„Going Native“-Ratgeber.

Fachleute, die über andere Zeiten als die Gegenwart oder andere Länder als das eigene professionell arbeiten, haben ihre ganz eigene Sicht auf zwei Typen von „Meinungsführern“, die in Medien gerne das Urteil interessierter Bürger formen möchten.

Diese beiden Typen sind „der Zeitzeuge“ einer „Epoche“ (meist stellt es sich allerdings als Episode heraus) und derjenige, „der im Lande lebt oder lange gelebt hat“ und deshalb zutiefst von seiner Wahrnehmung und Wahrheit überzeugt ist.

Nun ist der Blick auf andere Zeiten oder andere Länder nicht durchweg erfreulich. Aber was die Stimmung doch immer wieder hebt, ist das gelegentlich offene Urteil der oben zitierten Fachleute über unsere beiden typischen „Meinungsführer“: „Er/Sie lügt wie ein Zeitzeuge“ oder „He/She has gone native“. *1)

Und damit ist diese kleine Bühne frei für eine einflussreiche Persönlichkeit, die sowohl die „vor Ort“ (1992-1998) erlebte Zeitzeugen- als auch die Landes-Kennerschaft verkörpert: Frau Sonia Mikich. Sie rief uns gestern abend im ARD/TV – nachdem wir mehrfach die Pressekonferenz Putins bestaunt hatten – in ihre, Sonia Mikichs, Wirklichkeit zurück.

Einfühlsam erreichte die Landeskennerin und Zeitzeugin russischer Wendejahre unser Herz: Jene Jahre, als sich die UdSSR auflöste, hätten die „Russen traumatisiert“. Damit legte sie uns nahe, dieses „Trauma der Russen“ nachzufühlen, mitzuempfinden. Eher also mitfühlende Traurigkeit mit Russland zu teilen als Freude zum Beispiel über die Befreiung der baltischen Völker vom Sowjetreich.

Und schon gar nicht sollten wir Deutschen die Freude teilen mit dem Euromaidan und seiner „fragwürdigen Interimsregierung“ (Mikich) über die Vertreibung Janukowitschs. Frau Mikich trübt uns solche Freude mit dem Vorwurf mangelnder Sensibilität gegenüber Trauer und Trauma Russlands durch den Verlust der UdSSR. Und diesen Vorwurf wendet Frau Mikich unverzüglich gegen den eigentlichen Urheber solchen Mangels an Empathie: „Die geschichtsvergessenen USA haben dieses Trauma nicht verstanden.“

So Frau Mikich, einflussreiche WDR/TV-Chefredakteurin, auf der großen Bühne der ARD. Sie trifft fraglos die hiesige Stimmung. Nicht umsonst beruhigt uns Sigmar Gabriel, dass wir uns „keine Sorgen“ um die Gazprom-Lieferungen machen müssen. Denn er fährt ja am Donnerstag zum Dialog mit Putin: „Zur Sprache kommen sollen .. die russischen Erdgaslieferungen in den Westen und das von Russland zuletzt verfolgte Ziel einer europäischen Freihandelszone.“ *2)

Gerade der letzte Gesprächspunkt ist interessant: Denn dazu passt die Meldung, der mächtige Vorsitzende der IG-Metall, Detlev Wetzel, fordere sofortigen Stopp der Verhandlungen über die Transatlantische Freihandelszone. *3)

Sollten wir also unsere Zukunft nicht im demokratischen Westen und nicht im TTIP-Freihandelsprojekt mit den USA sehen? Sondern statt dessen mit Putin, dem Ostausschuss der deutschen Wirtschaft, Sigmar Gabriel und Detlev Wetzel über „Russlands Ziel einer europäischen Freihandelszone“ nachdenken? Aus Angst, im nächsten Winter wegen unserer ohnehin korrekturbedürftigen Abhängigkeit von Gazprom-Erdgas kalte Füsse zu kriegen?

Bevor wir Putins Trauma-Deuterin Frau Mikich folgen, wenden wir uns – aus transatlantischer Perspektive – den Einschätzungen zweier amerikanischer Russland-Beobachterinnen zu.

Beginnen wir mit einer Journalistin, Julia Ioffe. Mit Frau Mikich teilt sie zwar Erfahrungen in Russland. Frau Ioffe „was a Moscow-based correspondent for Foreign Policy and The New Yorker.“ *4) Wer aber öfter in Foreign Policy und dem New Yorker gelesen hat, wird festgestellt haben, dass man dort – im Gegensatz zur ARD – sicher keine Neigung verspürt, sich Trauma-Deutungen über Putin hinzugeben, geschweige denn ein „going native“ zu tolerieren.

Frau Ioffes Ansatz, Präsident Putins Auftritt in der Pressekonferenz am 4. März zu analysieren, ist denn auch nicht sein „Trauma“.

Nehmen wir ihren Eindruck von Putins bemerkenswertem Auftritt im Originaltext zur Kenntnis: „Slouching in a fancy chair in front of a dozen reporters, Putin squirmed and rambled. And rambled and rambled. He was a rainbow of emotion: Serious! angry! bemused! flustered! confused! So confused. Victor Yanukovich is still the acting president of Ukraine, but he can’t talk to Ukraine because Ukraine has no president. Ukraine needs elections, but you can’t have elections because there is already a president. And no elections will be valid given that there is terrorism in the streets of Ukraine. And how are you going to let just anyone run for president? What if some nationalist punk just pops out like a jack-in-the-box? An anti-Semite? Look at how peaceful the Crimea is, probably thanks to those guys with guns holding it down.“ *5)

Julia Ioffes kühle Schlussfolgerung unterscheidet sich von der Tonlage Frau Mikichs: Nicht traumatisiert ist Putin, sondern den Verstand hat er verloren. Die Ursache: Für Moskaus journalistische Kreise stehe schon seit Jahren fest, dass Putin „von Ja-Sagern umgeben sei, die für ihn eine informationelle Parallelwelt geschaffen haben … Sie beginnen ihre eigene Propaganda zu glauben“, so Frau Ioffe über Eindrücke von einem Besuch in Moskau im Dezember 2013.

Nun zu einer amerikanischen Russland-Spezialistin, die auch nicht die Gefahr des „Going Native“ läuft. Denn sie forscht zwar über, aber nicht in Russland. Dafür hat Fiona Hill, Director of the Center on the United States and Europe, einen eindrucksvollen wissenschaftlichen Weg vorzuweisen. Der ist belegt durch Fachpublikationen, die an US-Forschungszentren wie Harvard University’s John F. Kennedy School of Government, The Eurasia Foundation in Washington oder The Brookings Institution erarbeitet wurden.

Fiona Hill nimmt Stellung zu genau den schwierigen Fragen, zu denen wir in Deutschland leider nichts anderes als wahre Schleiertänze konstatieren müssen. *6)

Was ist von Putin zu erwarten?

Fiona Hill: „The ultimate goal is to make sure that the Ukraine stays in the state of complete uncertainty, instability and to make sure that the current government in Kiev and successive governments do not contemplate returning to the idea of signing an association agreement with the EU … So the Russian governor is pretty determined to keep Ukraine in a situation where it has no prospect of going in a different direction. And if it does, the warning is very clear. It will go without significant pieces of territory, specifically Crimea, but also, potentially, other parts of Eastern Ukraine.“

Was kann der demokratische Westen gegen diese imperialistischen Anmaßungen Putins tun?

Fiona Hill: „Russia is much more integrated with the global economy than before. So, the fact is if we did pull together with the European Union as being suggested and put in the kinds of sanctions that we’ve actually applied against Iran, that is the only way that we could really make economic sanctions bite for Moscow.“

Und Fiona Hill arbeitet den Kern der Militärpolitik Putins heraus. Den militärischen Großmanövern Russlands an der Westgrenze und in jenen russischen Militärdistrikten, die Belarus und der Ukraine benachbart sind, liege immer das Szenario eines hypothetischen Konflikts im Nachbarland zugrunde, bei dem eine internationale Intervention erfolgt sei. Auf diesem russischen Manöver-Szenario beruhe dann eine geplante massive militärische Konfrontation, die Russland zu einem Nuklearschlag eskalieren könne. „The Russians have actually reserved the right for a nuclear strike.“

Es scheint höchste Zeit für Deutschland und die Europäische Union (EU), den russischen Nachbarn – wenigstens solange das Putin-Regime im Besitz der Macht ist – illusionslos zu analysieren.

Hoffnungen auf eine Konsequenz für Putins militärische Aggression seitens der EU können die Ukrainer fahren lassen. Dazu reicht es, die Stellungnahmen des Russlandbeauftragten der Bundesregierung, Gernot Erler, MdB, zu lesen: „Ich bin erschüttert“, „Ich bin geschockt“, „Ich bin entsetzt“ *7). Da hat selbst die Trauma-Deuterin Frau Mikich bessere Nerven gezeigt.

Immerhin hat sich der Russlandbeauftragte schnell gefangen. Er hofft weiterhin auf Sinneswandel bei Putin. Deshalb versichert er – Russland hört gewiss genau hin – dass er gegen Sanktionen sei, da dies ja zu russischen Gegen-Sanktionen eskalieren könne.

Erlers Überlegungen folgend, soll es wohl für Putins Militärschlag keine andere europäisch-deutsche Konsequenz geben als die Absage einer G8-Konferenz in Sotschi.

Nur „going native in Russia“ und Trauma-Empathie könnten unseren Kopf so vernebeln, dass wir Bürger die Hoffnung unseres Russlandbeauftragten auf Sinneswandel bei Putin teilten. Lieber mal kalte Füsse im nächsten Winter als die Ukraine dermaßen im Stich lassen!

*1) Going native (englisch: einheimisch werden), die bewusste Anpassung an die beziehungsweise die Übernahme der Kultur einer fremden Gesellschaft seitens einer Person, die sich in der geographischen Region dieser Gesellschaft aufhält oder dort lebt; enzyklo.de/Begriff/Going%20native. Hier der deutsche Fachbegriff: „verbuscht“ …

*2) Zeitung: Gabriel hält an Treffen mit Putin fest; DTS-Meldung vom 04.03.2014.

*3) EU-USA-Freihandelsabkommen: IGM-Chef fordert Stopp der Verhandlungen; DTS-Meldung vom 04.03.2014.

*4) http://www.juliaioffe.com/bio.

*5) Julia Ioffe, Putin’s Press Conference Proved Merkel Right: He’s Lost His Mind; www.newrepublic.com/article/116852/. (04.03.2014).

*6) Fiona Hill, Interview mit David Greene, What Costs Can U.S. And Its Allies Impose On Russia? http://www.npr.org/2014/03/03/285119906/what-costs, March 03, 2014.

*7) Siehe Gernot Erler in: Spiegel Online, 04. März 2014; DLF, Interview vom 05.03.2014.

Nachtrag 06.03.2014: Frau Mikich hatte – wie oben erwähnt – ebenso wie der im Blog vom 03.03. 2014 zitierte Prof. Stephen F. Cohen Zweifel an der Legitimität der neuen ukrainischen Regierung. Das sieht auch Russlands Präsident Putin so.

Die Juristen des SPIEGEL geben nun diesen drei Kritikern Recht. „Fazit: Betrachtet man den Präsidentschaftswechsel in der Ukraine „rein juristisch“, hat Putin recht. Eine andere Frage ist, inwieweit diese Sicht in revolutionären Zeiten politisch maßgeblich ist – und es ist eine noch andere, ob Putin einen glaubwürdigen Anwalt des Rechtsstaats abgibt.“ (Putin und der legitime Präsident der Ukraine. Von Hauke Janssen und Eckart Teichert. 06. März 2014, 15:00 Uhr; spiegel.de/politik/.)

Das sind wohl berechtigte politisch-moralische Fragestellungen, die der SPIEGEL dem Regierungswechsel in der Ukraine zugute hält. Die entscheidende Frage könnte jedoch lauten: Erlauben Verfassungsmängel beim Ausweg aus der ukrainischen Staatskrise dem Präsidenten der Russländischen Föderation, unter mehrfachem Bruch des Völkerrechts im Nachbarland militärisch zu intervenieren?