EU retten: mit Fehldiagnose?

Im Deutschen Bundestag wurde am 27. April 2017 über eine Regierungserklärung der Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Sondertreffen des Europäischen Rates in Brüssel debattiert.*1). In dieser Krisenzeit der Europäischen Union (EU) haben die Beiträge führender Abgeordneter (MdBs) die Sorgen vieler Bürger der EU nicht behoben.

Gerade für europapolitisch engagierte Sozialdemokraten dürfte dies nach den Ausführungen der SPD-Generalsekretärin Katarina Barley, MdB, zutreffen.

Frau Dr. Barley hatte in der britischen Presse dafür geworben, nach einem absehbaren Verhandlungsergebnis mit der EU-27 erneut ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft des UK durchzuführen. Für diese sehr verdienstvolle Anregung erntete Frau Barley, wie sie im Bundestag erzählt, „einen wahnsinnigen Shitstorm“ (*1, S. 23192).

Statt nun diese „Shitstorm-Briten“ ihrem Wahnsinn zu überlassen, scheint Frau Barley die britischen Reaktionen ernst zu nehmen:

„Der Tag des britischen Referendums war definitiv eine Niederlage für die europäische Idee … Ich glaube, wir müssen das ernst nehmen, weil das nicht nur in Großbritannien so ist, sondern auch in anderen Staaten der Europäischen Union. Da werden ganz viele Fehlinformationen weitergetragen, da werden Vorurteile bestätigt. Ein Satz hat mich aber besonders beeindruckt: Wir haben Deutschland doch nicht militärisch besiegt, um uns jetzt wirtschaftlich über den Tisch ziehen zu lassen. Das war ein Motiv, das immer wieder kam.“ (*1, a.a.O.).

Aus derartig absurden britischen Fehlinformationen, Vorurteilen, kurz, aus bizarr-britischem Wahnsinn eines shitstorm-Pöbels meint Frau Barley, eine düstere Warnung an uns Bürger herleiten zu müssen:

„Die EU wird scheitern, wenn sie von Politikern geführt wird, … die nicht verstehen, dass hinter Bruttoinlandsprodukten und Staatsschuldenquoten Menschen stehen — Menschen, die oft weder Einfluss darauf hatten noch verstehen, wer ihnen die Suppe eingebrockt hat“. (*1) a.a.O.).

Von welcher „eingebrockten Suppe“ und von welchen „unverstandenen“ Menschen redet die SPD-Generalsekretärin? Versteht Frau Barley unter den „unverstandenen“ Menschen und der ihnen “eingebrockten Suppe“ den EU-Stabilitäts- und Wachstumspakt, den EU-Fiskalpakt und die in Deutschland im Grundgesetz verankerte „Schuldenbremse“?

Wovon sonst redet sie, wenn nicht von diesen europapolitischen Regelungen, die das Arbeitsplätze gefährdende und tendenziell inflationäre Schuldenmachen von Politikern in der EU und in der Eurozone unterbinden sollen?

Ist es am Ende Frau Dr. Barley selbst, die vielleicht Menschen versteht, aber scheinbar rein gar nichts von den Stabilitäts- und Krisenproblemen, die „hinter Bruttoinlandsprodukten und Staatsschuldenquoten stehen“? (*1) a.a.O.).

Deutschlands beste Sachverständige unterbreiten ebenso wie ihre europäischen Fachkollegen seit der katastrophalen Finanz-, Wirtschafts- und danach der Staatsschuldenkrise Vorschläge für Reformen, die wirtschaftliches Wachstum, finanzpolitische Solidität und Verantwortlichkeit der EU-Mitgliedsländer fördern sollen.

Das Anliegen dieser Fachleute ist, wirtschaftliche und finanzpolitische Stabilität in der Eurozone und der EU zu wahren. Um eine EU-Schuldenunion und eine EU-Transferzahlungsunion zum angeblich „solidarischen“ Ausgleich unverantwortlicher Staatsdefizite und frivoler Schuldenpolitik zu vermeiden. *2)

Der Stabilitäts- und Wachstumspakt erwarte — so die Sachverständigen — von den einzelnen Mitgliedstaaten zwar eine solide Finanzpolitik, stelle jedoch deren Haushaltsautonomie nicht infrage. Dies sei nur deshalb kein fauler Kompromiss, weil die Nicht-Beistandsklausel und das Verbot der monetären Staatsfinanzierung (d.h. Ankäufe neu ausgestellter Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank, RS) im Maastricht-Vertrag die eigenverantwortliche Haftung der Mitgliedstaaten für ihre Finanz- und Wirtschaftspolitik sicherstellen sollten. *2) Die griechische Staatsschuldenkrise hat uns die Augen geöffnet über die Schwächen dieser Vorkehrungen für solide Staatsfinanzen in der Eurozone.

„Dahinter stand die Hoffnung, dass die Mitgliedstaaten nicht zuletzt über die Finanzmärkte diszipliniert und schließlich zu einer soliden Finanz- und Wirtschaftspolitik gezwungen würden.“ *2) Diese Hoffnungen seien bislang enttäuscht worden. Daher habe die EU durch den Fiskalpakt und die Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes (SWP) die Vorgaben für finanzpolitische Solidität der Mitgliedsländer strenger gefasst, um die Krisenfestigkeit der EU und der Eurozone zu verbessern. *2)  Denn nur eine Höhe von Staatsausgaben, die mit der eigenen Steuerkraft übereinstimmt, erlaubt den EU-Ländern, wirtschaftliche Rückschläge durch zusätzliche Staatsausgaben und kreditfinanzierte Haushaltsdefizite aufzufangen.

Vor allem warnen die Sachverständigen davor, die europäische Solidarität mit Zusagen für Beistand zu überfrachten. Es sei auf klare Abgrenzung von Aufgaben und Verantwortung der EU und der einzelnen Mitgliedsländer zu achten, „zwischen den Vorteilen von mehr Integration durch Standardisierung und Harmonisierung und der Wahrung des Subsidiaritätsprinzips (eigene Verantwortung der Mitgliedsländer, RS) abzuwägen … Eine Vergemeinschaftung der Risiken lässt Haftung und Kontrolle auseinanderfallen und die dadurch entstehenden Fehlanreize drohen die europäische Solidarität zu überfordern.“ *2)

Dieser Analyse setzt nun Frau Barley ein Konzept europäischer Solidarität entgegen, das die Warnungen der Sachverständigen vor Fehlanreizen für unsolide europäische Staatsfinanzen und überforderte europäische Solidarität in Besorgnis erregender Weise ignoriert (*1), S. 23192 f.).

Frau Dr. Barley im Bundestag: „Wir müssen den Mut haben, zu sagen, dass wir als Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht nur Verantwortung für unseren eigenen Staat übernehmen, sondern auch für die anderen Staaten. Das ist ein Stück weit wie in der Familie … Die Europäische Union kann nicht klappen — das spüren diese Menschen —, wenn wir ein Klub von 27 Egoisten sind, wenn sich 27 egoistische Regierungschefs zusammenfinden und jeder nur für sein Land das Größte herausschlagen will.“

Will Frau Barley mit dieser Form von Mut zu Lasten der deutschen Steuerzahler „unsere wichtigste Aufgabe, das Vertrauen der Menschen in die Europäische Union wiederherzustellen“, anpacken?

Mit falscher Diagnose: Nach Barley vermeintliche Abneigung der Menschen in der EU gegen wirtschaftliche Reformen für Wachstum und finanzpolitische Stabilität? Wegen angeblich fehlenden Verständnisses der Menschen für die Gefahr überhöhter Staatsschulden (statistisch gemessen als Staatsschuldenquote bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt, d.h. die jährliche Wirtschaftsleistung)? *3)

Und folglich mit falscher Therapie: Der Staatenverbund EU als „Familie“? Welche Länder sind die Eltern, welche die Kinder? Erziehung von „27 egoistischen Regierungschefs“ zu 27 europapolitischen Altruisten?

Wollen Martin Schulz, SPD-Chef und Kanzlerkandidat, und seine SPD-Generalsekretärin Katarina Barley, die im Bundestag Martin Schulz als Hoffnung für Europa preist, im Ernst mit solchen Ankündigungen die EU retten? Einen Staatenverbund wie eine „Familie“ politisch gestalten? Mit 26 „egoistischen Regierungschefs“ und einem Zahlmeister — Deutschland?

So werden die europapolitisch engagierten Sozialdemokraten vertrieben, die als Steuerzahler vielleicht etwas egoistisch denken, aber sich wenigstens um wirtschaftspolitische Information und sachverständige Einschätzung bemühen.

Für Wohlstand und solide Staatshaushalte in der EU. Und für die Lösung jener Probleme, die ein Mitgliedsland nicht selbst bewältigen kann, sondern die Aufgaben der EU und der westlichen NATO-Allianz darstellen: Sicherung der EU-Außengrenzen. Kampf gegen den Terror und die Organisierte Kriminalität mit Drogen-, Menschen- und Waffenhandel. Und Sicherheit vor der außer Kontrolle geratenen Raub-, Gewalt- und Einbruchskriminalität internationaler Banden.

Liefern die EU und die europapolitische Koordination der Mitgliedsländer auf diesen Gebieten endlich Resultate, wird das Vertrauen der Menschen in die Zukunft der EU-Institutionen wachsen.

*1) Plenarprotokoll. Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 231 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 27 . April 2017, Tagesordnungspunkt 3. Am Samstag, den 29.04.2017, erörterten die zukünftig 27 Mitgliedstaaten des Europäischen Rates den von der Regierung Großbritanniens am 29. März erklärten Austritt (sogenannter „Brexit“, RS) aus der Europäischen Union und verabschiedeten dazu gemeinsame Leitlinien für die Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich (UK).

*2) Zeitgespräch. Europäische Union — Vertiefung möglich und nötig? Lars P. Feld, Christoph M. Schmidt, Isabel Schnabel, Volker Wieland, Sebastian Dullien, Michael Wohlgemuth, Stephan Leibfried, Jörg Philipp Terhechte. Wirtschaftsdienst. 5. Jahrgang, 2015, Heft 9, S. 583-602; http://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2015/9/europaeische-union-vertiefung-moeglich-und-noetig/.

*3) Europäischer Fiskalpakt: „das Maßnahmenpaket, das von den Staats- und Regierungschefs der EU im Januar 2012 zur Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten beschlossen wurde, um das Vertrauen der internationalen Finanzmärkte im Zusammenhang mit der europäischen Schuldenkrise .. wieder herzustellen. Zum Inhalt des Europäischen Fiskalpakts, der im Januar 2013 in Kraft trat, gehört, dass die EU-Staaten möglichst ausgeglichene Staatshaushalte anstreben. So darf das jährliche Defizit höchstens 0,5 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragen. Daneben müssen die einzelnen Staaten Schuldenbremsen einführen und diese bis 2018 in nationales Recht umsetzen“; http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/lexikon-der-wirtschaft/159957/fiskalpakt. Die Schuldenbremse ist neben den Grenzen für Defizite (Überschuss der Staatsausgaben über die Steuereinnahmen) an der Vorgabe orientiert, dass der Schuldenstand des Staates, bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt, 60 % nicht übersteigen soll; http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/lexikon-der-wirtschaft/20710/stabilitaets-und-wachstumspakt.