Bürger Naseweis.

Wer alt genug, wer an Politik interessiert ist und die Kompetenz von Frank-Walter Steinmeier schätzt, dem mag dessen Vorliebe für den Begriff “naseweis“ aufgefallen sein.*1)

Sicher ein wenig “naseweis“ ist dann die Frage, ob auch unser Außenminister in jungen Jahren derart erzieherisch gerüffelt wurde.

Natürlich kann Steinmeiers Vorliebe für den milden Tadel über “naseweise“ Kommentare — sicher meint er Einmischung ohne hinreichende Sachkunde — dem Einfluss durch langjährigen Umgang mit Beamten des Auswärtigen Amtes (AA) geschuldet sein.

Mit diesen Beamten geht Außenminister Steinmeier jedenfalls vornehmer um als sein Vorgänger Joschka Fischer (“Ich hasse Mumien“) *2).

Und dennoch könnte ein Verdacht aufkommen: Wird von Beamten und anderen Beschäftigten erwartet, dass sie sich erst vergewissern, was der Spitze der Firma, der Organisation genehm ist? Dann ihre Qualifikation durch entsprechend sortierte Sachkunde beweisen und erst dann — wenn überhaupt — den Mund aufmachen? Wie bedenklich dies für Wirtschaft und Gesellschaft ist, zeigte nicht zuletzt der Fall “VEB-VW“ …

Die Meinungsforscherin Professor Renate Köcher hat erhoben, dass zum Beispiel 45 Prozent der gesamten Bevölkerung meinen, „man müsse in Deutschland vorsichtig sein, sich zur Flüchtlingsfrage zu äußern. Und bei denjenigen, die sich große Sorgen über die Entwicklung machen, waren es annähernd 60 Prozent.“ *3)

Ist “Beamtenmentalität“, ist Konformismus in Organisationen und Unternehmen Ursache für diesen empirischen Befund? Vielleicht verstärkt sich eine noch immer verbreitete Autoritätsgläubigkeit — erkennbar am hohen Ansehen, das staatliche Institutionen und deren Repräsentanten oder die Kirchen oder die öffentlichen Medien (TV und Presse) genießen — zusammen mit der demografischen Tatsache, dass die Deutschen im europäischen Vergleich alt und einsam sind. *4)

Solche Prägungen mögen dann zu der Haltung führen, dass es besser ist, sich nicht öffentlich zu strittigen Fragen zu äußern. Und hier könnte sich der von Außenminister Steinmeier gelegentlich ausgesprochene Tadel “naseweis“ zu einem Problem für die Streitkultur in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft auswachsen.

Führungen großer Unternehmen und auch die “politische Klasse“ erfordern als Gegengewicht die Kontrolle durch die Öffentlichkeit, nicht nur durch die Medien, sondern vor allem durch aktive Bürger selbst. Wenn sich unter Bürgern die Haltung verbreitet, dass man gerade in Krisenzeiten und zu den streitigen Themen seine Meinung besser verschweigt, dann nehmen Gesellschaft, Wirtschaft und die Demokratie Schaden.

Die Abfolge schwerer Krisen — Weltwirtschaftskrise 2008/2011, Ruin öffentlicher Landesbanken, das drohende Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone, die europäische Staatsschuldenkrise, die Klimakrise, militärische Aggression und Völkerrechtsbruch durch Russland gegen die Ukraine, Sorge vor Krieg und Terror in Europa und seiner Nachbarschaft, und nun auch noch die Flüchtlingskrise mit bisher nicht absehbaren Folgen und Belastungen — das alles kann die Menschen zermürben. Wer wollte das bestreiten?

Aber gerade in diesen Zeiten bedarf unsere Demokratie der offenen Debatte, der freien Information, der Vielfalt kontroverser Meinungen, sonst profitieren zu unser aller Schaden gewaltbereite Extremisten — rechte, linke, religiöse.

Wenn viele Bürger die freie Debatte fliehen, dann ist dies mit der Meinungsforscherin Renate Köcher als bedenklicher Befund für unsere Streitkultur zu werten: „Man muss sich doch fragen, wieso mehr als 40 Prozent der Bürger das Gefühl haben, dass man seine Meinung nicht offen sagen darf. Und das sind ganz normale Bürger, die teilweise SPD-affin sind, teilweise Grün-affin, teilweise CDU-affin. Die auch mit großer Mehrheit nicht ausländerfeindlich sind … wenn Menschen Angst haben müssen, wegen ihrer Sorgen über den Zustrom an Flüchtlingen in die rechte Ecke gestellt zu werden, dann stimmt etwas nicht in der öffentlichen Diskussion. Denn dann wird nur der, der am Münchener Hauptbahnhof die Flüchtlinge willkommen heißt, gegen den gesetzt, der bei Pegida mitmarschiert. Und dazwischen gibt es nichts.“ *3)

Deshalb sollten wir Bürger die Ermutigung durch Stéphane Hessels Aufruf “Empört Euch!“ *5) annehmen. Gerade in Zeiten der Krise und des Streites. Empörung als streitbares Engagement verstehen. Streitkultur demokratisch und gewaltfrei praktizieren!

Und deshalb, sehr geehrter Herr Außenminister Steinmeier: Chapeau für den “Bürger Naseweis!“

*1) So verheerend FALSCH lag die deutsche Regierung in der Syrien-Politik, 27.11.2015 – 20:27 Uhr bild.de. Von JULIAN REICHELT. Dieser bedeutende Journalist und Kriegsreporter (1980 geboren, Wikipedia ) ist wohl zu jung, um mit dem Vorwurf “naseweis“ traktiert worden zu sein. Für diese Annahme spricht, dass er dieses Wort falsch schrieb (“naseweiß“), als er Außenminister Steinmeiers wechselnde Positionen im Syrienkonflikt zitierte und kritisierte. Im Internet finden sich weitere Zitate Steinmeiers, die dessen Vorliebe für den Tadel “naseweis“ belegen.

*2) Joschka Fischer, “I am not convinced“. Der Irak-Krieg und die rot-grünen Jahre, Köln, 1. Auflage 2011, S. 327. Joschka Fischer prangerte seinerzeit “Oppositionsseilschaften und Parteibuchkarrieristen .. im Amt“ an.

*3) Die Welt, 12.11.2015. „Merkel verunsichert“. Die bisher nüchterne Kanzlerin hat in der Flüchtlingskrise emotional und empathisch reagiert. Allensbach-Chefin Renate Köcher spricht über die Folgen. Von Andrea Seibel.

*4) Die Bevölkerung der EU, Eurostat-Flaggschiff-Veröffentlichung; 208/2015 – 27. November 2015; Tabelle: Medianalter der Bevölkerung, 1994 und 2014; Tabelle: Anteil der Einpersonenhaushalte in den EU-Mitgliedstaaten, 2014.

Deutschland weist von allen EU-Ländern das deutlich höchste Alter der Bevölkerung auf. Während das Durchschnittsalter (Median) der EU-Mitgliedsländer 42.2 Jahre beträgt, sind die Deutschen im Durchschnitt 45.6 Jahre alt. Auch der Anstieg in den letzten 20 jahren ist in Deutschland hoch: Um 6 Jahre stieg das Durchschnittsalter der EU-Bevölkerung, um 7.6 Jahre in Deutschland. 32 % der Haushalte in der EU bestehen aus nur einer Person, in Deutschland 41 %.

Hinweis: Die Angaben zum Durchschnittsalter der Bevölkerung werden durch den “Median“ ausgedrückt: Das “Median-Alter“ in Deutschland (bzw. in der EU) von 45.6 (EU: 42.2) Jahren bedeutet, die eine Hälfte der betreffenden Bevölkerung ist älter, die andere jünger.

*5) „Am Ende ist die Hoffnung stärker“. Empört Euch! Die Schrift des Stéphane Hessel hat Frankreich bewegt, nun erscheint sie auf Deutsch. Ein Gespräch über Protestkultur, Lösungen und Leidenschaft. Das Interview führte Rudolf Balme; http://www.taz.de/!5126835/; 11.02.2011. Siehe auch: Stéphane Hessels Pamphlet Empört euch! Jürg Altwegg, 09.01.2011, F.A.S. faz.net.