Pfeift drauf!

Völkerrecht, Diplomatie, Dialog, Politikangebote, Reputation – Stefan Kornelius hat den angemessenen Ausdruck gefunden: Putin pfeift drauf. *1)

Ihm kann keiner; denn auch die Intellektuellen Russlands sagen „Pfeift drauf!“ Zu ihrem eigenen Staat, und das schon seit Jahrzehnten, wie uns Wladimir Kaminer informiert. *2) Die Menschen in Russland – so dächten viele russische Intellektuelle – „brauchen keine Freiheit, sondern günstige Kredite und bezahlbare Wohnungen. Das bekommen sie von Putin.“ Freiheit? Die pfeifen drauf. *3)

Auch die linken Friedensmarschierer gegen Gewalt und Krieg pfeifen drauf, seit es nicht mehr gegen George W. Bush geht. Sie verstehen Russland: „Das Sowjetreich ist zusammengebrochen, Russland wurde auch zeitweise ziemlich hochnäsig behandelt und hat sicherlich auch Interessen in seiner Nachbarschaft, die EU und die NATO rücken immer näher ran.“ *4) Diesen Bären bindet uns der Russlandversteher Jo Leinen, MdEP, auf.

Wann und von wem wurde Russland denn „hochnäsig behandelt“, Herr Leinen? Richtet sich am Ende Ihr Vorwurf an langjährig regierende Sozialdemokraten?

Wie viele Mrd. Dollar Hilfsgelder sind seit dem Zusammenbruch der UdSSR vom Westen nach Russland geflossen?  War der Zusammenbruch des Sowjetsystems etwa vom Westen verschuldet oder vielmehr durch die eigene Misswirtschaft? Und dennoch wurde mit vielen Milliarden Hart-Währung, Dollar, DM etc. geholfen.

Wurde Putin nicht als Demokrat gewürdigt? Wurde Putin nicht 2001 als erster russischer Präsident mit einer Rede im Deutschen Bundestag geehrt?

Wurden nicht vor vielen Jahren bereits hochrangige Foren des Politikgesprächs wie der Schlangenbader oder der Petersburger Dialog eingerichtet, um mit russischen Vertretern aus Politik und Gesellschaft regelmäßig über europäische Themen zu diskutieren? Um ein Haar hätte Putin noch den Berliner Quadriga-Preis 2011 bekommen, wenn nicht aufgefallen wäre, wie er mit Menschenrechten in Russland umgeht.

Von den USA bis Deutschland – alle Regierungen haben Putin mit Respekt und Vorsicht behandelt. Wurden nicht gute Worte und noch mehr Geld über Jahre in die „strategische Modernisierungspartnerschaft“ des Westens mit Russland investiert?

Wollte doch MdEP Leinen belegen, wann, wo und bei welchem Thema die demokratischen Länder Russland „hochnäsig“ behandelt hätten! Belege bitte, Herr Leinen, für westliche „Hochnäsigkeit“ gegen Russland: UN-Sicherheitsrat, Internationaler Währungsfonds und Weltbank (haben diese z.B. 1998 mit dem 23 Mrd. Dollar Hilfspaket zur Rettung Russlands „hochnäsig“ gehandelt?), Europarat, Welthandelsorganisation (WTO), Nato/Russland-Rat oder EU mit all den Angeboten zur Vertiefung des seit 1994 bestehenden Partnerschafts- und Kooperationsabkommens! Belege bitte, Herr Präsident der Internationalen Europäischen Bewegung, Herr Jo Leinen!

Die Winterolympiade hat Putin bekommen, um seine Investitionen in Sotschi zu fördern. Westliche Investoren und Kreditgeber liegen ihm zu Füßen, sind seine härtesten Alliierten, wenn es um Einspruch gegen berechtigte Sanktionen für seine Attacke auf die Ukraine geht.

Und zu allen diesen jedem interessierten Zeitungsleser zugänglichen Fakten hören wir heiter-ungläubig Traumadeuter wie Frau Mikich über „Demütigung“ oder MdEP Leinen über „hochnäsige“ Behandlung Russlands.

Und was ist dagegen mit der Behandlung der Ukraine durch Präsident Putin? Pfeifen beide drauf, Frau Mikich und Herr Leinen?

Da sehen wir im Qualitäts-TV Phönix den hochrangigen Journalisten Herrn Krumrey von der Wirtschaftswoche, stellv. Chefredakteur und Leiter des Hauptstadtbüros Berlin. Die WiWo war für mich Pflichtlektüre. Zu den deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen sagt er Richtiges. Aber dann versichert Herr Krumrey: „Niemand würde einen Krieg führen, wenn Estland besetzt würde.“ Nato-Partner Estland? Da pfeift Herr Krumrey drauf.

Und Phönix lässt zu, dass diese Aussage Krumreys heute wiederholt wird (Bon(n)Jour Berlin). Wie wird die deutsche Öffentlichkeit von der ARD gegen den NATO-Partner Estland positioniert? Vor Millionen-Publikum im öffentlichen Dokumentations- und Informations-TV. Was sollen die kleinen baltischen Länder von solchen Äußerungen eines namhaften Top-Journalisten aus Deutschland halten? Warum hört kein ARD-Redakteur bei solchen außenpolitischen Aussagen hin? Die pfeifen drauf.

Dann haben wir Russlandkenner wie Egon Bahr. Ihm glaubten wir am 28.02.2014 um 15.50 Uhr. Da stellte er nach den Verhandlungen der drei Außenminister des Weimarer Dreiecks (Fabius, Sikorski, Steinmeier) in Kiew fest, dass „die Lage in der Ukraine heute sehr viel ruhiger als noch vor wenigen Tagen“ wäre. *5)

Keine 6 Stunden später invadierte russisches Militär die Krim, ukrainisches Staatsgebiet. *6) Irritierte das den Altmeister der Annäherung an die UdSSR/Russland? Oder pfeift auch Egon Bahr drauf? „Die Rhetorik dämpfen“ – das ist alles, da ist Herr Bahr jedenfalls mit dem russischen Botschafter Grinin einig (Sendung Frau Illner).

Schließen wir mit dem Realpolitiker General a. D. Harald Kujat. Als Generalinspekteur war er der höchstrangige Soldat der Bundeswehr, sehr geachtet im Dienst für unsere Sicherheit. Im TV setzte er Prioritäten: „Wir müssen mit Russland arbeiten.“ Also merke sich die Ukraine: Auch General Kujat pfeift drauf. Für Herrn Kujat ist – wie die Kaserne – auch die Politik kein Mädchenpensionat. Das hatte eine junge Ukrainerin in der Gesprächsrunde noch nicht verstanden, als sie Erschrecken äußerte bei Kujats Prognose, gegenüber der Ukraine „wird Putin seine Ziele erreichen.“

Da machte der General der jungen Dame klar: „Lassen Sie mich meine Meinung sagen, das hier ist ein freies Land!“ So der General zu einer jungen Ukrainerin, die verzweifelt zusehen muss, wie ihrer Heimat die Freiheit geraubt wird.

Alle Achtung, Herr General Kujat! Klar, auch Sie pfeifen drauf.

*1) Wie Gift in den Blutkreislauf. Ein Kommentar von Stefan Kornelius 7. März 2014, sueddeutsche. de.
*2) „Man lebt, als gäbe es Putin nicht“. Wladimir Kaminer, Interview von Klaudia Prevezanos, DW.DE. 06.03.2014.
*3) Warum ich mich für meine Heimat schäme. Wladimir Kaminer zu Putin. Von Sandra Kegel, faz.net 05.03.2014.
*4) Wir brauchen eine neue Osteuropapolitik, Jo Leinen im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann, DLF, Interview, 06.03.2014.
*5) Egon Bahr: Lage in Ukraine viel ruhiger … DTS-Meldung vom 28.02.2014, 15:50 Uhr.
*6) Medien: Hunderte russische Soldaten landen auf der Krim; DTS-Meldung vom 28.02.2014, 21:32 Uhr.

Nachtrag 09.03.2014. Gerade beim Mittagsbummel alte Bekannte getroffen: „Warum hört man nichts von den politischen Stiftungen?“ Da mag ich auch als Rentner nicht „Pfeif drauf“ sagen. Statt dessen: „Weil deren Verantwortliche zu klug sind! Denn, erstens, können die Partnerländer für internationalen Dialog und Beratung durch die Stiftungen, wie sich zeigt, im Konflikt miteinander stehen. Zweitens, werden die politischen Stiftungen vom Staat nicht für „Briefing“ des breiten Publikums finanziert. Dafür sind die Medien geeigneter. Von den politischen Stiftungen wird qualifizierte Beratung wichtiger Zielgruppen erwartet. Solcher Auftrag passt nicht zu schnellen Kommentaren aus dem hohlen Bauch, sondern eher zu fundierter Analyse.“