Idioten vor der Glotze.

Der Staatsbürger ahnt seit langem, dass er als Nutzer des öffentlich-rechtlichen TV-Dokumentationskanals von der „politischen Klasse“ genauso wahrgenommen und gelegentlich auch so behandelt wird. Selbst bei einem so wichtigen, scheinbar faktenbasierten Thema wie der letzten amtlichen „Steuerschätzung“ vor der Bundestagswahl 2017.

Zu dieser Steuerschätzung bot das Bundesministerium der Finanzen (BMF) am 11. Mai eine Pressekonferenz, die — im Phoenix-TV übertragen — dem Interesse vieler Bürger an der Lage der öffentlichen Finanzen vor entscheidenden Wahlen diente.

Den etwa fünf Dutzend Medienvertretern waren Unterlagen zur Steuerschätzung vom Ist-Jahr 2016 bis zum Jahre 2021, dem voraussichtlichen Ende der kommenden Legislaturperiode des Deutschen Bundestags, ausgehändigt worden. Davon überzeugten sich Bundesfinanzminister Schäuble und zwei Mitarbeiter.

Und dann ging es los. Die Zeit 2016 bis 2021 rauf und runter: Änderung der Steuereinnahmen gegenüber der Schätzung von November 2016 und dem Steuer-Ist 2016, Entwicklung der verschiedenen Jahreszahlen für die „gesamtwirtschaftlichen Eckwerte“, auf denen die Steuerschätzung basiert.

Und das TV-Publikum durfte das finanzpolitische Werk von Herrn Minister Schäuble bewundern — durch Hören und Sehen seiner mal launigen, mal etwas mürrischen Kommentare. Wir sahen Journalistinnen, die sich in die tabellarischen Unterlagen vertieft hatten. Und Zahlengenies, die — mit markant poliertem Schädel — die Informationen des BMF offensichtlich nicht benötigten, sondern die Blicke fast gelangweilt in die Runde wandern ließen.

Was wir TV-Kunden im Gegensatz zur Presse allerdings nicht sahen, waren die Zahlen des BMF zur amtlichen Steuerschätzung 2017 – 2021.

Warum, darf der zornige Bürger fragen:

Warum halten es die Beamten des BMF beim heutigen Stand digitaler Fertigkeiten nicht für nötig, für das große TV-Publikum ihrer Pressekonferenz eine tabellarische Übersicht der finanzpolitisch wichtigen Zeitreihen an die leere Riesen-Wand hinter Minister Schäuble zu projizieren?

Damit wir den Erörterungen leichter folgen können. Gerade, wenn wir für blöd gehalten werden, hätten wir diese Hilfe umso mehr benötigt! Weil uns der amtlich geschätzte steuerpolitische Spielraum bis 2021 betrifft und interessiert, da wir ihn schließlich aufbringen müssen!

Minister Dr. Schäuble bilanzierte: „Die Bundesregierung hat ihre finanzpolitischen Zusagen erfüllt. Erst haben wir den Bundeshaushalt ausgeglichen, dann zusätzliche Mittel für Investitionen bereitgestellt. Nun kann in der nächsten Legislatur die Steuersenkung folgen. Darüber wird bei und nach der Bundestagswahl entschieden.“ *1)

Was folgern wir Bürger aus der von Dr. Schäuble dargelegten Schätzung des steuerlichen Handlungsspielraums für unterschiedliche Akzente politischen Handelns der Parteien in der kommenden Wahlperiode? Nachdem wir versucht haben, die Steuerschätzungen zu verstehen.

Nach der Prognose des Arbeitskreises „Steuerschätzungen“ für die Jahre von 2017 bis 2021 *1):

  • Können Bund, Länder und Gemeinden mit einem Anstieg der Einnahmen von 732 Mrd. Euro auf 852 Mrd. Euro rechnen.
  • Dabei werden durch Entlastungszahlungen des Bundes (u.a. Kosten der Integration von Geflüchteten) die Einnahmen von Ländern und Gemeinden besonders gestärkt.
  • Annahme: Die in laufenden Preisen bewertete Wirtschaftsleistung (das nominale Bruttoinlandsprodukt) wächst um rd. 3 Prozent im Jahr. Für 2017 und 2018 bedeute diese Annahme ein reales, d.h. von Preisniveau-Steigerungen bereinigtes Wirtschaftswachstum von 1.5 % und 1.6 %.
  • Annahme: Steigen 2017 die Bruttolöhne und -gehälter noch um 3.9 %, schwächt sich dieser Anstieg bis 2021 auf 3.4 % jährlich ab.
  • Annahme: Die Einkommen (Gewinne, Dividenden, Mieten, Pachten, Zinsen) aus Unternehmertätigkeit und Vermögen steigen 2017 um 1 %, danach um jährlich 3.1 %.

Wir sehen also, dass die amtlich einberufenen Steuerschätzer im wesentlichen annehmen:

  • Dass der seit 2010 stabile Konjunkturaufschwung einfach so weiter läuft — die deutsche Wirtschaft sich also bis 2021 in einem bisher beispiellosen Wachstumsprozess befinden wird, der dann ein gutes Dutzend Jahre gedauert hätte.
  • Und dies annahmegemäß bei stabilem Preisniveau,
  • fortgesetzter Nahe-Null-Zins-Politik der Europäischen Zentralbank
  • und maßvoll bleibenden gewerkschaftlichen Forderungen.
  • Von einem Regierungswechsel in Berlin sei nichts Ungutes zu erwarten.
  • Auch von außenwirtschaftlichen Einflüssen (angedrohter USA-Protektionismus, unsichere Entwicklung der Weltmacht China sowie russische Aggressionspolitik in der östlichen Nachbarschaft und im Nahen Osten) sei dies stetige Wachstum nicht bedroht.

Wie schnell sich die wirtschaftlichen Erwartungen der Steuerschätzer ändern können, haben sie uns mit deutlich positiverem Urteil gegenüber der letzten Steuerschätzung von November 2016 vorgeführt.

In nur wenigen Monaten blühten die Positiv-Annahmen der Steuerschätzer für die steuerpolitisch relevante Entwicklung von Einkommen und gesamtwirtschaftlicher Wertschöpfung richtig auf. Und lassen in der Summe gegenüber der Schätzung von November 2016 bis Ende 2021 gut 54 Mrd. Euro zusätzliche Steuereinnahmen für Bund, Länder und Gemeinden erwarten.

Jedoch ebenso schnell können ökonomische Hoffnungen welken; das erfuhren wir in der jüngeren Wirtschafts- und Krisengeschichte schmerzhaft genug.

Des ungeachtet tönt es aus Politik und Presse: Wohin mit den Milliarden? *2)

Da will Martin Schulz, dem Vorbild Hannelore Kraft folgend, in Gerechtigkeit „investieren“. Und das „mit absolutem Vorrang“! Aus den Unionsparteien und von der FDP werden uns gewaltige Steuersenkungen verheißen: „Lindner sagte: ´Angesichts der Mehreinnahmen sind 30 bis 40 Milliarden Euro jährliche Entlastung bis Ende des Jahrzehnts erreichbar.`“ *2) Zudem scheinen Schulz und Gabriel nach dem hohen Wahlsieg Emmanuel Macrons so aus dem Häuschen, dass sie sich auch für Gerechtigkeit in Frankreich etc. verantwortlich fühlen: „Teurer Freund“ ist ahnungsvoll im SPIEGEL zu lesen.

Wir einfältigen Bürger haben uns wenigstens um Verständnis der Aussagefähigkeit amtlicher Steuerschätzungen bemüht. Und kommen zu dem Schluss:

Das Konjunktur-Wunder kann im Zuge von Wochen umschlagen. Und deshalb unterstreichen wir eine der wenigen vernünftigen Aussagen aus der Politik: „Auf dem Teppich bleiben“! *3)

Wer uns etwas auf der Grundlage von geschätzten zusätzlichen Steuereinnahmen verspricht, der schwebt über dem „Teppich“ der Vernunft.

*1) STEUERN. Er­geb­nis­se der 151. Sit­zung des Ar­beits­krei­ses „Steu­er­schät­zun­gen“ vom 9. bis 11. Mai 2017 in Bad Mus­kau. 11.05.2017; http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Pressemitteilungen/Finanzpolitik/2017/05/2017-05-11-pm-steuerschaetzung.html. Mit Tabellenanhängen.

*2) Steuerschätzung. Wohin mit den Milliarden? Bund, Länder und Kommunen können auf 55 Milliarden Euro mehr Steuereinnahmen hoffen als bisher geplant. Union und SPD leiten daraus sehr unterschiedliche Forderungen ab. 11.05.2017; faz.net.

*3) Dem Unions-Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder zugeschrieben in:

Trotz höherer Einnahmen. Merkel schließt zusätzliche Steuersenkungen aus. Trotz der stark steigenden Steuereinnahmen stemmt sich die CDU-Spitze gegen eine Ausweitung der geplanten Steuersenkung. Entsprechenden Forderungen aus der CSU erteilt Kanzlerin Merkel persönlich eine Absage. 12.05.2017; faz.net.