Statistische Wahrscheinlichkeit.

Gleich zweimal hörte der politisch interessierte Bürger am vergangenen Sonntag in TV-Debatten (BR-Stammtisch, ARD-Presseclub) den sperrigen Begriff „statistische Wahrscheinlichkeit“ und zweimal durchaus irreführend.

An Helmut Markworts bayerischem Stammtisch meinte Professor Wolfgang Heckl, den Menschen falle es schwer, „Gefahren entsprechend ihren statistischen Wahrscheinlichkeiten einzuordnen.“ Dies mag zutreffen, könnte aber auch die Menschen unterschätzen. Herr Heckl stellte jedenfalls fest, beim Besuch einer großen Veranstaltung am Vortage habe er „keine Angst gehabt“. Da hatte ihn zum Glück das Kalkül nicht getrogen.

Im Presseclub wusste Moderator Jörg Schönenborn, dass es “statistisch“ wahrscheinlicher sei, durch Rauchen oder Autofahren umzukommen als durch einen Terroranschlag.

So mögen die jungen Besucher der Pariser Konzerthalle „Bataclan“ auch gedacht haben, als sie arglos und ohne Angst am Freitag, dem 13. November 2015, ein Rockkonzert besuchten und den Tod fanden. Ebenso die nichtsahnenden Opfer, die an anderen Orten ermordet wurden.

Nun sind die Aussagen von Heckl und Schönenborn nicht aus diesem tragischen Grund irreführend, sondern deshalb, weil sie uns einen zu simplen Begriff der statistischen Wahrscheinlichkeit suggerieren.

Die „statistische Wahrscheinlichkeit“ für ein Ereignis (z.B. eine 6 beim Würfeln) ist der Quotient aus der Anzahl der für das Ereignis „günstigen“ Fälle (also die 6 liegt oben) geteilt durch die Anzahl der möglichen Fälle (Zahlen 1 bis 6 beim Würfel). Die „statistische Wahrscheinlichkeit“, z.B. eine 5 zu würfeln, ist somit 1 geteilt durch 6, ein Sechstel bzw. aufgerundet 16,7 Prozent. Beim Münzwurf (Zahl oder Wappen) ergäbe sich 1 (entweder Zahl oder Wappen) geteilt durch 2 (Zahl und Wappen sind möglich), also eine Wahrscheinlichkeit von 0.5 oder 50 Prozent, dass z.B. das Wappen geworfen wird.

Schon bei diesen einfachsten Beispielen wird uns der Statistiker warnen: Die Rechnung gehe nur näherungsweise auf, wenn das Würfeln oder der Münzwurf sehr oft wiederholt würden. Es müsse ein reiner Zufall wirken, also der Würfel einwandfrei, die Münze echt, das Würfeln oder der Wurf so korrekt ausgeführt sein, dass die Ereignisse 1 bis 6 (Würfel) oder Zahl/Wappen (Münze) genau die gleiche Chance haben, als Ergebnis aufzutreten. Man hüte sich also vor Angeboten Unbekannter, an solchen Spielen teilzunehmen, denn es könnte „gezinkt“ werden.

Sicher werden die angesehenen Herren Heckl und Schönenborn eine Statistik zitieren können, die ihre Aussage belegt, wie gering die „statistische Wahrscheinlichkeit“ ist, durch Terror umzukommen — im Vergleich zu Gefahren wie Rauchen, Autoreisen o.ä.m..

Diese papiernen Statistiken helfen uns Bürgern aber überhaupt nicht weiter. Denn die Wirklichkeit, ihr ständiger Wandel und die sich häufenden Gefährdungen in unserer Zeit sind die größten „Zinker“ und „Fälscher“, die Aussagen über „statistische Wahrscheinlichkeit“ für unsere täglichen Entscheidungen sinnlos machen.

Nehmen wir junge Familien, die in ihrer Heimat, nahe am Arbeitsplatz, ein Haus bauen wollen. Bauplatz und Wohnort sind nicht nicht weit von Rhein, Donau, Oder, Elbe entfernt. Hilft diesen Familien die sehr geringe „statistische Wahrscheinlichkeit“, dass ihre Grundstücke von Hochwasser bedroht sind? Dass es in der Gegend ihrer Bauplätze nur im 19. Jahrhundert einmal Hochwasser gab?

Die Realität des Klimawandels und die „Jahrhundert“-Fluten 2002 und 2013 in Deutschland sind Warnung genug. Die professionellen Statistiker der Versicherungsgesellschaften haben gewiss die „statistische Wahrscheinlichkeit“ für Hochwasser und damit die Prämien für Versicherung gegen Hochwasserschäden aktualisiert. Also ist von Bauherren zu erwarten, dass sie solche (steigenden) Versicherungsprämien einkalkulieren.

Und nun ist die nächste, weitaus gefährlichere Irreführung der Bürger anzusprechen: „Angst ist ein schlechter Ratgeber“ hören wir seit Jahren — z. B. von Bundeskanzlerin Angela Merkel, von Thomas Oppermann, Fraktionschef der SPD im Bundestag, bis zu Ministerpräsident Bodo Ramelow, LINKE.

Bundesaußenminister Steinmeier ist eine Ausnahme. Er saß beim Spiel der beiden Fußball-Nationalteams neben Präsident François Hollande auf der Tribüne des „Stade de France“, als sich die Terroranschläge ereigneten. Steinmeier stellte sich im Interview der „Frage, ob er Angst gehabt habe“. *1)

„Das war ein Schock,“ sagte Steinmeier, als Sicherheitsbeamte kurz vor der Halbzeitpause über die Anschläge und Todesopfer informierten. Präsident Hollande verließ in der Pause das Stadion. Auf Bitte der Sicherheitsbeamten blieb Außenminister Steinmeier im Stadion, um eine Panik zu vermeiden. „So haben wir wieder unsere Plätze eingenommen und 45 Minuten lang so getan, als interessierte uns das Fußballspiel … keiner (wusste), wie der Abend zu Ende geht. Und klar war ich höchst besorgt … dass sich die Anschläge herumsprechen und im Stadion Panik ausbricht.“ *1)

Offenbar war in dieser Situation Angst, oder sprechen wir besser mit Außenminister Steinmeier von „großer Sorge“, der richtige Ratgeber: Die Lage im Stadion war völlig unkalkulierbar geworden. Und der persönliche Mut unseres Außenministers Frank-Walter Steinmeier hat ganz wesentlich beigetragen, dass die befürchtete Massenpanik im Stadion mit sicher verheerenden Folgen ausblieb. Im Rückblick kann diese Haltung Außenminister Steinmeiers nicht hoch genug gewürdigt werden.

Der Bürger kann aus dieser bitteren Erfahrung seine Schlüsse ziehen:

Erstens, „statistische Wahrscheinlichkeiten“ beruhen auf einer Vielzahl von Beobachtungen der Vergangenheit und sind für den Bürger im Einzelfall nahezu wertlos.

Zweitens, der Politiker-Satz „Angst ist ein schlechter Ratgeber“ hat sich als leere Platitüde erwiesen.*2) Außenminister Steinmeiers „große Sorge“ vor der Massenpanik im Stade de France und sein damit verbundenes Bewusstsein der Verantwortung haben die allzu bequeme Politik-Phrase widerlegt. Aus Angst und großer Sorge erwuchs Steinmeiers Ratschluss, im Stadion, den Menschen sichtbar, zu verbleiben. Angst und Sorge sind uns wichtiger Antrieb, Chancen und Risiken des Handelns sorgfältig abzuwägen: Erst wägen, dann wagen! 

Drittens, von Staat und Politik sind deutlich stärkere Präventionsbemühungen für umfassende Sicherheit der Menschen zu fordern. Während das Auftreten und hohe Intensität katastrophaler Ereignisse nicht auszuschließen sind, ließe sich gleichwohl die Verwundbarkeit der Gesellschaft gegenüber Gefahren begrenzen. *3) Zum Beispiel durch Bauverbote in Gebieten mit Hochwassergefahr, durch Einwanderungspolitik, durch internationale Zusammenarbeit von Geheimdiensten und Polizei.

Das ist vorrangige Aufgabe des Staates und der Politik. Hier seien jedoch schwerwiegende politische Versäumnisse Deutschlands offensichtlich, wie „chaotische Züge“ des „Migrantenstroms“ belegen, konstatiert der Munich-Re-Vorsitzende des Vorstands, Nikolaus von Bomhard. Dabei sähen wir „bislang lediglich die Spitze des Eisbergs … In Zukunft würden immer mehr Menschen ihre Heimat auch wegen des Klimawandels verlassen, er werde zum Haupttreiber künftiger Wanderbewegungen. Die Politik müsse endlich die Ursachen der Migration angehen, und der Klimawandel gehört dazu“. *4)

Das Fazit für uns alle in Zeiten, da die „Welt aus den Fugen geraten“ ist (Steinmeier) mögen wir von ausgewiesenen Könnern im Umgang mit den „statistischen Wahrscheinlichkeiten“ und den „Risiken“ katastrophaler Ereignisse übernehmen.

Die Risikoversichererer sagen uns: „Expect the Unexpected“ — „Erwarte das Unerwartete“! *3)

*1) DTS-Meldung vom 22.11.2015, 11:46 Uhr. Pariser Terroranschläge: Steinmeier befürchtete Panik im Stadion. (Bezug auf Interview in “Bild am Sonntag“).

*2) In der zitierten Sonntagsrunde des ARD-Presseclub vom 22.11.2015 hat allein der Journalist Alexander Kissler, Cicero, betont, dass er dem Satz „Angst ist ein schlechter Ratgeber“ nicht zustimmen könne.

*3) Expect the Unexpected; https://www.munichre.com/site/australiahazards/.

Diese Sammlung von Analysen aus 2015 bezieht sich zwar auf den Kontext natürlicher Gefahren in Australien und Neuseeland. Offensichtlich haben Natur- und Terrorkatastrophen der letzten Jahrzehnte die Relevanz risikoanalytischer Konzepte auch für Europa gezeigt — von Erdbeben, Hochwasser, bis zum Terror.

Es sei hier noch einmal hervorgehoben: Risiko ist ganz allgemein definiert als Wahrscheinlichkeit eines gefährlichen Ereignisses multipliziert mit der Höhe des daraus möglichen Schadens für Menschen und/oder deren Besitz. Im Unterschied zu den simplen Beispielen des Würfelns oder Münzwurfs sind die Risikofaktoren der Realität außerordentlich schwer zu kalkulieren. (Vgl.: a.a.O., What is risk? Wolfgang Kron, Munich Re expert on risk communication, S. 20 ff.).

*4) DTS-Meldung vom 23.10.2015, 18:00 Uhr; Munich-Re-Chef Bomhard kritisiert deutsche Flüchtlingspolitik.