Das Haltungsproblem.

Skandale bei der Bundeswehr — Rechtsextremismus, Mobbing, sexuelle Belästigung … etc. — lösen eine eindrucksvolle Bandbreite von Reaktionen aus, wenn sie schließlich und endlich mal öffentlich werden.

Die verantwortliche und lange scheinbar ahnungslose Verteidigungsministerin benennt nunmehr ein „Haltungsproblem und Führungsschwäche“ in der Bundeswehr. Dafür soll sie sich entschuldigen, fordern „Verteidigungsexperten“ des Bundestags. Dies erscheint fast als weiterer Skandal.

Verantwortlich für die etwas zu heuchlerische Empörung über die angeblich „pauschale“ Äußerung der Ministerin Ursula von der Leyen ist zunächst der Bundeswehrverband, bekanntlich eine Art Soldatengewerkschaft. Oberstleutnant Wüstner, Vorsitzender des Deutschen Bundeswehrverbands: „Das kann keiner nachvollziehen, wie sich eine Ministerin jetzt sozusagen auf die Tribüne verabschiedet und über ihre Mannschaft urteilt“. *1)

Pflichtgemäß gewerkschaftsnah fordert SPD-Verteidigungsexperte Rainer Arnold, MdB, die Ministerin auf, sich zu entschuldigen. Sie habe „ihren Laden offenbar nicht unter Kontrolle“ und habe sich nun „auf die Zuschauertribüne gesetzt und die ganze Bundeswehr in Frage gestellt“. *2)

Genau durch diesen entlarvenden Vorwurf wird das „Haltungsproblem“ (von der Leyen) deutlich: Es seien doch „Einzelfälle“, die sind nicht „pauschal“, schon gar nicht auf der „Tribüne“ anzuprangern, so dürfe eine Ministerin nicht über „ihre Mannschaft“, „ihren Laden“ (MdB Arnold), urteilen. Durch Wüstner und Arnold werden Platz und Rolle der Streitkräfte gegenüber der politischen Führung des demokratischen Staates in ganz problematischer Weise verkannt.

Auch Vizekanzler Sigmar Gabriel hilft, den Deckel drauf zu halten: „Der aktuelle Skandal um den mutmaßlich rechtsradikalen Offizier Franco A. dürfe nicht aus Gründen berechtigter Empörung zu pauschalen Verurteilungen werden … Aber so schlimm dieser Fall auch ist: Unsere Soldaten verdienen Wertschätzung und Respekt, genauso wie unsere Polizisten oder Grenzschutzmitarbeiter“. *3)

Diese Selbstverständlichkeiten, die Gabriel hier vorträgt, wären für die Soldatinnen und Soldaten glaubwürdiger, zielten sie nicht auf Wahlkampfpunkte und würden sie nicht von Gabriels Kampagne gegen im NATO-Bündnis fest vereinbarte Erhöhungen der Verteidigungsausgaben begleitet. *4) Denn im Unterschied zu den von Gabriel „genauso“ wertgeschätzten „Polizisten oder Grenzschutzmitarbeitern“ ist die „Bundeswehr eine Einsatzarmee“ *5) mit einem erheblichen Defizit an militärischer Ausrüstung, die gerade für gefährliche Kampfeinsätze benötigt wird.

„Wertschätzung und Respekt“ — das ist Soldatinnen und Soldaten unserer „Parlamentsarmee“ durch die Grundsätze der „Inneren Führung“ zugesichert. Im Dienst für „Menschenwürde, Recht und Freiheit“, für den sie „notfalls auch mit ihrer Gesundheit und ihrem Leben eintreten müssen.“ Deshalb haben unsere Bundeswehr und ihre Staatsbürger in Uniform Anspruch auf „Rückhalt und Orientierung durch Parlament und Gesellschaft.“ *5).

Nach einer Abfolge von Skandalen haben die Soldatinnen und Soldaten jedoch vor allem das Recht auf die klare Ansage und Orientierung durch die Verteidigungsministerin: Es gibt „bei der Bundeswehr ´ein Haltungsproblem` und ´Führungsschwäche auf verschiedenen Ebenen`“ — zu Recht hat die Verteidigungsministerin diese Aussage nicht zurückgenommen. *6)

„Haltungsproblem“ — mit dieser Feststellung stärkt die Ministerin

  • gerade „gut ausgebildete, charakterstarke und in der Urteilskraft gefestigte Soldatinnen und Soldaten, die auch in Krisensituationen unter hohem physischem und psychischem Druck bestehen können“; *5)
  • diejenigen Staatsbürger in Uniform, von denen wir erwarten können, dass sie durch Mut und demokratische Standfestigkeit einer Minderheit von Rechtsextremisten, dummen Schleifern und abartigen Sadisten, die in der zivilen Wirtschaft nicht beschäftigungsfähig wären, entgegentreten;
  • Soldatinnen und Soldaten, die „Kameradschaft“ an die Werte der Inneren Führung binden und diese soldatische Tugend nicht mit „Kameraderie“ oder „Kumpanei“ verwechseln;
  • „Führungsschwäche auf verschiedenen Ebenen“ — diese Ansage schuldete die Ministerin der Öffentlichkeit und den von ihr einberufenen 100 Offizieren im Generalsrang schon deshalb, weil über Ziel und Tagesordnung eines so außerordentlichen Treffens öffentlich zu informieren ist.

Der Generalinspekteur der Bundeswehr, General Volker Wieker, bestätigte als ranghöchster Soldat der Bundeswehr die Kritik der Ministerin, wie am 4. Mai im Deutschlandfunk zu hören war: Die „Selbstreinigungsmechanismen, die eine Großorganisation in dieser Tiefenstaffelung, wie die Bundeswehr, auf allen Ebenen benötigt“, hätten offenbar nicht so gewirkt, wie wir uns das wünschen.

Diese Diagnose des Generals Wieker könnte als Hinweis auf ein spezifisches Haltungsproblem von Führungskräften in der Bundeswehr gedeutet werden.

Die „Großorganisation“ Bundeswehr ist bekanntlich durch hierarchisch gegliederte Führungsebenen („Tiefenstaffelung“) von den Kompaniechefs über die Bataillons-, Brigade-, Divisions-, Korpskommandeure gekennzeichnet. Die Führungspositionen werden etwa alle 5 Jahre neu besetzt. Befähigte Offiziere zeigen in Stationen des Aufstiegs die Eignung zur Beförderung mindestens dadurch, dass sie den jeweiligen Aufgabenbereich „im Griff“, geräuschlos-souveräne Führungskraft bewiesen haben.

In solcher hierarchischen Verantwortungskette mag ein karrierebewusster Offizier, z. B. ein Kompaniechef, dazu neigen, Auseinandersetzungen und dienstliche Meldungen über Probleme der Inneren Führung, des Auftrags, der Einsatzbereitschaft oder gar über Anzeichen von politischem Extremismus zu vermeiden. Kameradschaft verbietet, Versäumnisse des Vorgängers auf seinem Posten zu melden. Zumal dies als Vorwurf an den vorgesetzten Bataillonskommandeur, der ihn beurteilen wird, verstanden werden könnte.

Von den unteren zu den oberen Führungsebenen werden „soldatische Tugenden wie Kameradschaft, Entschlussfreude, Standfestigkeit, Tapferkeit und Durchhaltevermögen“ *5) erwartet. So könnte ein Bild von Führungskraft entstehen, dass an reibungslosen Vollzugsmeldungen der Aufträge orientiert ist, damit die Personalakte „sauber“ bleibt.

Hinzu kommt harte Arbeit, die auf den Soldatinnen und Soldaten lastet: Neue Bedrohungslagen und „Prozesse des gesellschaftlichen, sicherheitspolitischen, wirtschaftlichen und technologischen Wandels wirken sich unmittelbar auf die Streitkräfte“ aus. *5)

Könnte eine „Großorganisation in dieser Tiefenstaffelung wie die Bundeswehr“ (Generalinspekteur Wieker) eine „Alles im Griff — Alles unter Kontrolle“-Mentalität fördern, in der Missstände verschwiegen werden, soweit sie nicht die laufenden militärischen Aufträge beeinträchtigen?

Könnte sich so ein „Korpsgeist“ entwickeln und verfestigen, gerade auch weil in einer Berufsarmee Reibungsflächen mit Wehrpflichtigen entfallen? Auf diesen Gesichtspunkt hat der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages hingewiesen; der Sozialdemokrat Dr. Hans-Peter Bartels verfügt als ehemaliger Vorsitzender des Verteidigungsausschusses über profunde Kenntnis der Führungskultur in der Bundeswehr.

Ein Seitenblick auf Großorganisationen mit ähnlich ausgeprägter „Tiefenstaffelung“ wie die Bundeswehr mag diese organisationspolitischen Überlegungen ergänzen.

Die Katholische Kirche — eine Weltkirche, hierarchisch gegliedert vom Priester über Bischöfe, Erzbischöfe, Kardinäle bis hin zum Papst. An die Stelle des „Kameraden“ tritt in der Kirche der „liebe Amtsbruder“. Auch hier herrschte zu lange Zeit das Verschweigen unsäglicher Missstände. Bis zu den Meldungen des Jahres 2014: „Der Papst kennt keine Gnade mehr. So lautet das beinahe einhellige Urteil über … die Null-Toleranz-Politik des Papstes bei Missbrauchsfällen … ´Die Zeit der Verschleierung ist vorbei`, schrieb der ´Corriere della Sera`. Franziskus habe der Pädophilie in der katholischen Kirche … endgültig den Krieg erklärt.“ *7)

Nach dieser „Kriegserklärung“ des Papstes zurück zur Bundeswehr.

Wünschen wir Staatsbürger der Verteidigungsministerin und der Führung unserer Streitkräfte Erfolg!

Damit die angesprochenen Haltungs- und Führungsprobleme der Bundeswehr analysiert und bewältigt werden!

Damit unsere Soldatinnen und Soldaten ihren gefahrvollen Dienst im Vertrauen auf die Grundsätze der Inneren Führung leisten können: „Die Werteordnung unseres Grundgesetzes gibt ihnen festen Halt … Die Innere Führung … verdeutlicht die ethischen Grundlagen und stärkt darauf aufbauend die erforderliche Urteilsfähigkeit und Handlungssicherheit. Die schwierigen Aufgaben erfordern einen festen eigenen Standpunkt, ein hohes Maß an Überzeugungskraft und Vertrauen in die politische und militärische Führung.“ *5)

Deshalb wird der Verteidigungsministerin hier gewünscht, dass sie die jetzt begonnene herausfordernde Aufgabe durch ihre Führungsleistung bewältigen und zu Ende bringen kann. Kritik und Vorwürfe an die Ministerin sind sicher nicht aus der Luft gegriffen und im Wahlkampf hinzunehmen.

Jedoch könnte gerade der Vorwurf des SPD-Verteidigungsexperten Rainer Arnold, MdB, an die Ministerin, sie habe „ihren Laden offenbar nicht unter Kontrolle“, zurückgewiesen werden. Denn Arnolds Kritik bedient sich genau jener verfehlten Denkkategorien, die in „Großorganisationen“ mit ausgeprägter „Tiefenstaffelung“ das „Verschweigen“ von „Haltungsproblemen“ begünstigen.

*1) Politik. Bundeswehr. Von der Leyen entschuldigt sich für Kritik an Bundeswehr-Führung. 5. Mai 2017; http://www.sueddeutsche.de.

*2) Ministerin ist angezählt. Die einsamen Tage der Ursula von der Leyen. Von Johannes Graf. Samstag, 06. Mai 2017; n-tv.de.

*3) Bundesaußenminister Sigmar Gabriel hat die Bundeswehrsoldaten für ihren „großartigen Friedensdienst“ in der Welt gelobt. DTS-Meldung vom 05.05.2017.

*4) Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sieht die Kritik der SPD an höheren Verteidigungsausgaben mit Sorge. Stoltenberg warnt vor Rüstungswahlkampf. DTS-Meldung vom 06.05.2017.

*5) Innere Führung und Staatsbürger in Uniform; https://www.bundeswehr.de/portal/a/bwde/start/streitkraefte/grundlagen/innere_fuehrung/.

*6) Bundeswehr-Skandal. Von der Leyen zur Affäre um Franco A.: „Das ist noch nicht alles“. Samstag, 06.05.2017; http://www.focus.de/politik/deutschland/bundeswehr-skandal.

*7) Sexueller Missbrauch. Papst ohne Gnade? Franziskus wird für sein hartes Durchgreifen beim Thema Missbrauch von den Medien gefeiert. Doch es bleiben Zweifel am Aufklärungswillen des Papstes. Von Julius Müller-Meiningen, Rom. 4. Oktober 2014. Erschienen in Christ & Welt; zeit.de.