Bundesverfassungsgericht: Integrationsverantwortung und EU-Kompetenzkontrolle

Protest gegen das EZB/EuGH-Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) tobt quer über die Grenzen von Parteien, Verbänden, EU-Mitgliedsländern. In der EU-Kommission werde sogar ein Verfahren wegen Vertragsverletzung erwogen.

1. Warum solche Empörung?

Ohne hier Anspruch auf vollständige Erklärung zu erheben, scheint das Urteil vor allem vielen “Berufs-Europäern“ und “Mehr-Europa“-Anhängern zu missfallen, die von den “Vereinigten Staaten von Europa“ träumen.

Zusätzlich mag diese Gegnerschaft befeuert werden, weil bekannte EU-Skeptiker wie Ex-AfD-Chef Prof. Bernd Lucke und Peter Gauweiler (CSU) neben einigen Unternehmern als Kläger das EZB-Urteil des BVerfG bewirkt haben. *1) Hinzu kommt wohl, dass sich bereits die Regierung Polens zustimmend geäußert hat.

Dieser unerwünschte Beifall erscheint allerdings schon deshalb belanglos, weil die Kläger keineswegs in ihrem umfassenden Widerstand gegen die Geldpolitik der EZB Recht bekommen haben. Insbesondere hat das BVerfG die von den Klägern behaupteten Verstöße der EZB gegen das Verbot der Finanzierung von Staatshaushalten durch übermäßigen Ankauf von Staatsanleihen nach eingehender Analyse verworfen.

Der Präsident des BVerfG, Prof. Andreas Voßkuhle, hatte seit Jahren betont, die Urteile des BVerfG zu Rechtsfragen der EU-Einigung dienten dem Ziel, „dass das europäische Haus stabil und bürgernah gebaut wird. Nicht von ungefähr haben antieuropäische Strömungen in Deutschland weniger Zulauf als in anderen Mitgliedstaaten.“ *2)

Deshalb sollten die Bürger sich sorgfältig mit diesem europapolitisch bedeutsamen Urteil beschäftigen. Und dabei auch Voßkuhles Vorwurf überdenken, den er 2014 bereits an etwa 30 Mitglieder des EU-Parlaments in Straßburg richtete, die ihn zu seinen europapolitischen Vorstellungen “grillten“: „Keiner hier hat nur einmal das Wort ‚Bürger‘ oder ‚Wähler‘ erwähnt. Geht es Ihnen denn nur um die eigene Macht?“ *2)

Im folgenden wird versucht, das EZB-Urteil aus der Sicht des scheidenden Präsidenten des BVerfG, Prof. Andreas Voßkuhle, zu referieren — stark vereinfachend und an der Leserschaft juristischer Laien orientiert.

2. EU und die Mitgliedsstaaten.

Der Platz und die Rolle unseres Landes in der Europäischen Union wird weitgehend durch unser Grundgesetz bestimmt und in diesem Rahmen durch die Entscheidungen der Wählerinnen und Wähler über die von ihnen europapolitisch beauftragten Regierungen.

  • Die Lektüre des Artikels 23 (1) Grundgesetz zeigt dem EU-Bürger, dass Deutschland nicht zu bedingungsloser Unterstützung der EU-Institutionen verpflichtet ist. Sondern dass ein vereintes Europa zu verwirklichen ist, indem eine Europäische Union entwickelt wird, „die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist“.
  • Über das “Demokratiedefizit“ der EU-Institutionen — EU-Kommission, EU-Parlament (nicht nach dem Prinzip “one man-one vote“ zusammengesetzt) — wird seit Jahrzehnten geklagt. Jedoch haben beträchtliche Fortschritte in den Zuständigkeiten des EU-Parlaments die demokratische Kontrolle in der EU gestärkt. Gegenüber dem Jargon von EU-Gegnern (“abgehoben, Bürokratiemonster“ etc.) ist die EU durch die demokratisch gewählten Regierungen ihrer Mitgliedsländer und über das EU-Parlament immer stärker legitimiert worden.
  • Die EU ist kein Staat, sondern ein Staatenverbund. Die EU-Institutionen können sich nicht wie ein Staat neue Zuständigkeiten geben. Nach dem “Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung“ sind alle EU-Organe in ihren Aufgaben und ihren Tätigkeiten an die Zuständigkeiten (Kompetenzen) gebunden, für die sie durch die europäischen Verträge von den Mitgliedstaaten ausdrücklich ermächtigt worden sind. Die Mitgliedstaaten sind also die “Herren der EU-Verträge“.
  • Daher stellt der Richter des BVerfG, Prof. Peter M. Huber, fest: „Solange wir nicht in einem europäischen Staat leben, richtet sich die Mitgliedschaft eines Landes nach seinem Verfassungsrecht. Dieses muss zwar offen sein für den Anwendungsvorrang des Europarechts, kann aber auch Grenzen vorsehen, wie das bei uns in Art. 23 des Grundgesetzes der Fall ist.“ *3)

Prof. Huber hält den Kritikern des EZB-Urteils entgegen, dass die verfassungsrechtliche Kontrolle, ob EU-Organe ihre Zuständigkeiten einhalten oder überschreiten, europäischer Normalfall sei: „Klar ist doch, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) zwar seit 50 Jahren einen schrankenlosen Vorrang des Europarechts reklamiert, fast alle nationalen Verfassungs- und Höchstgerichte dem jedoch genauso lange widersprochen haben.“ Deshalb sei die Aussage der Kommissionspräsidentin von der Leyen, „das Europarecht gelte immer und ohne jede Einschränkung … falsch.“ *3)

3. Stärkt das EZB-Urteil Demokratie und Bürgernähe?

Das BVerfG hat in seinem Urteil hervorgehoben:

1. Bundesregierung und Bundestag sind im Rahmen ihrer europäischen “Integrationsverantwortung“ (BVerfG) verpflichtet, die Institutionen der EU zu überwachen und gegebenenfalls einzuschreiten, wenn diese schwerwiegend ihre Zuständigkeiten zu Lasten der Mitgliedsländer überschreiten. Das Grundgesetz gewährt den Wahlberechtigten einen Anspruch gegen Bundesregierung und Bundestag darauf, diese Verpflichtung zu erfüllen. Das Bundesverfassungsgericht prüft im Rahmen der Kontrolle von EU-Kompetenzüberschreitungen, ob dieser Anspruch der deutschen Staatsbürger gegen Bundesregierung und Bundestag erfüllt wird.

2. Der Ankauf der EZB von Staatsanleihen gegen €-Geld erhöht die Geldmenge und wirkt damit einem Verfall des Preisniveaus und einer Deflation mit der Gefahr schwerer Wirtschaftskrise entgegen. Das geld- bzw. währungspolitische Ziel ist, eine Inflationsrate von unter, aber nahe 2 % zu erreichen. Das nach Jahren dieser expansiven Geldpolitik dramatisch gesunkene Zinsniveau (vorsorgende Sparer leiden unter Negativ-Zinsen) hat schwerwiegende wirtschaftspolitische Auswirkungen, von denen hier nur einige dargelegt werden können (siehe *1) 171 ff):

  • Entlastet seien zwar kreditfinanzierte Staatshaushalte, jedoch wächst die Gefahr, dass die im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz erwarteten “notwendigen Konsolidierungs- und Reformbestrebungen nicht umgesetzt oder fortgesetzt werden“.
  • Das Risiko von Immobilien- und Aktienblasen wächst, die bei einem “Platzen“ schwere Wirtschaftskrisen auslösen. Dies war in der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008 zu beobachten.
  • „Nahezu alle Bürgerinnen und Bürger, (sind) etwa als  Aktionäre, Mieter, Eigentümer von Immobilien, Sparer und Versicherungsnehmer jedenfalls mittelbar betroffen. So ergeben sich etwa für Sparvermögen deutliche Verlustrisiken. Unmittelbar damit verbunden sind Auswirkungen auf die (private) Altersvorsorge und deren Rentabilität“.
  • Ferner können „wirtschaftlich an sich nicht mehr lebensfähige Unternehmen weiterhin am Markt bleiben, weil sie sich mit günstigen Krediten versorgen können“.
  • Je länger das Kaufprogramm für Staatsanleihen andauert und je mehr der Umfang der angekauften Staatsanleihen wächst, desto stärker „begebe sich die EZB in eine erhöhte Abhängigkeit von der Politik der Mitgliedstaaten, weil (sie) das (Programm) jedenfalls nicht ohne eine Gefährdung der Stabilität der Währungsunion beenden und rückabwickeln kann.“

3. Das BVerfG folgert: „Angesichts dieser erheblichen – keineswegs vollständig aufgelisteten – wirtschaftspolitischen Auswirkungen des Programms für den Ankauf von Staatsanleihen hätte die EZB diese gewichten, mit den prognostizierten Vorteilen für die Erreichung des von ihr definierten währungspolitischen Ziels in Beziehung setzen und nach Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten abwägen müssen.“ Der im EU-Recht verankerte Rechtsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit hätte die EZB verpflichtet, zu prüfen, abzuwägen und darzulegen, dass der enorme, inzwischen etwa 2.6 Bio. € erreichende Ankauf von Staatsanleihen in Bezug auf Ziel und Folgen geeignet, erforderlich und angemessen ist. Dies sei ein Schutz gegen Machtmissbrauch und helfe zu vermeiden, dass die Nebenwirkungen des EZB-Programms „außer Verhältnis zum angestrebten Erfolg stehen.“ *3)

4. Diese gebotene Abwägung ist aus Sicht des BVerfG ausgeblieben. Der damit erfolgte Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei so folgenschwer, dass das BVerfG urteilen müsse: Die Beschlüsse der EZB zum Programm für den Ankauf von Staatsanleihen haben ihre Zuständigkeiten überschritten, sind also “kompetenzwidrig“ (“ultra-vires“).

5. Der EuGH hätte nach Auffassung des BVerfG „die wirtschafts- und fiskalpolitischen Wirkungen (der EZB-Staatsanleihenkäufe) mit der währungspolitischen Zielsetzung .. abwägend in den Blick“ nehmen müssen. Er habe jedoch in einem das EZB-Mandat betreffenden Urteil „eine effektive Kompetenzkontrolle (der EZB) am Maßstab des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit abgelehnt.“ (S. *1) 156 ff).

Diese Kombination eines weiten Ermessensspielraumes der EZB mit fehlender gerichtlicher Kontrolldichte „trägt dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung offensichtlich nicht hinreichend Rechnung und eröffnet den Weg zu einer kontinuierlichen Erosion mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten.“ Solche „Schwächung der demokratischen Legitimation der durch das Eurosystem ausgeübten öffentlichen Gewalt“ sei mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.

Auch der EuGH habe daher seine Zuständigkeit und Bindung an das “Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung“ sowie das Prinzip der Verhältnismäßigkeit verletzt: „Der Gerichtshof hat damit ultra vires (kompetenzwidrig) gehandelt, sodass sein Urteil in Deutschland insoweit keine Bindungswirkung entfaltet.“ (S. *1) 163)

6. Bundesregierung und Bundestag sind nach dem Urteil des BVerfG „aufgrund ihrer Integrationsverantwortung verpflichtet, auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die EZB hinzuwirken.“ Dies haben sie unterlassen und damit die verfassungsmäßigen Rechte der Kläger verletzt.

Das BVerfG zieht aus seiner Analyse und Bewertung der Haltung von EZB und EuGH zu dem Programm der Ankäufe von Staatsanleihen den folgenden Schluss: Der Rechtsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit habe im vorliegenden Fall bei EZB und EuGH eine “weitgehende Entleerung“ erfahren. Auch eine wertende Gesamtbetrachtung der EZB-Politik sei nicht erfolgt: „Für das Demokratieprinzip und den Grundsatz der Volkssouveränität“ kommt diesem europarechtlichen Mangel erhebliches Gewicht zu.

Deshalb fordert das BVerfG von Bundesregierung und Bundestag, eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die EZB zu erreichen: „Von der EZB verlangen wir nur, dass sie vor den Augen der Öffentlichkeit ihre Verantwortung übernimmt und auch begründet — auch gegenüber den Leuten, die Nachteile von ihren Maßnahmen haben. Weder verlange das Gericht, das Anleihekaufprogramm zu unterlassen, noch mache es inhaltliche Vorgaben. Wir wollen nur einen Nachweis, dass das noch innerhalb ihres Mandats ist.“*3)

Somit könnte argumentiert werden: Indem das BVerfG die “Integrationsverantwortung“ als Bürgeranspruch gegenüber Bundesregierung und Bundestag einfordert, hat das EZB-Urteil des BVerfG Demokratie und Bürgernähe gestärkt.

4. Ergebnis

Hier wird als Ergebnis zur Diskussion gestellt: Das EZB-Urteil stärkt den Gedanken der europäischen Einigung, weil es transparentes Handeln der EZB einfordert und damit Demokratie und Bürgernähe der EZB und der EU verbessert.

Trotz der lautstarken Proteste des “Mehr-Europa“-Lagers hat das Urteil nichts mit den politisch konkurrierenden Zielvorstellungen über die EU der Zukunft zu tun. Die Vision der “Vereinigten Staaten von Europa“ wird nicht negativ tangiert, ganz im Gegenteil. Mehr demokratische Transparenz bei der EZB kann die Akzeptanz dieser Idee nur fördern.

Das Gleiche gilt für das bei den “kleinen“ EU-Ländern vorherrschende Ziel eines stark am Subsidiaritätsprinzip orientierten Verbundes solide wirtschaftender Länder. Diese beschränken die EU-Aufgaben konkret auf den Mehrwert des vollendeten Gemeinsamen Binnenmarktes, den Grenzschutz und die Sicherheit, die Migrationspolitik und den Klimaschutz.

Ob die Tendenz der EU-Organe zur schleichenden Ausweitung ihrer Zuständigkeiten, dem “mission-creep“, gestoppt wird, hängt von Stärke und Einfluss der am Subsidiaritätsprinzip orientierten EU-Mitglieder ab. Darüber entscheiden die Wählerinnen und Wähler in der EU.

*1) Auch vorhergehende Urteile des BVerfG zu EU-Fragen gehen auf diese Kläger zurück. Siehe: BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 05. Mai 2020 – 2 BvR 859/15 -, Rn. (1-237), http://www.bverfg.de/e/rs20200505_2bvr085915.html. Siehe auch Pressemitteilung Nr. 32/2020 vom 5. Mai 2020 76006 Karlsruhe. (Hinweis: EZB = Die Europäische Zentralbank mit Sitz in Frankfurt am Main ist ein Organ der Europäischen Union. Sie ist die 1998 gegründete gemeinsame Währungsbehörde der Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion und bildet mit den nationalen Zentralbanken der EU-Staaten das Europäische System der Zentralbanken. (Wikipedia). EuGH (Gerichtshof der Europäischen Union) = Der Europäische Gerichtshof mit Sitz in Luxemburg ist das oberste rechtsprechende Organ der Europäischen Union. Nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV sichert er „die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“. (Wikipedia). Aufgaben des EuGH: Gewährleisten, dass EU-Recht in allen EU-Mitgliedsländern auf die gleiche Weise angewendet wird und dafür sorgen, dass Länder und EU-Institutionen das EU-Recht einhalten. Mitglieder des EuGH: Gerichtshof: Ein/-e Richter/-in aus jedem EU-Land, dazu elf Generalanwälte/-anwältinnen. Gericht: zwei Richter aus jedem EU-Land. (https://europa.eu/european-union/about-eu/institutions-bodies/court-justice_de)

*2) MELANIE AMANN, DIETMAR HIPP, RENÉ PFISTER, CHRISTOPH SCHULT. DER SPIEGEL 11/2014. VERFASSUNG. Die Anmaßung. Das Bundesverfassungsgericht gilt als nationale Instanz, nun wird es so scharf kritisiert wie selten zuvor. Die Richter fühlen sich missverstanden. Doch mit ihren Urteilen zu Europa haben sie Geister gerufen, die sie nicht mehr loswerden; http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/125443747.

*3) VERFASSUNGSRICHTER HUBER IM GESPRÄCH. „Das EZB-Urteil war zwingend“. VON REINHARD MÜLLER. AKTUALISIERT AM 12.05.2020; faz.net.