Danke, Tante!

Als zufälliger Ohrenzeuge vor ein paar Tagen im bönnschen Uni-Viertel: Eine Studentin, die mit einigen Kommilitonen diskutiert, sagt:

Also, ich wähl` die Piraten. Das klang nach Fazit und wurde von der Gruppe nicht wie eine Einzelmeinung aufgenommen.

Umfragen (infratest-dimap.de) zufolge könnten die Piraten in NRW und Schleswig-Holstein knapp 10 % erreichen. Dies würde mich allerdings überraschen. Denn es existieren sicher nicht genügend Erfahrungswerte, um durch Gewichtung Sympathiebekundungen in genaue Wahlprognosen zu übertragen. Aber das wissen die Poll-Profis selbst. Warten wir`s ab.

Jedoch begrüßt auch ein Sozialliberaler, der die Piraten nicht wählt, diese mögliche Erweiterung des Spektrums politischer Parteien. Vor allem, weil es zeigt, dass sich Parteien auch hinter der Fünf-Prozent-Hürde nicht abschotten können. Der politische Wettbewerb funktioniert trotz enormer Zutrittsbarrieren und Insider-Vorteile der „politischen Grundströmungen“, wenn sich genug Unmut angesammelt hat.

Von Piraten hört man Intelligentes und auch anderes. Der Zorn, den Ministerpräsident Kurt Beck deshalb mal rausließ, weil er zu gut weiß, „wie schwer Politik ist“, hat meine volle Zustimmung und Sympathie. Aber ganz ohne Sympathie bin ich auch nicht für die Piraten. Nur auf einen wesentlichen  Grund dafür sei hier eingegangen.

In den letzten 50 Jahren ist der Anteil der zur Aufnahme eines Studiums an einer Hochschule Berechtigten an der jeweiligen Jahrgangs-Kohorte in der Bundesrepublik Deutschland von etwa 6-7 % auf fast 50 % gesteigert worden. In absoluten Zahlen heißt das: von rd. 50 Tsd. auf knapp 400 Tsd.

(s. de.wikipedia.org/wiki/Abiturientenquote; sowie studentenwerke.de/pdf/WS100205_Prof_Dr_Wolter_HIS., S. 9).

Mit Willy Brandt, Helmut Schmidt und Herbert Wehner wurde die Vision des „modernen Deutschland“ auch durch Bildungspolitik angestrebt. In einem sozialliberalen Bündnis. Der Bundeskanzler Helmut Schmidt leitete ein Selbstverständnis sozialdemokratischen Führungspersonals ein, das sich als „leitende Angestellte“ der deutschen Bürger verstand. Tony Blair und Gerhard Schröder sahen dies so. Sicher gehören auch die „Stones“ in diese Kategorie.

Und in kaum einem anderen Land Europas ist die Verflechtung von Politik und Wissenschaft so vielfältig institutionalisiert worden wie in der Bundesrepublik. Ebenso die politische Bildung für Bürger jeden Alters. Damit moderne Politik auf Fakten und Forschung gestützt und von informierten Bürgern beurteilt werden kann.

Aber was spielt sich bei Sozialdemokraten in NRW und Schleswig-Holstein ab? Welche Töne hört der Bürger in TV und soft-linker Presse? Frau Ministerpräsidentin Kraft mimt die „Landesmutter“: „Wir halten zusammen!“ Und „NRW im Herzen“, flötet sie! Auch Herr Oberbürgermeister Albig, SPD, will „Landesvater“ werden: „Mag“ die Landeskinder, will sie „stark machen“, redet von „Gestaltungskraft statt Mathematik“. Gemeint sind wohl die Rechenarten Addieren und Subtrahieren beim Haushaltsausgleich. Natürlich kennt dieser ausgewiesene Finanzfachmann die Problematik der öffentlichen Schulden genau.

Sein Widersacher von der CDU, Wirtschaftsminister de Jager, will im TV mit Herrn Albig vor der Wahl konkrete Minus-Vorschläge für die schmerzhafte Budgetkonsolidierung diskutieren. Vergeblicher Versuch, da auch der Moderator an solchen Fragen zum Staunen manchen Bürgers kein Interesse zeigt.

Dies erscheint aus Sicht Herrn Albigs nachvollziehbar, weniger vielleicht aus Sicht von steuerzahlenden Wählern. Aber auch der Christdemokrat will „Landesvater“ Schleswig-Holsteins werden. Dies verwundert den eher kirchenfernen Sozialliberalen besonders, weil in Kreisen gläubiger Christen der Vater-Begriff doch wohl weniger frivol verwendet wird.

Zurück vor die eigene Haustür. Sogar die angeblich progressive SZ verneigt sich vor „Landesmutter Kraft“. Das Ausmaß dieser Heuchelei zeigt schon der offensichtliche Widerspruch: das Bild einer „Mutter“, die für die Zukunft ihrer „Kinder“ treu vorsorgt und das Prädikat „Schuldenkönigin“ Deutschlands.

Mag ja sein, dass in der TV-Debatte zur NRW-Wahl der faktenorientierte Bundesminister Röttgen als Jurist vielleicht sehr auf verbale Genauigkeit achtet. Gerade angesichts der bewusst diffus räsonierenden „Mutter“ und der Moderatoren, die an den Zuschauer denken müssen. Immerhin stammt die Bezeichnung „Schuldenkönigin“ von den Moderatoren. Für die SZ jedoch ist das Beharren Röttgens auf den Fakten der Schuldenpolitik in NRW „Arroganz“. Vehement verweigert sie ihm das Attribut „Landesvater .. So sicherlich nicht“, vermerkt die Zeitung. (sueddeutsche.de/politik/tv-duell; 30.04. 2012).

Bisher hatte ich Herrn Bundesminister Röttgen nicht im Blickfeld herausragend hoch geachteter Politiker wie Frau Bundeskanzlerin Merkel, die „Stones“, Herren Steinbrück und Steinmeier, die Herren Ministerpräsidenten Beck, Sellering, Herren Minister Jens Bullerjahn, Nils Schmid, Herren Bundesminister Schäuble und de Maizière, die MdBs Frau Iris Gleicke, Frau Gabriele Hiller-Ohm, Frau Birgit Homburger, Frau Petra Pau, Herren Peter Altmaier, Herrmann Otto Solms, Herrn Ministerpräsident a. D. Wolfgang Clement … Reihenfolge ist nicht Rangfolge und das Blickfeld durchaus größer. Aber dass Herr Röttgen nicht den NRW-Landesvater geben will für den Preis der Konzilianz gegenüber Schuldenpolitik, das spricht entschieden für sein persönliches Format.

Was mögen Bürger denken bei dem gerade heute verbreiteten Gefasel von „Landesmutter und Landesvater“. Dem offenkundigen Versuch von Politikern, die Bürger zu infantilisieren! Oder – eher noch schlimmer – die Bürger „dort abzuholen, wo sie sind“. Also im Narrenstadium, wo die „Landesmutter- oder Landesvater“-Aspiranten sie offenbar wähnen.

Was mögen die „jungen Generationen“ darüber denken? Denen das Gerede von „Sparen mit Augenmaß“ (Frau Kraft) einen ständig weiter wachsenden Schuldenberg beschert? Junge Menschen, denen die Zukunftsvorsorge und das Sparen selbst mit dem Erbe von Eltern durch inflationäre Tendenz, angedrohte Erhöhung der Kapitalertrags- und Erbschaftssteuer sowie der  Einführung einer Vermögenssteuer immer schwerer gemacht wird. Denen, vordergründig an die Piraten gerichtet, nun ausgerechnet von Frau Künast angekündigt wird: Wir werden euch sozialisieren.

Wer kann nicht verstehen, dass die Piraten dazu sagen „Danke, Tante.“ Wir sind im 21. Jahrhundert! Wo ist die politische Modernität nach fünf Jahrzehnten Bildungs- und Forschungspolitik im Establishment „progressiver“ Politik und Medien geblieben? Bratet ihnen ruhig einen über: den Landesonkels, den Landestanten, der NRW-Landesmutter, den selbst ernannten Kieler Landesvätern!