „Hell-“ und „Dunkel-Deutschland“ (Gauck), zwischen guten Bürgern und „Pack“ (Gabriel) aufgerufen. Welches Ergebnis, welcher Beitrag zur Flüchtlingspolitik ist wohl von solchen Aktionen zu erwarten? Will der Deutschlandfunk zu Information oder Propaganda beitragen?