Das „Weihnachtsgeschenk“ der Frau Bas.

„Wir wollen mehr Demokratie wagen“ — diese Mission stellte Bundeskanzler Willy Brandt am 28. Oktober 1969 in das Zentrum seiner Regierungserklärung im Deutschen Bundestag.

Das Ziel Willy Brandts — mehr Demokratie wagen — hat unzählige Menschen begeistert. Gerade weil der Bundeskanzler und Vorsitzende der ältesten demokratischen Partei Deutschlands dies unserem Land nach Jahren konservativer Regierungsführung durch die Kanzler der CDU zusicherte.

1. Weniger wählen = weniger Demokratie.

Wer Willy Brandt und seine Reformpolitik erinnert, wird heute fassungslos auf die Dreistigkeit reagieren, mit der die Präsidentin des Deutschen Bundestags, Bärbel Bas (SPD), die Wahlperiode für den Bundestag von vier Jahren auf fünf Jahre verlängern will. *1) Stellungnahmen von Parteien und Bundestagsabgeordneten (MdBs) in der Presse zeigen deutlich das Interesse der MdBs, ihre Amtszeit um 25 Prozent auszudehnen.

Das Volk, der sogenannte Souverän unserer demokratischen Bundesrepublik, das die Parteien bzw. MdBs wählt, wird gar nicht erst gefragt, ob es mit der Beschneidung seines Wahlrechtes einverstanden ist: Wer z. B. als Wählerin oder Wähler 60 Jahre lang an Bundestagswahlen teilnehmen will, konnte bisher 15 Mal wählen, nach dem Willen von Frau Bas und der ihrem Vorstoß wohl folgenden MdBs jedoch nur noch 12 Mal.

Dies sollten die deutschen Wähler als skandalöse politische Enteignung durch eine anscheinend abgehobene “politische Klasse“ von MdBs bewerten. 

Seit 10 Jahren wird in diesen Blogbeiträgen vor dem Ansinnen der MdBs gewarnt, ihre Amtszeit ohne Befragung der Wählerschaft zu verlängern. *2) Nun scheint das Vorhaben der Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP, die Rechte der Wählerinnen und Wähler zu beschneiden, umgesetzt zu werden.

2. Kritik an verlängerter Legislaturperiode im Bund.

Von der Wählerschaft sollte die öffentliche Kritik durch angesehene Wissenschaftler und Journalisten dankbar gewürdigt werden.

„Weniger wählen bedeutet weniger Demokratie“, schrieb der Jurist und Journalist Prof. Dr. Heribert Prantl schon im Dezember 2013. *3)

Der Bonner Politikwissenschaftler Prof. Dr. Frank Decker hat begründet, warum er den Vorstoß von Frau Bas ablehnt. Prof. Deckers Argumente werden hier wörtlich zitiert: *4)

  • “Eine längere Wahlperiode bedeutet weniger Demokratie.
  • Das Hauptargument, es könne dann besser regiert werden, zieht nicht, da im föderalen Deutschland zwischendurch immer Landtagswahlen anfallen und auch diese den Politikbetrieb im Bund beeinflussen.
  • In den Ländern gilt zwar bereits die fünfjährige Periode, aber im Gegenzug wurden die Möglichkeiten für Volksentscheide erweitert. Das soll im Bund nicht geschehen, selbst die Grünen sind davon abgerückt. Auch dieses Argument zieht also nicht. 
  • In zwei Drittel aller parlamentarischen Demokratien gelte die Vier-Jahres-Periode. „Es ist nicht überzeugend, warum ausgerechnet Deutschland da ausscheren sollte. Demokratie ist nun mal lästig, aber damit müssen die Abgeordneten leben.“

Der Journalist Dr. Daniel Deckers sieht im Ansinnen der Bundestagspräsidentin Bas “Untote Ideen“: „Die Mandatszeit um 25 Prozent zu verlängern wollten schon ihr Vorvorgänger Norbert Lammert (CDU) und eine ganz große Koalition von Parlamentarischen Geschäftsführern. Weit gekommen sind sie nicht. Denn die Argumente zur Beschneidung der Rechte des Souveräns waren schon damals nicht sonderlich gut. Heute sind sie nicht einmal das.“ *5)

Schon Anfang 2014 nach der “Initiative“ des Bundestagspräsidenten Lammert (CDU), die Wahlperiode des Bundestags auf fünf Jahre auszudehnen, hatte der Staats- und Verwaltungsrechtler, Professor Dr. Christoph Degenhart, analysiert: *6)

  • „Es entbehrt nicht einer gewissen Chuzpe: Koalitionsverhandlungen und Regierungsbildung werden über Monate hinausgezögert — dann folgt die Erkenntnis, dass die Legislaturperiode an sich zu kurz sei und deshalb auf fünf Jahre verlängert werden müsse …
  • nicht zuletzt die unter erheblichem Zeitdruck erfolgte Rettungsgesetzgebung in Banken- und Eurokrise hat ebenso wie die Gesetzgebung zur Energiewende gezeigt, dass Bundesregierung und Bundestag auch komplexe Vorhaben kurzfristig zu bewältigen in der Lage sind …
  • Im Ergebnis ist eine Verlängerung künftiger Wahlperioden auf fünf Jahre also verfassungsrechtlich möglich, verfassungspolitisch aber wenig sinnvoll. Sie ließe das demokratische Prinzip des Art. 20 Abs. 2 GG nicht unberührt — der Grundsatz der Volkssouveränität, das demokratische Recht des Staatsvolks, seinen Willen in Wahlen kund zu tun, würde geschwächt.“

Der Journalist Ludwig Greven feierte 2017 die Wählerschaft Bremens. Denn in der ersten Volksabstimmung im Stadtstaat Bremen „stellten sich (die Bremer) jetzt mit knapper Mehrheit quer. *7)

  • Sie wollen sich ihr Wahl- und Kontrollrecht über den Senat und die Bürgerschaft nicht beschneiden lassen, indem sie nur noch alle fünf statt bisher alle vier Jahre über deren Zusammensetzung entscheiden dürften …
  • Das Wahlrecht ist das Königsrecht der Demokratie. Es sollte nicht ohne Not eingeschränkt werden, und sei es durch zeitliche Streckung der Amtszeit von Parlament und Regierung.
  • Das US-Repräsentantenhaus wird alle zwei Jahre komplett neu gewählt. Das ist lästig für den Präsidenten, die Regierung und die Führungen der Parteien. Aber es erhöht die Chance – oder das Risiko, je nachdem wie man es sieht – auf raschen politischen Wechsel.
  • Genau das aber ist gleichfalls ein Grundelement der Demokratie. Die freisinnigen, stolzen Bremer haben das verstanden.“

Gerade dieser Fall ist für meine äußerst negative Bewertung des Vorstoßes von Bundestagspräsidentin Bas wichtig: Die Bremer Wählerschaft wurde wenigstens vor der von den Bremer Abgeordneten wohl gewünschten Verlängerung der Legislaturperiode befragt. Und sie haben sich dagegen entschieden. Dank an Ludwig Greven, dass er die “freisinnigen, stolzen Bremer“ deshalb feierte. Frau Bas verläßt sich dagegen bei ihrem Votum allein auf das Eigeninteresse der MdBs, von denen ja auch ihre Wahl in das hohe Amt der Bundestagspräsidentin abhängt. Wie kritikwürdig dieses Vorgehen ist, beleuchtet der folgende Beitrag.

Auf das offenkundige Eigeninteresse der MdBs zielt die 2018 vorgetragene Kritik des Politikwissenschaftlers Professor Dr. Jürgen Falter, Universität Mainz: *8)

  • „Das ist reine Interessenpolitik. Die Abgeordneten sind mit vollen Diäten ein Jahr länger im Amt, verbessern ihre Pensionen und müssen sich ein Jahr lang weniger Sorgen um ihre Zukunft machen.
  • Der Bürger verliert im Gegenzug aber an Mitspracherecht. Das kommt einer Entdemokratisierung gleich.
  • Im Ergebnis, so Falter, blieben ´schlechte Regierungen ein Jahr länger im Amt, während gute Regierungen mit der jetzt gültigen Regelung früher wiedergewählt werden` könnten.“

Der Politikwissenschaftler Dr. Michael Edinger *9) hat 2017 den Vorschlag beurteilt, Volksentscheide auf Bundesebene mit der Verlängerung der Wahlperiode zu verbinden:

  • Gegen dieses Angebot einer “Kompensation“ für “weniger Demokratie“ werde von Sozialwissenschaftlern eingewendet: „Empirisch lässt sich .. zeigen, dass … die soziale Schieflage bei der Beteiligung an Referenden größer ist als bei Wahlen.“ 
  • Edinger warnt: „Zu den Gefahren der Berufspolitik gehört, dass sich das office-seeking gegenüber dem policy-seeking verselbstständigt. Es geht dann nur noch um Machtgewinn beziehungsweise Machterhalt. Wenn sich dieses Verhaltensmuster parteiübergreifend etablieren würde, entstünde eine abgeschottete, allein auf die Wahrung eigener Interessen bedachte politische Klasse.“

3. Je länger die Wahlperiode, desto sachbezogener die Arbeit des Bundestages?

Die These der Befürworter einer 5-jährigen Wahlperiode, Wahlkämpfe behinderten die Sacharbeit der MdBs, erscheint nach der bisher referierten Kritik vor allem von dem Eigeninteresse der MdBs geleitet zu sein. Diese Missachtung der Wählerschaft erscheint schon deshalb verwerflich, weil noch nie die Möglichkeiten, die Arbeit der Abgeordneten und der Regierung zu erleichtern, durch die Digitalisierung so groß waren wie heute.  

Nunmehr werden Argumente von “Insidern“ des von der Bundestagspräsidentin Bas angestrebten Prozesses der verlängerten Legislaturperiode im Bund einbezogen.

Kai Doering, stellvertretender Chefredakteur des vorwärts, Zeitung der deutschen Sozialdemokratie seit 1876, argumentierte 2015 gegen die Position des Bundestagspräsidenten Lammert (CDU), dass die ständigen Wahlkämpfe die Gestaltungsmöglichkeiten des Bundestags “faktisch erkennbar“ einschränkten: *10)

  • „Einarbeitungs- und Vorwahlkampfzeit abgerechnet hat Lammert eine Netto-Arbeitszeit des Parlaments von gerade mal zweieinhalb Jahren errechnet. Das scheint nach Handlungsbedarf zu schreien. Doch bei einem genaueren Blick zeigt sich: Es ist alles halb so schlimm.
  • Selten ziehen derart viele neue Abgeordnete in den Bundestag ein wie nach der vergangenen Wahl 2013. Die meisten arbeiten einfach weiter als kämen sie aus den Sommerferien.
  • Hinzu kommt, dass Regierungen durchaus nicht nach jeder Wahl wechseln, die Zeit der Koalitionsverhandlungen und der damit verbundene Stillstand im Parlament auch recht kurz sein können.
  • Und dass eine neue Regierung selbst nach 16 Jahren Opposition im ersten halben Jahr eine Menge auf den Weg bringen kann, hat Rot-Grün 1998 eindrucksvoll gezeigt.
  • Auch das letzte Jahr vor der nächsten Wahl muss nicht zwangsläufig dem Wahlkampf geopfert werden. Da ist es an den Politikern selbst, diszipliniert weiterzuarbeiten und das zu tun, wofür sie für vier Jahre gewählt wurden: Gesetze auszuarbeiten, sie zu debattieren und zu beschließen.“

Es sei dahingestellt, ob die SPD-Führung diese Argumente Kai Doerings von 2015 heute noch befürwortet.

Deshalb sei ein Sachverständiger der “Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit“ konsultiert. *11)

Prof. Dr. Florian Meinel, Jurist von der Universität Göttingen, hat am 19. September 2022 auch zur Verlängerung der Wahlperiode des Bundestags im Hinblick auf die Qualität politisch-sachlicher Problemlösungen Stellung genommen: *12)    

  • Prof. Meinel zufolge „erscheinen die üblicherweise für die Verlängerung der Wahlperiode vorgebrachten Argumente als wenig stichhaltig. Das … zentrale Argument lautet in der Regel, durch die längere Wahlperiode entstünde mehr Zeit für „Sacharbeit“ ohne „Wahlkampf“, d.h. für politische Vorhaben, deren Realisierung gefährdet ist, wenn Akteure Rücksicht auf elektorale Belange nehmen.
  • Dieses Ziel lässt sich schon deswegen schwer erreichen, weil sich die Wahltermine im Bund und in den Ländern nicht, jedenfalls nicht auf Dauer synchronisieren lassen, ohne im Bund und in den Ländern die parlamentarische Regierungsform abzuschaffen. Schließlich gehört die Möglichkeit der vorzeitigen Beendigung der Wahlperiode mit Neuwahlen im Falle grundsätzlicher Störungen im Verhältnis von parlamentarischer Mehrheit und Regierung zu den unverzichtbaren Merkmalen dieser Regierungsform.
  • Wie groß die Sonderrolle von Wahlkämpfen für politisches Handeln in der Demokratie unter den Bedingungen massenmedialer Dauerbeobachtung wirklich ist, ist kaum empirisch zu ermitteln. Die Annahme, Politik operiere außerhalb von Wahlkämpfen im diskursiven Modus, in Wahlkampfzeiten aber nur aus elektoralem Kalkül, gehört zwar zum Standardhaushalt der Demokratiekritik, ist aber vielleicht gar nicht richtig. Öffentlich unbeobachtete Sacharbeit ist ohnehin nie möglich, ob sie „sachlich“ ist, hängt neben dem Wahltermin unter anderem auch von wechselnden politischen Lagen und der Kommunikation des handelnden Personals ab.   
  • Testfrage: Ließe sich die Corona- und Energiepolitik im September 2022 anders diskutieren, wenn keine niedersächsische Landtagswahl ins Haus stünde? Wäre sie unsachlicher, wenn in zwei Monaten Bundestagswahl wäre?“

Für Prof. Meinel erscheint eine „Verlängerung der Wahlperiode auf fünf Jahre .. durchaus sinnvoll, würde aber sicher keine weitreichende Veränderung bedeuten.“  Ihre Sinnhaftigkeit beruht nach Prof. Meinel vor allem auf dem allerdings “unterstellte(n) ´Mehr` an Handlungsfähigkeit der politischen Organe“. *12)

Andererseits sagt Prof. Meinel selbst zu Rechnungen über den Zeitverlust, der mutmaßlich dadurch eintritt, „dass in Bundestagswahljahren die fachliche Arbeit der Ministerien für einen längeren Zeitraum aus Gründen des Wahlkampfes leidet oder gar blockiert ist“: „Doch solche Rechnungen sind mit Vorsicht zu genießen. Ihnen liegt nämlich möglicherweise eine zu schematische Vorstellung von demokratischer Öffentlichkeit zugrunde.“ *12)

Aus den Stellungnahmen der beiden “Insider“ kann gefolgert werden: Auch Sachzwänge bestimmen die Aufgaben der vom Volk gewählten MdBs. Wahlkampf hin oder her, die Abgeordneten des Bundestags haben die Pflicht, für das Land „das zu tun, wofür sie für vier Jahre gewählt wurden: Gesetze auszuarbeiten, sie zu debattieren und zu beschließen“ (Kai Döring).

4. Verlängerte Wahlperiode: “ein Mehr an politischer Entscheidungsgewalt des Wahlvolkes“ (Prof. Dr. Florian Meinel)?

Dieser Aspekt der Position Prof. Meinels wird von ihm wie folgt begründet: „Es wäre .. verfehlt, die Verlängerung (der Wahlperiode des Bundestags, rs) als eine Minderung politischer Aktivrechte zu begreifen – schließlich hätte die einzelne Wahl in zeitlicher Hinsicht größeres Gewicht. Das unterstellte „Mehr“ an Handlungsfähigkeit der politischen Organe wäre eben auch ein Mehr an politischer Entscheidungsgewalt des Wahlvolkes.“ *12)

Für Prof. Meinel würde eine „Verlängerung der Wahlperiode auf fünf Jahre … keinen Ausbau anderer Mitwirkungsrechte erfordern.“ Seine Begründung: „Die Form der demokratischen Repräsentation durch Wahlen ist die Form der Autorisierung und Kontrolle von Macht im Verfassungsstaat überhaupt. Sie ist etwas anderes als andere Formen von politischer Partizipation und lässt sich nicht mit ihnen verrechnen.“ *12)

Prof. Meinel vertritt also die Position, die auf fünf Jahre verlängerte Wahlperiode des Bundestags sei ein „Mehr an politischer Entscheidungsgewalt des Wahlvolkes“, weil „die einzelne Wahl in zeitlicher Hinsicht größeres Gewicht“ hätte.

Es ist offensichtlich, dass diese Position Prof. Meinels mit der Gegenposition “weniger wählen heißt weniger Demokratie“ nicht zu vereinbaren ist.

Noch 2014 hatten die Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags festgestellt: Eine ausführliche Abwägung von Vor- und Nachteilen einer Verlängerung der Wahlperiode enthalten die Schlussberichte der Enquete-Kommission Verfassungsreform aus dem Jahre 1976 *13) sowie der Gemeinsamen Verfassungskommission aus Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates aus dem Jahre 1993. *14) Auf diese Argumente von größeren sachverständigen Gruppen ist deshalb einzugehen.

Die Enquete-Kommission Verfassungsreform 1976 umfasste Abgeordnete des Deutschen Bundestages, Vertreter der Länder und Wissenschaftler, … „um die Empfehlungen der Kommission von einer breiten Mehrheit getragen zu wissen.“ *13, S. 3) 

Eines der Themen des Schlußberichts (292 Seiten) der Enquete-Kommission Verfassungsreform vom 09. 12. 1976 betraf den „Fragenkomplex ´Parlament und Regierung` mit den Schwerpunkten der politischen Mitwirkungsrechte der Bürger, der allgemeinen Stellung des Bundestages, der Dauer und Beendigung der Wahlperiode“. *13, S. 2)

  • Vor- und Nachteile einer Verlängerung der Wahlperiode seien von den jeweiligen Befürwortern dargelegt worden. Die Enquete-Kommission Verfassungsreform habe die vorgetragenen Argumente für die verlängerte Legislatur abgewogen, „sich jedoch diesen Argumenten im Ergebnis nicht anzuschließen vermocht. *13, S. 39)
  • Sie ist der Auffassung, daß die weitere Verminderung der effektiven politischen Einflußrechte der Bürger, die durch eine Verlängerung der Wahlperiode auf fünf Jahre eintreten würde, nicht hingenommen werden kann …
  • Es ist auch keineswegs sicher, ob die Arbeitseffizienz und Entscheidungsfähigkeit des Bundestages durch eine Verlängerung der Wahlperiode wirklich verbessert werden würde;
  • eine fünfjährige Wahlperiode kann ebenso dazu führen, die Gesetzentwürfe nicht zügig zu behandeln, sondern vor sich herzuschieben. Die Erfahrungen in den Bundesländern, die eine fünfjährige Wahlperiode bereits eingeführt haben, sind nicht dazu angetan, solche Zweifel auszuräumen.
  • Die vierjährige Wahlperiode übt insofern einen heilsamen Fristendruck auf das Parlament aus.“ *13, S. 39)

Der Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bund und Ländern 1993 (167 Seiten) konstatiert: *14 S. 94)

  • Die Dauer der Wahlperiode bestimmt sich in einem demokratischen Staat nach zwei Gesichtspunkten.
  • Einmal muß der Zeitraum so bemessen sein, daß das Parlament seiner Stellung und Funktion als zentrales Verfassungsorgan gerecht werden kann, ohne daß seine legislatorische Arbeit und seine Kontrollaufgabe gegenüber der Exekutive durch zu häufige Neuwahlen behindert wird.
  • Zum zweiten muß jedoch die Notwendigkeit einer regelmäßigen Erneuerung der demokratischen Legitimation durch einen Wahlakt der Bürger beachtet werden.
  • Unter Berücksichtigung dieser Spannungslage wird der Deutsche Bundestag gemäß Artikel 39 GG — ebenso wie die Parlamente in den meisten demokratischen Staaten des europäischen Rechtskreises — auf vier Jahre gewählt.
  • Trotz der von allen Kommissionsmitgliedern vertretenen Ansicht, daß alles getan werden müsse, um eine wirksame und kontinuierliche Arbeit des Bundestages zu garantieren, bestand keine Einigkeit darüber, ob eine Verlängerung der Wahlperiode diesem Ziel dienen würde.
  • Zwar gäbe es bei einer Verlängerung der Legislaturperiode mehr Zeit für die eigentliche Parlamentsarbeit, doch bestehe auf der anderen Seite die Gefahr, daß ohne einen u. U. ´heilsamen Zeitdruck` viele und insbesondere politisch unbequeme Gesetzesvorhaben unnötig verzögert würden.“

Über die Kombination einer verlängerten Wahlperiode für den Bundestag mit Aufnahme plebiszitärer Elemente — Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid — im Grundgesetz habe keine Einigung erzielt werden können. Die Gegner verlängerter Legislatur für den Bundestag sahen „hier ein sachlich nicht gebotenes Junktim zwischen unterschiedlichen Regelungsmaterien.“ *14 S. 95) Zu diesem Argument hatte (s.o.) schon Prof. Meinel ausgeführt: Demokratische Repräsentation und parlamentarische Kontrolle der Regierung durch Wahlen „ist etwas anderes als andere Formen von politischer Partizipation und lässt sich nicht mit ihnen verrechnen.“ *12)

Bei diesem Konflikt der Urteile über eine auf fünf Jahre verlängerte Wahlperiode für den Bundestag beließ es die Gemeinsame Verfassungskommission von Bund und Ländern. Das Thema wurde nicht weiter verfolgt.

Nach 46 Jahren sachverständiger Debatte zur verlängerten Legislaturperiode des Bundestages besteht ein offener Konflikt, zu dem das Wahlvolk nicht gehört wird. Weil seine gewählten Repräsentanten, die MdBs im Deutschen Bundestag, auf ihrem Recht beharren, über die Dauer kommender Wahlperioden zu entscheiden, und den Artikel 39 Grundgesetz zu ändern, wenn die erforderlichen Mehrheiten erreicht werden: Nach Artikel 79 des Grundgesetzes kann das Grundgesetz nur durch ein Gesetz geändert werden. “Ein solches Gesetz bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestags und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrats“ (Art. 79, (2)).

Selbst bei demokratie- und verfassungspolitisch interessierten Wählerinnen und Wählern könnte ein Verdacht aufkommen, der das Vertrauen in unser demokratisches System schwer beschädigen würde: Dass die MdBs des Bundestages es immer wieder versucht hätten, bis sie schließlich eine “Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit“ hätten bilden können, die ihren Interessen an einer verlängerten Legislaturperiode Rechnung trägt.

Abschließend ist auf diese Gefahr des Vertrauensverlustes in die Demokratie einzugehen.

5. Bundestag: Gefahr des Vertrauensverlustes in die Demokratie

Das Urteil Prof. Dr. Jürgen Falters über das Ansinnen der MdBs auf verlängerte Legislatur im Bund sei noch einmal hervorgehoben: „Das ist reine Interessenpolitik. Die Abgeordneten sind mit vollen Diäten ein Jahr länger im Amt, verbessern ihre Pensionen und müssen sich ein Jahr lang weniger Sorgen um ihre Zukunft machen. Der Bürger verliert im Gegenzug aber an Mitspracherecht. Das kommt einer Entdemokratisierung gleich.“ *8) Dieses Urteil Prof. Falters erfasst die wesentlichen Gründe für die ablehnende Haltung, die seit vielen Jahren gegen die auf fünf Jahre verlängerte Wahlperiode für den Deutschen Bundestag vorgetragen wurde.

Auch bei den Grünen hieß es noch Ende 2013: „Die Grünen sehen eine Ausdehnung der Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre skeptisch.“ *15) Jetzt sehen wir in Stellungnahmen keine Skepsis mehr, sondern die Fünf-Jahres-Legislatur im Bund als gemeinsames Projekt der Ampel-Parteien — SPD, Grüne, FDP. Und die CDU/CSU schließt sich dem Vorhaben an. Von einzelnen MdBs der Linkspartei und der AfD ist zwar ein Murren zu vernehmen, doch die Mehrheit auch dieser Parteien wird die von Prof. Dr. Falter festgestellte “Mitnahme-Mentalität“ der Bundestags-Abgeordneten offenbaren.

MdB Britta Haßelmann, heutige Ko-Vorsitzende der Bundestagsfraktion der Grünen, hatte Ende 2013 versichert: „Ja, also mein Projekt ist es nicht, alle fünf Jahre zur Bundestagswahl zu gehen. Ich glaube auch, dass es öffentlich im Moment nicht das richtige Signal ist.“ *15) Im Moment …

Sollte etwa die Fünf-Jahres-Legislatur für den Bundestag “das richtige Signal“ im Jahre 2023 sein — ausgerechnet zu einer Zeit, da vor allem Rechtsextremisten die deutsche Demokratie durch bewaffnete Gewalt herausfordern? Welches Ausmaß erreicht die Zeitvergessenheit und die verantwortungslose “Mitnahme-Mentalität“ (Prof. Falter) im Deutschen Bundestag?

Verglichen mit rechten, linken und islamistischen Extremisten erscheinen die “Klimakleber“ noch eher harmlos, obwohl sie bereits schwere Schäden und Kosten für die Bevölkerung verursachen. Es ist absehbar, wie sie die Politik verhöhnen werden: Ihr klebt doch mehr als wir — an Euren Amtssesseln!

Dies und Schlimmeres ist künftig zu erwarten, wenn sich die “Mitnahme-Mentalität“ der MdBs durchsetzt, und die Fünf-Jahres-Legislatur für den Bundestag über die Köpfe der Wählerschaft hinweg eingeführt wird.

Dann kommt die politische Enteignung der Wählerinnen und Wähler durch die von ihnen gewählten MdBs und gerade Rechtsextreme haben einen für sie willkommenen Vorwand für ihre Gewalt und populistische Hetze.

Dann kommt die Rechnung für das politische „Weihnachtsgeschenk“ der Bundestagspräsidentin Bärbel Bas.

**) RS. Hinweis zur Darstellung von Stellungnahmen durch Sachverständige. Um deren Urteilskraft angemessen zu illustrieren, wird versucht, eine Argumentationskette durch wortgetreues Zitieren und durch Spiegelpunkte für den Leser übersichtlicher wiederzugeben, auch wenn deren Autor diese Darstellungsweise nicht vornahm. Ziel dieses Blogs ist, ein möglichst breites Spektrum von sachverständigen Positionen zur Verlängerung der Wahlperiode zu erfassen.

*1) Fünf statt vier Jahre. Bundestagspräsidentin Bas spricht sich für längere Legislaturperiode aus. 22.12.2022; https://www.spiegel.de/politik/deutschland/bundestag-baerbel-bas-spricht-sich-fuer-laengere-legislaturperiode-aus-a-a0572fba-5598-4875-af9c-fb8fd6b1b45a.

*2) RS: Vergleiche dazu die ausführlich belegten Blogbeiträge (https://www.reinholdsohns.de):

  • Stoiber: Abbau der Demokratie? 22.September 2012;
  • Politische Enteignung … 28.Dezember 2013:
  • Oppermann: Weniger Demokratie! 17.Oktober 2016;
  • Demokratieabbau — nach der Wahl! 14.September 2017;
  • Politikelite vs Wähler. 15.Oktober 2017;
  • Bitte um Vertrauen? 12.Januar 2018;
  • Altmaiers Köder. 8.November 2019;
  • Zauber des Anfangs? 26.November 2021;

Diese Beiträge werden hier nur erwähnt, weil in jenen Jahren die kritische öffentliche Auseinandersetzung gegen den Versuch ausblieb, die vierjährige Wahlperiode des Bundestages (Artikel 39 Grundgesetz) zu verlängern. Ausnahmen sind gewürdigt und zitiert worden. (Die genannten Beiträge können über die Suchfunktion (Q) meiner Webseite aufgerufen werden, wenn der fett gedruckte Titel eingegeben wird, RS)

*3) Mögliche Verlängerung der Legislaturperiode. Wahltage sind Festtage. 29. Dezember 2013. Die große Koalition möchte die Wahlperiode des Bundestags von vier auf fünf Jahre verlängern. Doch weniger wählen bedeutet weniger Demokratie. Ein Kommentar von Heribert Prantl; https://www.sueddeutsche.de/politik/moegliche-verlaengerung-der-legislaturperiode-wahltage-sind-festtage-1.1852777

*4) Politikwissenschaftler gegen längere Wahlperiode. Der Bonner Politikwissenschaftler Frank Decker hat eine Verlängerung der Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre abgelehnt. Meldung der dts Nachrichtenagentur vom 23.12.2022

*5) Deutscher Bundestag. Untote Ideen. Ein Kommentar von Daniel Deckers. 23.12.2022; faz.net.

*6) Verlängerung der Wahlperiode: Bundesregierung für ein halbes Jahrzehnt? Von Prof. Dr. Christoph Degenhart. 03.01.2014; http://www.lto.de/recht/hintergruende/h/wahlperiode-fuenf-jahre-bundesregierung-lammert/. (RS: Dem Argument Prof. Degenharts, Bundesregierung und Bundestag könnten erfahrungsgemäß auch komplexe Gesetze kurzfristig bewältigen, lässt sich hinzufügen: Sogar die Deutsche Einheit gelang der Kohl-Genscher-Regierungskoalition zügig Ende 1989/90 gegen Widerstand aus der SPD (durch Oskar Lafontaine als SPD-Kanzlerkandidat) ohne Debatte über eine Verlängerung der Legislaturperiode).

*7) Legislaturperiode. Bremen gegen den Strom. Die Bremer wollen, anders als alle anderen Bundesländer, nicht nur alle fünf Jahre wählen dürfen. Gut so. Das Wahlrecht ist das höchste Gut der Demokratie. Ein Kommentar von Ludwig Greven. 25. September 2017; https://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-09/legislaturperiode-bremen-volksabstimmung-wahlrecht-demokratie

*8) “MITNAHME-MENTALITÄT“. Parteienforscher gegen 5-Jahre-Bundestag. Absage an SPD-Vorstoß: Parteienforscher Jürgen Falter lehnt 5-Jahre Legislatur für den Bundestag ab. Von: FRANZ SOLMS-LAUBACH, veröffentlicht am 07.01.2018; http://www.bild.de/politik/inland/bundestag/parteienforscher-falter-lehnt-lange-legislaturperiode-ab-54403878.bild.html.

*9) Neue Politiker braucht das Land? Attraktivität und Besetzung politischer Ämter. Michael Edinger. 31.3.2017. Aus Politik und Zeitgeschichte; http://www.bpb.de/apuz/245586/neue-politiker-braucht-das-land-attraktivitaet-und-besetzung-politischer-aemter?

*10) Pro & Contra. Bundestag: Warum vier Jahre reichen – oder eben nicht. Robert Kiesel. Kai Doering. 03. August 2015; https://www.vorwaerts.de/artikel/bundestag-vier-jahre-reichen-eben.

*11) Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit. Der Deutsche Bundestag hat am 16. März 2022 auf Antrag der Fraktionen der SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP (20/1023) die Einsetzung einer Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit beschlossen. Dies ist dem Deutschen Bundestag in § 55 des Bundeswahlgesetzes aufgegeben. Aufgabe der Kommission soll es sein, sich auf der Grundlage der Prinzipien der personalisierten Verhältniswahl mit Maßnahmen zur effektiven Verkleinerung des Bundestages in Richtung der gesetzlichen Regelgröße zu befassen und Empfehlungen zu erarbeiten, um eine gleichberechtigte Repräsentanz von Frauen und Männern im Deutschen Bundestag zu erreichen. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Modernisierung der Parlamentsarbeit. Siehe dazu: https://www.bundestag.de/ausschuesse/weitere_gremien/kommission-wahlrecht

*12) Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit. Stellungnahme Prof. Dr. Meinel. Begrenzung Amts- und Mandatszeit und Dauer der Legislaturperiode. Florian Meinel. florian.meinel@jura.uni-goettingen.de. Göttingen, den 19. September 2022; https://www.bundestag.de/resource/blob/910822/5b44226f11fa20e1269d8f23b8f1921a/K-Drs-040-Prof-Dr-Meinel-Begrenzung-Amts-u-Mandatszeit-Dauer-WP-data.pdf.

*13) Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform vom 09. 12. 1976; https://dserver.bundestag.de/btd/07/059/0705924.pdf

*14) Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages — Drucksachen 12/1590, 12/1670 — und Beschluß des Bundesrates — Drucksache 741/91 (Beschluß) — 05. 11. 93; https://dserver.bundestag.de/btd/12/060/1206000.pdf

*15) Bundestag. Haßelmann: Verlängerung der Wahlperiode „nicht das richtige Signal“. Britta Haßelmann im Gespräch mit Peter Kapern. 28.12.2013; https://www.deutschlandfunk.de/bundestag-hasselmann-verlaengerung-der-wahlperiode-nicht-100.html