Das Henkerseil.

Wer im Kalten Krieg aufwuchs, der erinnert sicher, für wie dumm und geldgierig die Kommunisten den kapitalistischen Klassenfeind hielten.

Der Westen wolle der UdSSR sogar das Henkerseil verkaufen, an dem die Sowjets die Kapitalisten zu gegebener Zeit aufknüpfen würden. „Wir kriegen Euch alle“, kommentierte ein geschätzter kommunistischer Student in Hamburger Universitätszeit meine Bemühungen, Wirtschaftstheorie fürs Examen zu vermitteln, wozu auch ein klein wenig Marx’sche Wachstumstheorie gehörte.

An diese Zeiten könnte heute gelegentlich gedacht werden, wenn man die Warnungen aus der Wirtschaft hört vor nun drohenden Sanktionen – d. h. Beschränkungen von Exporten nach Russland. Sanktionen als Antwort auf völkerrechtswidrige russische Aggressionspolitik gegen die Ukraine. Die unverantwortliche Drohkulisse gegen die baltischen Länder ist dabei gar nicht berücksichtigt.

Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Herr Grillo, warnt vor Sanktionen gegen Russland, beuge sich aber dem Gebot des Völkerrechts – nach Gespräch mit der Bundeskanzlerin.

Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), Herr Schweizer, sieht von Sanktionen 400.000 deutsche Arbeitsplätze betroffen *1).

Für den Geschäftsführer beim Ostausschuss der deutschen Wirtschaft, Herrn Lindner, sind 300.000 deutsche Arbeitsplätze durch Sanktionen gefährdet. *2)

Da eine nachvollziehbare Berechnung dieser beiden Schätzwerte nicht zu finden ist und auch der Unterschied von 100.000 bedrohten Arbeitsplätzen nicht weiter erklärt wird, darf wohl auch der Bürger eine Zahl in die Runde werfen.

Machen wir folgende Annahmen, um im Rahmen unserer Rechnung möglichst viele sanktionsgefährdete Arbeitsplätze zu erzeugen.

Nehmen wir den höchsten Wert für den Export nach Russland: 38 Mrd. Euro (2011; Herr Lindner nannte aktuell 36 Mrd. Euro).

Nehmen wir die wichtigsten Exportbranchen für das Russlandgeschäft: „Deutsche Unternehmen liefern vor allem Autos, Maschinen und chemische Erzeugnisse in die russische Föderation“. *2) Mit dem Maschinenbau (23 % des Exports nach Russland), dem Fahrzeugbau (incl. Fahrzeugteile, 22 % des Exports nach Russland) und der chemischen Industrie (14 %) hätten wir rd. 60 % des Exports nach Russland erfasst.

Aus den sektoralen Umsatz- und Beschäftigungszahlen für das Verarbeitende Gewerbe (vgl. Statistisches Bundesamt) ist ersichtlich, dass der Maschinenbau von diesen drei Branchen die mit Abstand höchste Arbeitskräftezahl je Euro Gesamtumsatz benötigt: rd. 1 Mio. Beschäftigte für 224 Mrd. Umsatz.

Unterstellen wir nun, dass der gesamte deutsche Export nach Russland in Höhe von 38 Mrd. Euro mit diesem besonders hohen Beschäftigungseinsatz des Maschinenbaus abgewickelt wird. Dann rechnen wir: (1/224000) multipliziert mit 38 Mrd. Euro ergibt 167.000 Beschäftigte, die für den gesamten Export nach Russland eingesetzt würden.

Also den 400.000 von Exportbeschränkung bedrohten Arbeitsplätzen des DIHK oder den 300.000 Arbeitsplätzen des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft würden nach dieser Rechnung lediglich 167.000 sanktionsbedrohte Arbeitsplätze gegenübergestellt.

Ich möchte nun keinesfalls die hohen Zahlenwerte zu den möglichen Sanktionsfolgen von DIHK oder Ostausschuss herabsetzen oder kritisieren. Schon gar nicht den von mir errechneten wesentlich niedrigeren Schätzwert für genauer halten, das ist er sicher nicht. Zumal ja die Annahmen der Berechnung von DIHK und Ostausschuss nicht öffentlich bekannt sind und schon deshalb nicht bezweifelt werden können.

Als für die Freiheit der Ukraine engagierter Bürger wäre ich jedoch dankbar, wenn diese bedeutenden Institutionen – BDI, DIHK und Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft – nicht nur vor Sanktionen warnen, sondern uns wenigstens nachvollziehbare Schätzwerte für die möglichen Beschäftigungsfolgen von Sanktionen liefern würden.

Schon um den Eindruck zu vermeiden, den deutschen Russland-Exporteuren gehe es nur um ihre Geschäfte: Ablehnung möglicher Sanktionen mit übertriebenen Warnungen vor Verlust von Arbeitsplätzen. Derartige Opfer nicht wegen der bedrohten Ukraine?

Liefern wir Putin – um nicht vom Henkerseil zu reden – nun doch die Peitsche frei Haus, die er über das östliche Europa knallen lässt?

*1) Wirtschaft unterstützt Regierung gegen Russland, faz.net, 14.03.2014.

*2) So eng sind Deutschland und Russland verflochten. Von Franziska Bossy und Nicolai Kwasniewski, SpiegelOnline, 05. März 2014.