Demokratieverfall durch Indifferenz

Der ehemalige Münchner SPD-Oberbürgermeister Christian Ude urteilt über den Ausschluss aus der SPD, den der Parteivorstand gegen Thilo Sarrazin einleitet: „Das Risiko ist sehr hoch, der Gewinn nahezu Null.“ *1)

Ude könne zwar angesichts der islamkritischen Bücher Sarrazins „grundsätzlich nachvollziehen“, dass der SPD-Vorstand mit parteirechtlichen Mitteln den Ausschluss von Sarrazin betreibe: „Ich halte die Bücher für unerträglich“.

Nachdem allerdings bereits zweimal derartige Versuche scheiterten, wäre ein dritter Fehlschlag „für die SPD-Spitze ein kraftvolles Eigentor“ (Ude). Deshalb bewertet Ude das Ausschlussverfahren als „nicht wirklich weise“.

1. Klugheit oder Grundsatztreue im Fall Sarrazin?

Für die SPD-Spitze schien diese Frage beantwortet: Die SPD-Mitgliedschaft Sarrazins sei unvereinbar mit den Grundsätzen der Sozialdemokratie. *2)

Durch sein neues Buch „Feindliche Übernahme: Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht“ würde Sarrazin:

1. Menschen pauschal diffamieren.

2. Massive Ängste schüren.

3. Der Partei dadurch schweren Schaden zufügen.

Das SPD-Präsidium forderte ihn deshalb zum Austritt auf. Ferner berief die Parteispitze eine unabhängige Untersuchungskommission, die Sarrazins Buch und sein sonstiges Handeln prüfen und eine Empfehlung für das weitere Vorgehen abgeben sollte.

Zu diesem Vorgang wüssten nicht nur Sozialdemokraten gern Genaueres. Jedoch gilt bis zum Abschluss des Verfahrens nach der SPD-Satzung die „Verschwiegenheitspflicht“ *3).

Da mögen Stellungnahmen aus den SPD-Spitzen, den Medien oder der Blick in die SPD-Satzung (Organisationsstatut) weiter helfen.

So heißt es im Organisationsstatut der SPD *3):

  • Die SPD ist eine demokratische Volkspartei. Sie vereinigt Menschen verschiedener Glaubens- und Denkrichtungen, die sich zu Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, zur gesellschaftlichen Gleichheit von Mann und Frau und zur Bewahrung der natürlichen Umwelt bekennen. (Präambel).
  • Jedes Mitglied hat das Recht, sich im Rahmen der Statuten an der politischen Willensbildung, den Wahlen und Abstimmungen zu beteiligen, und die Pflicht, die Ziele der Sozialdemokratischen Partei zu unterstützen. (§ 5.(1) Rechte und Pflichten aus der Mitgliedschaft).
  • Gegen die Grundsätze der SPD verstößt insbesondere, wer das Gebot der innerparteilichen Solidarität außer Acht lässt oder sich einer ehrlosen Handlung schuldig macht. Gegen die Ordnung der Partei verstößt insbesondere, wer beharrlich Beschlüssen des Parteitages oder der Parteiorganisation zuwider handelt.
  • Auf Ausschluss kann nur erkannt werden, wenn das Mitglied vorsätzlich gegen die Statuten oder erheblich gegen die Grundsätze oder die Ordnung der Partei verstoßen hat und dadurch schwerer Schaden für die Partei entstanden ist. (§ 35 Parteiordnungsverfahren).

Es geht also im Fall Sarrazin um die Maßstäbe der organisationspolitischen Entscheidung, ihn aus der SPD auszuschließen. Das aufwändige Verfahren obliegt einer Schiedskommission (§34), die für das Parteiordnungsverfahren (§ 35) zuständig ist.

Abzuwägen ist zwischen dem Verfassungsgebot von Meinungsfreiheit und innerparteilicher Demokratie einerseits, und, andererseits, deren Grenzen in einer politischen Partei mit dem Recht, ihre politischen Werte und Ziele im Rahmen unserer Verfassung zu definieren. Damit die Partei ihren Verfassungsauftrag erfüllen kann, im Wettbewerb mit anderen Parteien bei „der politischen Willensbildung des Volkes“ (Artikel 21 Grundgesetz) mitzuwirken.

Im folgenden soll versucht werden, aus Stellungnahmen oder dem Verhalten beteiligter Parteiakteure und aus Kommentaren von Fachleuten, über das „Risiko/Nutzen“-Urteil von Christian Ude *1) hinaus, zu einem Ergebnis zu kommen, wie mit dem Autor Thilo Sarrazin und seinen Beiträgen umgegangen werden sollte. *1)

2. SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil gegen Sarrazin.

„Menschen, die in die SPD eintreten, bekennen sich damit zu unseren Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Dieses Bekenntnis ist die Grundlage für unsere gemeinsame politische Arbeit. Menschen wie Sarrazin, die sich von den Grundwerten der SPD verabschiedet haben und trotzdem Mitglied bleiben, … (sollten) sich eine andere politische Heimat suchen.“ *4)

Eine unabhängige „Untersuchungskommission“ renommierter Experten, öffentlich benannt wurden nur Gesine Schwan und Herta Däubler-Gmelin, bekam den Auftrag, Sarrazins Buch „Feindliche Übernahme: Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht“ und sein sonstiges Handeln „sorgfältig anzuschauen. Am Ende wird eine Empfehlung stehen, welche Konsequenzen die SPD ziehen sollte.“ *4)

Das Resultat liegt nun vor. Die Untersuchungskommission „kommt zu dem Ergebnis, dass die Thesen Sarrazins nicht mit den Grundsätzen der SPD vereinbar sind und er der Partei einen schweren Schaden zufügt. Unser Ziel ist es, Thilo Sarrazin aus der SPD auszuschließen. Das hat der SPD-Parteivorstand einstimmig beschlossen.“ So begründete Generalsekretär Lars Klingbeil das erneute Ausschlussverfahren. *5)

Ein Jurist, der sich im Parteienrecht auskennt, hat diesen Sachstand kommentiert: „Thilo Sarrazin wird ein Verstoß gegen die Grundsätze seiner Partei, der SPD, vorgeworfen. Grundsätze sind häufig nicht ausdrücklich formuliert, sondern müssen durch Auslegung des programmatischen Materials der Partei ermittelt werden. Hier zeigt sich, dass die SPD-Spitze die Untersuchungskommission in der causa Sarrazin gut besetzt hat, denn wer könnte eine größere Kennerschaft in den Glaubenssätzen der Partei für sich reklamieren als die Chefin der Grundwertekommission Gesine Schwan? Und Herta Däubler-Gmelin ist in diffizilen Fragen der Auslegung gewiss beschlagen und überzeugend.“ *6)

Daher mögen Politikbeobachter diesen fast ehrfürchtig vom Gesetz zu „den beiden grandes dames“ *6) der SPD abgeschweiften Juristen-Kommentar zum Anlass nehmen, beide Sozialdemokratinnen in Bezug auf ihre Glaubwürdigkeit als Protagonistinnen des Parteiordnungsverfahrens gegen Sarrazin zu beurteilen.

3. Gesine Schwan und Herta Däubler-Gmelin gegen Sarrazin.

Den gegen Sarrazin konkret vorgebrachten drei Vorwürfen — „pauschal und explizit Menschen diffamiert“, „massiv Ängste geschürt“, “der SPD schwer geschadet“ — sei nun nachgegangen. Diese Vorwürfe waren öffentlich erhoben worden, wie gesagt, vom SPD-Präsidium und bei den Interviews, zu denen SPD-Generalsekretär Klingbeil Journalisten des Parteiorgans „Vorwärts“ lud. *2) *4)

Sehen wir uns die „Kennerschaft in den Glaubenssätzen“ (Roßner) der SPD näher an, die Gesine Schwan und Herta Däubler-Gmelin attestiert wird. *6) Nehmen wir dabei Bezug auf die bisher einzigen konkret benannten Vorwürfe des SPD-Präsidiums und des Klingbeil-Interviews.

3.1. „Pauschal und explizit Menschen diffamiert“.

Nicht wenige Sozialdemokraten, die sich für die transatlantischen Beziehungen engagieren, erinnern die Kennerschaft von Herta Däubler-Gmelin, wenn es um Diffamierung von Menschen geht.

Das „Schwäbische Tagblatt“ hatte 2002 berichtet, Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin habe im Gespräch mit Gewerkschaftlern in Tübingen die Irak-Politik von US-Präsident George W. Bush mit Methoden der Nazis verglichen. Dies bestritt Däubler-Gmelin.

Der Chefredakteur des „Schwäbischen Tagblatts“, Christoph Müller, hat deshalb Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) vorgeworfen, sie sei eine Lügnerin. „Ich habe noch nie einen Menschen so lügen sehen wie Herta Däubler-Gmelin“, sagte er der „Welt am Sonntag“. Er fügte hinzu, er sehe einer juristischen Auseinandersetzung gelassen entgegen: „Wir sind bereit zur Eidesstattlichen Versicherung, denn unsere Berichterstattung ist korrekt.“ *7)

So mag jeder seine Schlüsse selbst ziehen, was die Glaubwürdigkeit von Däubler-Gmelin im SPD-Verfahren gegen Sarrazin zum Thema „Diffamierung von Menschen“ angeht.

Und der nachhaltige Schaden für die deutsch-amerikanischen Beziehungen, den Däubler-Gmelins Äußerungen angerichtet haben, dürfte bei weitem alles übersteigen, was Sarrazin vorgeworfen werden könnte. Sicher war der Schaden für die SPD geringer als der für unser Land und seine existenziell wichtige transatlantische Allianz. Aber heißt es nicht bei SPD-Spitzen: Erst das Land, dann die Partei?

Hans-Ulrich Klose, ehemaliger Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, urteilte damals: „Am schlimmsten — aus amerikanischer Sicht — war die Bush/Hitler-Episode der ehemaligen Justizministerin, die deswegen nicht sofort entlassen wurde, sondern bis zum Ende der Wahlperiode weiter amtierte und danach Vorsitzende eines Bundestagsausschusses wurde. Niemand in den USA — auch nicht die Kritiker des Präsidenten — versteht das.“ *8)

Wer kann ausschließen, dass der Bush/Hitler-Vergleich der ehemaligen Justizministerin Däubler-Gmelin noch bis in die heutige Zeit hinein schadend nachwirkt? Und gerade Präsident Trumps bekannte Abneigung gegen Deutschland, teilweise zumindest, erklären mag.

3.2. „Massiv Ängste geschürt“.

Dieser öffentliche Vorwurf gegen Sarrazin seitens des SPD-Präsidiums und aus Generalsekretär Klingbeils Interview lädt zum Blick ein auf die vom Parteirechts-Experten Sebastian Roßner gerühmte Kennerschaft der Chefin der Grundwertekommission, Gesine Schwan.

In der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009, der schwersten Krise seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland, fühlte sich Gesine Schwan berufen, vor sozialen Unruhen in Deutschland zu warnen: „Ich kann mir vorstellen, dass in zwei bis drei Monaten die Wut der Menschen deutlich wachsen könnte“, beharrte sie trotz verbreiteter Kritik. *9)

So entpuppte sich Gesine Schwan als Expertin im „massiv Ängste schüren“. In jener Zeit höchster Gefahr einer weltwirtschaftlichen Kernschmelze hatte Schwan nicht nur weit höheren Rang, sondern auch viel gefährlichere Wirkung als heute der umstrittene Autor Sarrazin. Denn Gesine Schwan war SPD-Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten, als sie behauptete, die Wirtschafts- und Finanzkrise könnte zu sozialen Unruhen in Deutschland führen.

Die Spitzenpolitiker Deutschlands mussten in der damals ökonomisch höchst bedrohlichen Lage zusammenstehen und gegen die Behauptungen Schwans vorgehen. Damit schwerster Schaden nicht nur für die SPD, sondern weit über Deutschland hinaus abgewendet wurde. *9)

Hat Gesine Schwans Gerede von sozialen Unruhen zu dem katastrophalen Absturz von fast 35 % (2005) auf 23 % für die SPD bei der Bundestagswahl im Herbst 2009 unter Kanzlerkandidat Steinmeier erheblich beigetragen? Dann wäre unermesslicher Schaden für die SPD zu konstatieren — mitverursacht durch Gesine Schwan.

  • Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) haben sich umgehend von Schwans Äußerungen distanziert.
  • Die Bundeskanzlerin: „Es ist völlig unverantwortlich, jetzt Panik zu machen und Ängste zu schüren.“
  • Steinmeier, seinerzeit SPD-Kanzlerkandidat, wandte sich gegen Schwan: „Ich glaube, die sozialen Unruhen sollen wir nicht herbeireden“.
  • Auch der damalige Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Peter Struck, kritisierte Gesine Schwan: Es sei „nicht gut, wenn wir davon reden, dass hier Unruhen ausbrechen könnten wie in Frankreich oder anderswo. Das untergräbt die Bemühungen der Bundesregierung, die ja gerade alles tut, um die tiefe Krise für die Menschen abzumildern.“

Ausschluss Sarrazins: Hohes Risiko, geringer Nutzen (Ude) … Wenn die beiden Protagonistinnen des Ausschlusses von Sarrazin aus der SPD, Gesine Schwan und Herta Däubler-Gmelin, solche Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit wecken können, wird das von Christian Ude beschworene Risiko für das Ansehen der SPD im Ausschluss-Verfahren gegen Sarrazin offensichtlich.

4. Kevin Kühnert gegen Sarrazin.

Vor allem, wenn die unbestreitbaren Verdienste Sarrazins in wichtigen politischen Ämtern — insbesondere als Staatssekretär im Ministerium für Finanzen in Rheinland-Pfalz und als Finanzsenator im Berliner Senat — öffentlich so dreist herabgesetzt werden wie vom Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert.

Das wichtigste Buch in Sarrazins Karriere sei „keines seiner islamfeindlichen Pamphlete“ gewesen — „das wichtigste Buch war immer das Parteibuch der SPD. Ohne dieses wäre er immer nur ein Hetzer unter vielen gewesen.“ Es werde nun Zeit, Sarrazin “dieses Privileg zu entziehen. Mit den Werten der SPD hat er schon lange nichts mehr am Hut.“ *2)

Welches Urteilsvermögen zeigt Kühnert damit gegenüber den „Werten der SPD“? Welch` verheerendes Erscheinungsbild für die SPD und ihre Werte zeichnet Kühnerts Wort über das „SPD-Parteibuch als Privileg“ — wohl für lukrative Posten, wie Kühnert beleidigend gegen Sarrazin unterstellt. Obwohl Thilo Sarrazin SPD-Mitglied ist, pfeift der Herr Kühnert auf den Wert der “Solidarität“, verleumdet und verfemt Herrn Sarrazin … So geht es zu in der Partei der Solidarität.

Dazu fällt nur, wieder einmal, der Satiriker ein: „Wer Parteifreunde wie Kevin Kühnert hat, braucht keine Wähler mehr: Die Zukunft der Partei soll ein kindischer Netztroll sein, der seinen Mob auf Abweichler hetzt.“ *10)

5. Der Jurist und Journalist Heribert Prantl zu Sarrazin.

Prantl hat sich gewiss nach sorgfältiger Abwägung sein Urteil gebildet: „Der Mann ist, das ist die Quintessenz seiner Äußerungen und Publikationen, ein islamophober Rassist. Das widerspricht der Programmatik der SPD grundlegend und grundsätzlich.“ *11)

Gewiss kann nur ein herausragender Intellektueller wie Prantl in kurzer Zeit die Quintessenz von Büchern in zwei Worte fassen: „islamophober Rassist“ im Fall des Autors Sarrazin. Und nur ein herausragender Jurist wie Prantl ist fähig, aus äußerst allgemeinen Werten und Grundsätzen auf die Unvereinbarkeit der SPD-Mitgliedschaft Sarrazins im tagespolitischen Streit um eine nicht genehme Buchpublikation zu schließen: „islamophober Rassist“.

Endete das Parteiordnungsverfahren der SPD gegen Sarrazin mit dem Resultat „islamophober Rassist“, würde Thilo Sarrazin die Mitgliedschaft in der SPD verlieren.

6. Versuch einer abschließenden Position.

Prantls Urteil über Sarrazins Publikationen kann nicht nur mit anderen fachlichen Stellungnahmen dazu konfrontiert werden. Auch grundsätzliche Maßgaben zur politischen Debatte durch bedeutende Wissenschaftler oder Politiker mögen Antworten zum Fall Sarrazin erlauben. Es sei versucht, über diesen Weg ein vorläufiges Ergebnis zu erreichen.

Fachleute auf dem Gebiet des Parteienrechts drücken sich zum Fall Sarrazin wesentlich vorsichtiger aus als der von seiner juristischen Urteilskraft offenbar überzeugte Prantl.

  • „Wenn die SPD belegen kann, dass er gegen die Ordnung der Partei verstoßen hat, ist ein Ausschluss nicht ganz abwegig … Er hat nicht nur ein neues Buch geschrieben. Sondern mit dem Aufstieg der AfD sind seine Thesen anschlussfähig geworden.“ Kann diese Auffassung von Heike Merten, Geschäftsführerin des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, einen Schaden durch Sarrazin für die SPD im Parteien-Wettbewerb mit der AfD belegen? Könnte dies für Sozialdemokraten eine kritische öffentliche Haltung zu massenhaft muslimischer Einwanderung einschränken? *12)
  • „Je prominenter ein Mitglied ist und je mehr eine Äußerung auf öffentliche Wirkung zielt, desto sorgfältiger muss sich der jeweilige Akteur verhalten. Falls Thilo Sarrazin gegen die Grundsätze der Partei verstoßen hat, dürfte der Verstoß, an diesen Maßstäben gemessen, auch erheblich sein. Denn ein Mitglied darf zwar durchaus versuchen, die Grundsätze der Partei zu ändern. Dies muss aber innerhalb des innerparteilichen Prozesses der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung oder jedenfalls mit engem Bezug auf diese Prozesse geschehen.“ *6) Sebastian Roßner vermutet, dass Sarrazins Buch „diesen Rahmen“ sprengen könnte.

Der Sozialdemokrat Heinz Buschkowsky hat als langjähriger Bürgermeister in Berlin-Neukölln praktische Erfahrung mit Parallelgesellschaften und den Schwierigkeiten der Integration muslimischer Einwanderer gesammelt. Buschkowsky hat das neue Buch „Feindliche Übernahme“ Sarrazins öffentlich vorgestellt. *12) Neben einigen kritischen Anmerkungen, vor allem zu Sarrazins Langfristprognosen zum muslimischen Bevölkerungsanteil in Deutschland, scheint er wesentliche Befunde von Sarrazin zu teilen. Insbesondere zur mangelnden Bereitschaft junger muslimischer Männer und Frauen, sich an das gleichberechtigt bildungs- und arbeitsorientierte westliche Lebensmodell anzupassen. Zu diesen Problemen der Integration von muslimischen Migranten scheint Buschkowsky Sarrazins Aussagen noch als eher zurückhaltend zu werten. Das hat Buschkowsky bereits Forderungen eingetragen, auch ihn aus der SPD auszuschließen.

Der große Historiker Hans-Ulrich Wehler hat Sarrazins erstes islamkritisches Buch „Deutschland schafft sich ab“ kommentiert. *13) Damit hat Professor Wehler bleibende Maßstäbe für eine öffentliche freiheitliche Streitkultur gesetzt. Hier sind wörtlich einige seiner Kernsätze zu Sarrazins Buch zusammengestellt:

  • Die voreilig geäußerte vernichtende Kritik sollte offenbar bereits im Vorfeld dieser Anstrengung schon so vehement intervenieren, dass im Grunde jede ruhige Diskussion abgewürgt wurde. Das war im Kern eine von politischen Machtträgern derart massiv vorgetragene Attacke gegen die Meinungsfreiheit und das von offener Diskussion zehrende Gemeinwesen, wie sie die Bundesrepublik in den vergangenen Jahrzehnten noch nicht erlebt hat. Insofern handelt es sich bei dieser Debatte in der Tat auch um die Grenzen von Freiheitsrechten.
  • Zweifellos finden sich in Sarrazins Buch nicht gerade wenige strittige Thesen oder steile Interpretationsversuche, die Widerspruch und Auseinandersetzung verlangen — und nach der Auffassung des Autors hier auch auslösen sollen.
  • Auch hier gilt, dass nicht wenige Argumente hieb- und stichfest formuliert und die statistischen Befunde schwer zu widerlegen sind.
  • Jahrzehntelang hat die deutsche Einwanderungspolitik nicht auf Qualifikation, Sprachkenntnisse, Integrationswilligkeit geachtet, ganz im Gegensatz zu klassischen Einwanderungsländern wie den Vereinigten Staaten, Kanada, Australien. Millionen wurden ohne Abwägung der sozialen Kosten gemäß der Maxime „Privatisierung der Gewinne“ importiert.
  • Jetzt steht unabweisbar die „Sozialisierung der Verluste“ an, die nur in Milliardenhöhe kalkuliert werden können. Anstatt die Zuwanderungsprobleme endlich ohne Scheu zu diskutieren, verstecken sich bisher die meisten Kritiker hinter der hohen Mauer ihrer Einwände gegen Sarrazins Rückgriff auf die Erbbiologie.
  • Die Diskussion über Sarrazins Buch muss endlich in einem anderen Stil geführt werden: pointiert zwar in der Kritik, aber auch offen für die Erörterung bisher verdrängter Probleme — nicht zuletzt deshalb, um der Massenresonanz nicht weiter so ratlos gegenüberzustehen (als ob neu entflammter Fremdenhass dafür eine Universalerklärung abgäbe).
  • Nach der realitätsverweigernden Fehlsteuerung der ersten Phase der Sarrazin-Diskussion verdient es die zweite Phase, dass in freier Meinungsäußerung möglichst alle angeschnittenen Probleme mit pragmatischer Liberalität und frischer Aufgeschlossenheit erörtert werden.

Eine Bestätigung der Maßstäbe Wehlers lässt sich aus einer Mahnung des bedeutenden Theologen, Bischof Wolfgang Huber, herleiten. Auch hier werden Professor Hubers Hinweise wörtlich ausgewählt:

  • Es gäbe auch den einen oder anderen generellen Vorbehalt gegen den Islam. Dazu sage ich immer wieder, dass man besorgniserregende Entwicklungen im Islam beim Namen nennen muss; aber man muss zwischen Islam und Islamismus unterscheiden. *14)
  • Aber das größere Problem liegt darin, dass der Islam sich historisch wandelt, ohne zu diesen historischen Veränderungen ein geklärtes Verhältnis zu haben, weil er weithin eine ahistorische Rezeption und Interpretation des Korans normativ voraussetzt.
  • Eine solche Reflexion des historischen Wandels innerhalb der eigenen Religion wäre aber gerade heute notwendig, weil die Islamisierung des Islam — für die die iranische Revolution Ende der Siebzigerjahre das dramatische Fanal war — auch einer innerislamischen Kritik ausgesetzt werden muss. Kritische Anfragen können nicht nur von außen kommen. *15)

Damit kann ein vorläufiges Ergebnis dieses Überblicks über die Sarrazin-Debatte erreicht werden:

  • Wenn Thilo Sarrazin, wie bisher gelegentlich, nunmehr eindeutig klarstellt,
  • dass er Muslime weder beleidigen noch diskriminieren will,
  • dass er sehr wohl „zwischen Islam und Islamismus unterscheidet“ (Wolfgang Huber),
  • dann sollten die in seinen Büchern analysierten „Probleme mit pragmatischer Liberalität und frischer Aufgeschlossenheit erörtert werden.“ (Hans-Ulrich Wehler).

Ganz im Sinne des Mottos von Willy Brandt: „Im Zweifel für die Freiheit!“ *16)

*1) SPD. Ausschluss Sarrazins: Hohes Risiko, geringer Nutzen. In der SPD gibt es Zweifel am Sarrazin-Ausschluss. Zwei Ordnungsverfahren hat der Berliner Ex-Finanzsenator bereits unbeschadet überstanden. PAUL STARZMANN. HANS MONATH. 18.12.2018; https://www.tagesspiegel.de/politik/spd-ausschluss-sarrazins-hohes-risiko-geringer-nutzen/23775358.html.

*2) SPD versucht sich erneut an Parteiausschluss von Thilo Sarrazin. 17. Dezember 2018; https://www.arte.tv/de/afp/neuigkeiten/spd-versucht-sich-erneut-parteiausschluss-von-thilo-sarrazin.

*3) SPD Satzung. §17.1 Verschwiegenheitspflicht. Bis zum endgültigen Abschluss des Verfahrens haben sich die Mitglieder der Schiedskommission, alle Beteiligten und Beistände sowie alle anderen in der mündlichen Verhandlung Anwesenden jeder Äußerung zur Sache außerhalb des Verfahrens zu enthalten. Siehe: https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Parteiorganisation/SPD_OrgaStatut_2018.pdf.

*4) Möglicher Parteiausschluss. Klingbeil: SPD lässt Sarrazin-Buch überprüfen. Karin Nink. Kai Doering. 31. August 2018;

https://www.vorwaerts.de/artikel/klingbeil-spd-laesst-sarrazin-buch-ueberpruefen.

*5) Parteiausschluss. Der dritte Anlauf: SPD will Sarrazin ausschließen. Jonas Jordan. 17. Dezember 2018; https://www.vorwaerts.de/artikel/dritte-anlauf-spd-will-sarrazin-ausschliessen.

*6) Neues SPD-Verfahren gegen Thilo Sarrazin: Der Par­tei­aus­schluss rückt näher. Gastbeitrag von Dr. Sebastian Roßner. 19.12.2018;

https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/spd-partei-ausschluss-sarrazin-erfolgschancen/.

*7) AFFÄRE UM BUSH-HITLER-VERGLEICH. Chefredakteur: Däubler-Gmelin lügt. Das „Schwäbische Tagblatt“ bleibt dabei: Däubler-Gemlin habe Bush mit Hitler verglichen. Die Beteuerungen der Ministerin seinen gelogen. 20.09.2002 – 20:49 Uhr; https://www.handelsblatt.com/archiv/affaere-um-bush-hitler-vergleich-chefredakteur-daeubler-gmelin-luegt/2198408.html?

*8) „Das Verhältnis ist kaputt“. Von Hans-Ulrich Klose. 11. Mai 2003; http://www.welt.de/print-wams/article 143672/Das_Verhältnis_ist_kaputt.html.

*9) KRITIK AN GESINE SCHWAN. „Unverantwortlich, jetzt Panik zu machen“. VON GÜNTER BANNAS, BERLIN. AKTUALISIERT. AM 25.04.2009-08:35 Uhr; https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/kritik-an-gesine-schwan-unverantwortlich-jetzt-panik-zu-machen-1791911/.

*10) BUSCHKOWSKY UND SARRAZIN. Die tödliche Kevin-Dosis für die SPD. Von Don Alphonso. 31.08.2018; welt.de.

*11) Fall Sarrazin. Die Inquisition der SPD. Früher hat die SPD zu schnell ausgeschlossen. Heute ist sie zu langsam. Bei Thilo Sarrazin unternimmt sie jetzt schon den dritten Anlauf. Kommentar von Heribert Prantl. 17. Dezember 2018;

https://www.sueddeutsche.de/politik/sarrazin-spd-parteiausschluss-1.4257414.

*12) Buchschau unter Polizeischutz. Sarrazin — der Unverstandene.

Von Judith Görs. DONNERSTAG, 30. AUGUST 2018; https://www.n-tv.de/politik/Sarrazin-der-Unverstandene-article20599837.html.

*13) Sarrazin-Debatte. Ein Buch trifft ins Schwarze. Anstatt über Sarrazins Thesen zu diskutieren, erteilt die regierende Klasse dem Autor ein politisches Berufsverbot. Von Hans-Ulrich Wehler. 7. Oktober 2010. Quelle: DIE ZEIT, 07.10.2010 Nr. 41; https://www.zeit.de/2010/41/Wehler-Sarrazin.

*14) Neue PNN-Serie „Glaube in Potsdam“. „Potsdam kann ein gutes Beispiel geben“. „Jeder soll nach seiner Fasson selig werden“, sagte einst der Alte Fritz. Doch was bedeutet Glaube heute für die Potsdamer? Alt-Bischof Wolfgang Huber spricht zum Serienstart „Glaube in Potsdam“ über den Bau einer Moschee, Toleranz und den religionsübergreifenden Nutzen der Garnisonkirche. KATHARINA WIECHERS PEER STRAUBE. 23.03.2017; https://www.pnn.de/potsdam/neue-pnn-serie-glaube-in-potsdam-potsdam-kann-ein-gutes-beispiel-geben/21325874.html.

*15) Themenheft online 2014: „Freiheit – Vielfalt – Europa“. Am Ende des Abends Empathie. Gespräch mit Wolfgang Huber über die geistige Gestalt Europas und die Annäherung der Religionen über Einübung in Empathie. Quelle: Zeitzeichen, Juni 2013; Wiederveröffentlichung hier mit freundlicher Genehmigung. Das Gespräch führten Stephan Kosch und Helmut Kremers am 23.4.2013 in Berlin; https://www.deutscher-koordinierungsrat.de/dkr-media-themenheft-2014-Am-Ende-des-Abends-Empathie.

*16) Abschiedsrede des Parteivorsitzenden Willy Brandt beim außerordentlichen Parteitag der SPD in der Bonner Beethovenhalle am 14. Juni 1987; https://www.willybrandt.de/fileadmin/brandt/Downloads Abschiedsrede_Willy_Brandt_Parteitag_1987.pdf.