Demokratieverfall durch Indifferenz

Sogar in Deutschland ist die Demokratie gefährdet, wenn die offen streitende Diskussion mit Andersdenkenden über unterschiedliche Interessen ausbleibt. Vor solcher Gleichgültigkeit hat Bundespräsident Steinmeier in seiner Weihnachtsansprache gewarnt.

Denn, so unser Staatsoberhaupt, die Demokratie „baut darauf, dass wir unsere Meinung sagen, für unsere Interessen streiten … Sprechen Sie ganz bewusst mal mit jemandem, mit dem Sie aber sonst kein Wort gewechselt hätten“. *1)

1. „Sprachlosigkeit heißt Stillstand“ (Steinmeier).

Diese Mahnung des Bundespräsidenten ermutigt Bürger, denen autoritär erzwungener Konformismus, das Verfemen unbequemer oder missliebiger Meinungen und Argumente äußerst zuwider sind.

Wir sehen dies derzeit ausgerechnet bei der SPD, der ältesten demokratischen Partei unseres Landes. Sie betreibt bekanntlich ein Parteiordnungsverfahren mit dem Ziel des Ausschlusses gegen den in hohen Landesämtern verdienten Thilo Sarrazin. Wegen seiner umstrittenen Bücher, die sich kritisch mit unkontrollierter Masseneinwanderung von Muslimen mit mutmaßlich erheblichen Bildungsdefiziten und geringer Integrationsbereitschaft auseinandersetzen.

Solches Vorgehen gegen die Meinungsfreiheit ist gerade gerade bei Parteien als Trägern politischer Macht nicht ungefährlich. Es kann die Demokratie durch vorsichtige oder gleichgültige Abstinenz vom Meinungsstreit auszehren, wenn sich Bürger von demokratischen Parteien abwenden. Politische Vorgaben der Parteispitzen können zu Konformismus („Linientreue“!) nötigen und die Gesellschaft in feindselig sich abgrenzende Sektionen spalten.

„Wir haben brennende Barrikaden in Paris erlebt, tiefe politische Gräben in den USA, Sorgen in Großbritannien vor dem Brexit, Zerreißproben für Europa in Ungarn, Italien und anderswo … (Das) passiert, wenn Gesellschaften auseinanderdriften, wenn eine Seite mit der anderen kaum noch reden kann, ohne dass die Fetzen fliegen — das sehen wir in der Welt um uns herum.“ *1)

So warnt Bundespräsident Steinmeier vor Gesellschaften, die „auseinanderdriften“, weil der Zusammenhalt in wettbewerblich streitender Debatte geschwächt und durch feindliche Abschottung ersetzt wird.

Steinmeiers Worte lassen sich verknüpfen mit der schon 2010 erhobenen Warnung des Historikers Hans-Ulrich Wehler, die Meinungsfreiheit durch Vorgaben politischer Machtträger einzuschränken. Und damit „das von offener Diskussion zehrende Gemeinwesen“ zu beschädigen. *2)

So kann die Demokratie schleichend erodieren, wenn Opportunismus und Konformismus gegenüber Machthabern belohnt, dissidente Kritik und selbst publizistische Widerstandsformen gemaßregelt werden.  Gleich, ob diese offenkundige Probleme benennen und gegen die machtpolitische „Linie“ erörtern.

„Sprachlosigkeit heißt Stillstand“: *1) Damit könnte ein Kreislauf beginnen, der schwächende Wechselwirkungen auf Demokratie und Wirtschaft auslöst. Denn Stillstand in der globalen Konkurrenz der Digital-Wirtschaft gefährdet den erarbeiteten Wohlstand, wenn Debatten darüber ausbleiben, wie Wirtschaft und Gesellschaft auf neue Anforderungen vorbereitet werden müssen.

2. Lateinamerika: Demokratieverfall durch Indifferenz? **)

Bundespräsident Steinmeier hat die ihm aus seiner Zeit als Außenminister gut bekannten Länder Lateinamerikas nicht direkt angesprochen. Auf diese wichtigen Partnerländer Deutschlands jedoch passt seine Sorge um Demokratie, „auseinanderdriftende“ Gesellschaften sowie „Sprachlosigkeit und Stillstand“ gegenüber den weltwirtschaftlichen Herausforderungen. Dies gilt ganz besonders für eine der größten Demokratien der Welt: das industrielle Schwellenland Brasilien.

Zwei angesehene Autoren, Eduardo Gudynas und Alberto Acosta, analysieren zum Fall Brasilien die Ursachen des extremen Wandels von einer langjährig links-demokratischen Regierungszeit zum Wahlsieg des gewaltbereit rechtsextremen Jair Bolsonaro bei den Präsidentschaftswahlen Ende Oktober 2018. * 3)

Die Analyse von Acosta und Gudynas weist nach, wie das demokratische Bewusstsein degenerieren kann durch Streben nach Machterhalt um jeden Preis: Mittels verlogener, programmwidriger Wahlbündnisse, klientelistischer Bedienung mit öffentlichen Mitteln, durch Bestechung machtpolitisch relevanter Wirtschaftsgruppen und der Medien. Zwangsläufig mündet solche Machtversessenheit in Korruption der staatlichen Institutionen.

Die armen Mehrheiten, die unter hoher Arbeitslosigkeit leiden, sehen schließlich in der grotesken Gleichzeitigkeit von Reichtum und skandalöser Korruption sowie auch dadurch verbreiteter Gewalt ein Versagen der politischen Parteien und damit ein Versagen der Demokratie. So wachse erneut — argumentieren Acosta und Gudynas mit Maristella Svampa — ein „bereits bestehendes sozial-faschistisches“ Umfeld, das den Wahlsieg eines Jair Bolsonaro in Brasilien erklärt. *4)

Die Bestimmungsgründe dieses weithin als schockierend empfundenen Rückschlags für die Demokratien Lateinamerikas sind nicht auf Brasilien beschränkt, wie Acosta und Gudynas anhand der Studie 2018 der „Corporación Latinobarómetro“ zeigen. *5)

Die Latinobarómetro-Studie 2018 sollten die Partnerländer Lateinamerikas eingehend zur Kenntnis nehmen. In diesem Blog-Beitrag lassen sich wesentliche Resultate der Analyse nur stark vereinfacht referieren. *5) *6)

Die Befragungen des Latinobarómetro 2018 über Einschätzungen zur  wirtschaftlichen Lage und zur Demokratie zeigen: Wenn die Menschen meinen, dass das Streben der Staatsführung nach Machterhalt gegenüber der Qualität des Regierens dominiert, dann ändert sich ihr Urteil über die Demokratie (die gemessenen Wahrnehmungs-Maßzahlen Lateinamerikas werden im folgenden vor allem durch die regionalen Durchschnittswerte der 18 Länder angegeben). *5)

  • Der Glaube der Menschen an insgesamt positiven Entwicklungsfortschritt sinkt: Zwischen 2010 und 2018 um durchschnittlich 8 Prozentpunkte auf deutlich weniger als die Hälfte in Bolivien (44 %), auf 33 % in Chile und in der Dominikanischen Republik und auf weniger als ein Drittel in den übrigen Ländern.
  • Das Urteil der Bevölkerung, in guter wirtschaftlicher Situation zu leben, nimmt ab: In 10 Ländern urteilen so nur 10 % oder noch weniger — z. B. in Kolumbien, México, Costa Rica, Brasilien und Venezuela. Gute Bewertung der wirtschaftlichen Lage finde sich in Chile mit dem Höchstwert von 26 %, gefolgt von Uruguay (21 %), Bolivien (18 %) und Ecuador (17%).
  • In 6 Ländern empfindet mehr als die Hälfte der Bevölkerung die wirtschaftliche Lage als schlecht: Venezuela (83 %), Brasilien (62 %) und Argentinien (62%), El Salvador (59 %), Nicaragua (58 %), México (54 %).
  • Verteilungsgerechtigkeit bei den Einkommen als Ergebnis von harter Arbeit sahen im regionalen Durchschnitt 2013 noch 25 %, 2018 nur noch 16 %.
  • Es wird ferner beklagt, dass sich die Korruption ausgebreitet habe: 2017 (62 %), 2018 (65 %). In 17 der 18 untersuchten Länder sehen wachsende Korruption mehr als 50 % der Bevölkerung, in 6 Ländern sogar 70 %.
  • Die Wahrnehmung von Gewalt in Familien, Gesellschaft und durch staatliche Stellen wachse: familiäre Gewalt gegen Frauen (64 %), Gewalt in den Straßen (35 %), in Schulen (2016: 37 %, 2018: 49 %), Gewalt durch den Staat (2016: 36 %, 2018: 42 %).
  • Das Vertrauen zwischen Personen fällt auf historische Tiefstände: Brasilien (4 %), Venezuela (8 %), Costa Rica (10 %). Das immerhin noch höchste inter-personale Vertrauen findet sich in: Kolumbien, Uruguay und Guatemala (20 %), Argentinien und México (18 %). Dazu verweist die Studie auf Maßstäbe anderer Länder, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Spaltungen weitgehend überwunden haben. Dort bestehe inter-personales Vertrauen bei bis zu 70 % der Bevölkerung!
  • Das Vertrauen in Institutionen der Demokratie ist durch die Wahrnehmung zunehmender Korruption beschädigt worden;
  • Vertrauen in die Rechtsprechende Gewalt: 2014 (30%), 2018 (24 %).
  • Vertrauen in die Gesetzgebende Gewalt (Parlamente): 2010 (34 %), 2018 (21 %).
  • Das Vertrauen in die Regierungen ist schwer erschüttert: Glaubten 2011 noch 36 %, dass „für das Wohl des gesamten Volkes regiert werde“, so brach dieser Glaube bis 2018 auf 17 % zusammen. Entsprechend stieg die Überzeugung, „dass für das eigene Wohl und zum Nutzen einiger weniger machtvoller Gruppen regiert werde“ zwischen 2006 und 2018 von 61 % auf 79 %.
  • Das Vertrauen in die mit der Durchführung von Wahlen beauftragten Behörden ist durch die Wahrnehmung wachsender Korruption besonders beeinträchtigt: Es fiel im regionalen Durchschnitt von 51 % in 2006 auf 28 % in 2018.
  • Das Vertrauen in die politischen Parteien sank drastisch: 2013 (24 %), 2018 (13 %).
  • Das größte Misstrauen in der Gesellschaft richtet sich inzwischen gegen die Einrichtungen der Demokratie. Trotz der Skandale um Kindesmissbrauch genießen die Kirchen im regionalen Durchschnitt bei 63 % der Menschen Vertrauen, die Streitkräfte bei 44 %, die Polizei bei 35 %.
  • Wenig überraschend hat der aktive Einsatz für Demokratie erheblich nachgelassen: Wurden 2010 61 % als aktive Anhänger der Demokratie gemessen, ging dieser Anteil kontinuierlich bis 2018 auf 48 % zurück. Dies lässt auch der bis 2018 auf 58 % gestiegene Anteil von Wahl-Verweigerern erkennen.
  • Zeigten sich in der Präferenz zwischen autoritärer oder demokratischer Staatsform 2010 nur 16 % indifferent, so wuchs dieser Anteil in 2018 auf 28 %. Wo Korruption besonders verbreitet gesehen wird, ist auch eine gleichgütige Haltung zur Frage “Demokratie oder Autoritärer Staat“ sehr hoch. Dieser Zusammenhang gilt natürlich nicht für Länder wie Venezuela, wo Diktatur und Korruption evident sind, hier wollen die Menschen Wechsel durch Demokratie.

Werden die noch bestehenden Demokratien in Lateinamerika durch Indifferenz ausgehöhlt?

3. Zusammenfassung: Versuch von Diagnose und Empfehlung.

Marta Lagos urteilt, dass die Schwächung der Demokratie in Lateinamerika vor allem dem Verhalten der wirtschaftlichen und politischen Eliten sowie der Korruption zuzurechnen ist. (*6, S. 6).

Dieser Befund ist bedrohlich für die Demokratie in Lateinamerika. Denn je verbreiteter die Korruption, desto stärker sind Repression und Gewalt gegen die aktive Zivilgesellschaft und die freie Presse. Dies belegt die deutliche Beziehung zwischen hoher Korruption im öffentlichen Sektor und der Zahl der Morde an Journalisten, wie Transparency International analysiert. *7)

Weniger die Eliten Lateinamerikas, sondern vor allem die Mittelschichten (Selbständige und Arbeitnehmer) setzen sich für die Demokratie und gegen autoritäre Regime ein — allerdings eher die beruflich Ausgebildeten als die Ungelernten, eher die etwas Wohlhabenderen als die Ärmeren, eher die Männer als die Frauen, eher die Älteren als die Jungen. (*5, S. 13 ff. und S. 17 ff.). Deshalb ist die Demokratie Lateinamerikas auch durch das mit langjährig schlechter Wirtschaftslage verbundene Schrumpfen der Mittelklasse in allen Ländern der Region gefährdet.

Es ist ermutigend, dass angesehene Intellektuelle wie Eduardo Gudynas und Alberto Acosta, die sich zur politischen Linken bekennen, in ganz eindeutiger Weise zur Verteidigung der Demokratie in Lateinamerika aufrufen. *3)

Die deutsche Entwicklungspolitik und die in ihrem Rahmen engagierten Menschen sind sicher bestrebt, den Einsatz von finanziellen Mitteln in der Politikberatung zu steigern. Sie sollten nicht zuletzt tätig werden für den Aufbau und die Stärkung funktionsfähiger, professionell organisierter politischer Parteien.

Und entschieden mitwirken, um korrupte Praktiken gerade auch von internationalen Unternehmen öffentlich zu benennen und so helfen, diese nach den Gesetzen unseres Landes hart zu bestrafen. Damit solcher Missbrauch in Wirtschaft und Politik Lateinamerikas und zu Lasten seiner hart arbeitenden Mittel- und Unterschichten wirksam bekämpft wird.

Die Warnung unseres Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier vor der Erosion demokratischer Streitkultur kann zu solcher Zusammenarbeit für Entwicklung, Demokratie und sozialen Ausgleich motivieren. Zumal unser Staatsoberhaupt die Partnerländer Lateinamerikas gut kennt und ihnen nahesteht.

Demokratieverfall durch Indifferenz: Werden Bundespräsident Steinmeiers Weihnachtsansprache und die politischen Befunde Lateinamerikas die Debatte über Demokratie im kommenden Jahr prägen?

**) Nachtrag 05.01.2019: Ermutigend beim Blick auf Lateinamerika ist, dass The Economist für 2018 in zwei Ländern politischen Fortschritt hervorhebt: „Whereas Brazil and Mexico are plunging into populism, Ecuador and Peru are strengthening institutions, such as the judiciary, that can curb a headstrong leader.“ (The Economist. December 22nd 2018. Country of the year. Ovation nation, page 14.)

*1) Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Weihnachtsansprache 2018. Schloss Bellevue, 25. Dezember 2018;

http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2018/12/181225-Weihnachtsansprache-2018.html.

*2) Sarrazin-Debatte. Ein Buch trifft ins Schwarze. Anstatt über Sarrazins Thesen zu diskutieren, erteilt die regierende Klasse dem Autor ein politisches Berufsverbot. Von Hans-Ulrich Wehler. 7. Oktober 2010. Quelle: DIE ZEIT, 07.10.2010 Nr. 41; https://www.zeit.de/2010/41/Wehler-Sarrazin.

*3) Eduardo Gudynas y Alberto Acosta. La extrema derecha en Brasil: aprendiendo y desaprendiendo desde la izquierda.

http://democraciasur.com/2018/12/19/extrema-derecha-en-brasil-aprendiendo-y-desaprendiendo-desde-la-izquierda/ .

E. Gudynas ist Wissenschaftler des Centro Latino Americano de Ecología Social in Uruguay.
A. Acosta ist Universitätsprofessor und war Präsident der Verfassunggebenden Versammlung Ecuadors sowie Präsidentschaftskandidat der „Unidad Plurinacional de las Izquierdas“.

Hinweis RS: Von Oktober 2002, beginnend mit der mit der Präsidentschaft von Lula da Silva, bis hin zur Amtsenthebung der Präsidentin Dilma Rousseff am 31.08.2016 regierten Politiker des Partido dos Trabalhadores (PT; Arbeiterpartei) das Land. Beide, Lula und Rousseff, gewannen jeweils die maximal für zwei Wahlperioden erlaubte Wahl für das Amt des Staatspräsidenten.

*4) Acosta und Gudynas zitieren die argentinische Soziologin Maristella Svampa: „que el triunfo de Bolsonaro se ´nutre de un fascismo social preexistente`“. RS: Diese Diagnose ist vermutlich nicht auf Brasilien beschränkt und schreit förmlich nach umfassender politischer Bildungsarbeit für Demokratie.

*5) Corporación Latinobarómetro. Informe Latinobarómetro 2018. 09 Nov. 2018; http://www.latinobarometro.org/lat.jsp.

Seit über 20 Jahren widmet sich die gemeinnützige NGO mit Sitz in Santiago de Chile in Lateinamerika der Feldforschung mit Umfragen. 2018 wurden zwischen Juli und August über 20 Tsd. in 18 Ländern Lateinamerikas repräsentativ ausgewählte Interviews durchgeführt. Die Untersuchung und Analyse von 2018 wurde gefördert von: BID (Banco Interamericano de Desarrollo), INTAL (Instituto de Integración de América Latina), CAF (Banco de Desarrollo de América Latina) und den Regierungen des Königreichs Norwegen, sowie von Mexiko und Brasilien.

*6) Vgl. auch die politisch interpretierende Analyse des Informe Latinobarómetro 2018 durch die Direktorin der Corporación Latinobarómetro, Marta Lagos, einer Ökonomin, die ihr Studium an der Universität Heidelberg abschloss: EL FIN DE LA TERCERA OLA DE DEMOCRACIAS. 30.10.2018; www.latinobarometro.org/latdocs/Annus_Horribilis.pdf.

*7) SURVEYS. 21 FEBRUARY 2018. DIGGING DEEPER INTO CORRUPTION, VIOLENCE AGAINST JOURNALISTS AND ACTIVE CIVIL SOCIETY. Research analysis by Coralie Pring, Jon Vrushi and Roberto Kukutschka;

https://www.transparency.org/news/feature digging_deeper_into_corruption_violence_against_journalists.