Russlandversteher: 1914 und 2014.

Wer Herrn Gysi kürzlich bei einer TV-Runde zur Lage in der Ukraine sah, der wurde den Verdacht nicht los, dass manche der heutigen Russlandversteher ganz komplizierte Motive verbergen.

Diese sonderbare Mischung von etwas lauernder Vorsicht und reflexhaft zuschnappender Anklage gegen den Westen, die NATO, die Europäische Union: Um Russland nicht bemüht; Russland nicht verstanden; Russland gedemütigt … Endlosschleife.

Hier mag tatsächlich der Ansatz sein, um zu „verstehen“ – nicht etwa den russischen Präsidenten Putin, sondern den ehemaligen SED-Führungsnachwuchs. Dessen „Demütigung“ aus eigenem Erleben, als zu hören war „Wir sind das Volk!“

Diese Demütigung mag noch heute die kaum verhohlene Wut bei mancher SED-„Jeunesse dorée“ auf „den Westen“ erklären. Eine tiefsitzende Wut, weil es 1989 keinen „Putin 2014″ gab? Hut ab vor Helmut Kohl, der vor 25 Jahren die historische Chance zu nutzen wusste.

Weil man im 25. Jahr nach der Wende schon kaum noch beurteilen kann, aus welchen Quellen sich das „Verstehen“ von Wladimir Putin speist, gehen wir doch gleich 100 Jahre zurück in den Herbst 1914. Da finden wir eine der wirklich sauberen Quellen für das Verstehen der Russen.

Im Herbst 1914 fanden Gespräche zwischen zwei hochgebildeten Menschen statt – einem Deutschen und einem Russen. Der Deutsche, Karl Nötzel, hatte über zwei Jahrzehnte in Moskau gelebt. Bedeutende Übertragungen russischer Weltliteratur sind ihm zu verdanken.

Im „Herbst des Jahres 1914 … traf ich ganz zufällig einen alten Moskauer Bekannten, der durch den Ausbruch des Krieges an der Rückreise nach Russland verhindert war und nun seinen Schmerz zu vergessen suchte in ununterbrochenem Gedenken an sein Vaterland“. *1)

Karl Nötzel hat die Gespräche mit seinem russischen Bekannten publiziert *1). Die Identität des russischen Gesprächspartners hielt er vertraulich. Nötzel verfolgte ein Ziel mit „der Herausgabe dieser Schrift. Natürlich erstrebe ich mit ihr gar nichts anderes, als einem dauernden Verständnis mit dem hochbegabten russischen Volke, von dem uns noch so vieles zu lernen bleibt, nach besten Kräften die Wege zu ebnen“. *1)

Karl Nötzels Sichtweise ist von tiefer Zuneigung zum russischen Volk, sein Ringen um Verständnis der russischen Menschen von Bescheidenheit geprägt. Sein Ansatz ist der des um „Verstehen“ bemühten Pädagogen mit dem gütigen Blick auf „Vorzüge und Fehler“ des russischen Menschen.

Die folgende Wiedergabe einiger Gesprächsszenen kann über eine kurze Auswahl nicht hinausgehen. Der pädagogische Ansatz Nötzels ist zudem Grund dafür, dass ich mich fast vollständig auf die Seite des russischen Gesprächspartners R. geschlagen habe. Deshalb räume ich gleich ein, dass diese Auswahl eine etwas frivole Karikatur des ehrlichen und tiefen Bemühens Karl Nötzels um das „Verstehen“ des russischen Menschen ist.

Hier nun die Auswahl 2014 aus den Gesprächen im Jahre 1914 zwischen Russland-Versteher Nötzel (D wie Deutscher) und seinem russischen Partner R.

D: Er habe „große Bedenken, dass man in Russland gerade eben durch die unendliche Leichtigkeit, mit der man erlittenes Unrecht verzeiht, den Übeltäter auch völlig um den Segen der Reue bringt … ein ihm verziehenes Unrecht hält der Russe für nicht begangen und .. so kommt das Übel zu Jahren in Russland“. (20)

R: „Sie sind .. ein deutscher Philister (20) … Ich finde die Deutschen nun mal kleinlich, engherzig, pedantisch – und dann ihr schwerer Witz, der soviel dumme Selbstzufriedenheit verrät. Auch sind sie – was Sie da auch sagen mögen – nur gar zu sehr auf praktischen Vorteil bedacht … und sie sind mir zudem auch noch langweilig – wenn ich vielleicht auch großen Respekt vor ihnen hege“. (38)
Der Deutsche … „ich mag ihn aber nicht. Ich fühle mich wenigstens nicht wohl in seiner Nähe … Mit einem Worte: Ich suche den Deutschen nicht auf.“ (38)

D: „Man verkehrt mit einem Russen. Er ist .. liebenswürdig – er ist das immer, bis man ihm auf die Hühneraugen tritt, die allerdings zahlreich bei ihm sind … Wir denken also, er sei mit uns zufrieden … und da erfahren wir denn, dass er hinterher furchtbar auf uns schimpfte.“ (54)

R: „Soll er Sie auch noch persönlich entgelten lassen, dass Sie ihm zuwider sind? Es ist doch nur lautere Rücksicht, wenn er sich das nicht merken lässt.“ (54)

D: „Bei der russischen Intelligenz ist geistiges Vergewaltigen einfach Grundsatz“ (5) … Ich für meine Person sah nie im Leben unglücklichere, vom Schicksal mehr vergewaltigte Menschen als Ihre Polizeioffiziere“. (52)

R: „Ach die, die fühlen sich sauwohl, wenn sie nur stehlen können.“

D: „Es bleibt ihnen gar nichts anderes. Auf ihnen lastet ja bleischwer die Verachtung von oben und unten, und die stößt immer in Selbstverachtung“. (52)

R: „Alter Schulmeister! Lassen Sie doch unsere Polizei in Ruhe. Ich will gar nichts von ihr hören; ich werde sie schon früh genug wieder zu sehen bekommen.“ (52)

D: „Niemand ist rascher als der Russe, sich zu seinen hässlichsten Taten zu bekennen und andere um Verzeihung zu bitten … Ihr könnt zehnmal vor anderen sagen, ´Ich habe gehandelt wie ein Schwein!` In Eurem Innern werdet Ihr nicht nur tausend Entschuldigungsgründe für Euch haben, nur damit ihr Euch selber freisprechen könnt .. (Ihr) konntet .. eben gar nicht anders handeln!“ (60)

R: „Nun, da haben Sie einmal ihrem Hass freien Lauf gelassen! … Tut nichts, wir haben einen breiten Rücken.“ (61 f.) … „Auch das scheint mir charakteristisch für den Deutschen, dass er um so schulmeisterlicher wird, je mehr er unrecht hat.“ (68)

D: „Sagen Sie mir übrigens endlich einmal, halten Sie einen dauernden Umgang des Russen mit dem Deutschen für möglich? Und was muss der Russe dann tun?“

R: „ … den Deutschen immer ausreden lassen und ihm überall rechtgeben.“

D: „Was muss aber der Deutsche tun, wenn er mit dem Russen in Frieden leben will?“

R: „Ihn lieben.“

D: Wenn er einem das nur nicht gar so schwer machen wollte!“ (109)

*1) Vom Umgang mit Russen. Von Karl Nötzel. München 1921. https://archive.org/details/vomumgangmitrus00ntgoog. S. „Im Voraus“, diese Hinweise schrieb Karl Nötzel in „Pasing, im Dezember 1915″. Die folgenden Zitate aus Nötzels Schrift werden durch Angabe der Seite belegt.