Denkmalschutz …

ist eine noble Aufgabe, um Naturdenkmäler, bauliche oder kulturelle Leistungen unserer Vorfahren zu bewahren.

Für Menschen, Künstler, Wissenschaftler und erst Recht Politiker, sollte es in einer Demokratie keinen Denkmalschutz geben.

Hier sind historische Leistungen oder Fehlleistungen von Fachwissenschaftlern zu analysieren und zu bewerten. Journalisten, Zeitgenossen und Weggefährten setzen sich ohnehin intensiv mit den großen Persönlichkeiten unserer Zeit auseinander.

In diesem Sommerloch hat es nun Willy Brandt getroffen. Mit ersten von Vollblut-Journalisten eingeholten, polemisch gewürzten Kommentaren. Denn das Datum 18. Dezember 2013 wirft Licht und Schatten.

An diesem Tag werden unzählige Menschen in der Welt erinnern, dass dies Willy Brandts 100. Geburtstag ist: Sozialdemokraten, Freunde der Sozialistischen Internationale (SI) und viele Menschen, die seine Leistung als Demokrat, Bundeskanzler, Friedenspolitiker und Impulsgeber für den Nord-Süd-Ausgleich in dieser Welt würdigen.

Auch für analytische Beiträge zum Lebenswerk des Staatsmannes und Weltbürgers Willy Brandt wären politisch Interessierte dankbar.

Aber, wie gesagt, die journalistischen Spürnasen sind jetzt schon unterwegs. Und sie haben nun – wie die „Wegelagerer“ (Helmut Schmidt) eben sind – Helmut Schmidt das Urteil abgelauscht: „Willy verstand nichts von Wirtschaft.“ *1).

Was Bundeskanzler Helmut Schmidt hier zugeschrieben wird, ist aus dem Zusammenhang gerissen. Und daher gegenüber einem Gesamturteil Helmut Schmidts über seinen Vorgänger im Amt des Bundeskanzlers sicher grob entstellt.

Diesen Artikel aus der Sommersammlung von Zeitungsausschnitten halte ich deshalb in bezug auf das etwas missbräuchlich verwendete Zitat eines großen Staatsmannes über einen großen Staatsmann für ergänzungsbedürftig. Hier einige Bemerkungen.

1. Die Kanzlerschaft Helmut Schmidts war machtpolitisch von Beginn dadurch geschwächt, dass Schmidt nicht darauf bestanden hatte, den Vorsitz der SPD zu übernehmen, als Willy Brandt 1974 zurücktrat.

Vor allem der Führungs-Nachwuchs der SPD um Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder hat Bundeskanzler Schmidts Verantwortung, vorrangig an das Wohl des Landes und erst danach an die Partei zu denken, durch illoyale Agitation schwer belastet. Willy Brandt war sicher gegenüber den Jung-Rebellen ein sehr nachsichtiger SPD-Vorsitzender. Anders war wohl die SPD damals nicht zu führen, wenn weitestgehende Integration der „1968er“ als erstrebenswert galt.

2. Wie immer der wirtschaftliche Sachverstand Willy Brandts beurteilt werden mag, Bundeskanzler Brandt hatte es jedenfalls verstanden, die besten Wirtschaftskenner der damaligen Zeit in sein Kabinett zu berufen: als Finanzminister Alex Möller und Karl Schiller als Wirtschaftsminister.

Damals war der Schuldenberg noch klein, Keynes en vogue und die Big-Spender im Kabinett außer Rand und Band. Jedenfalls muss Finanzminister Alex Möller diesen Eindruck gewonnen, die Solidität der öffentlichen Finanzen gefährdet und bereits im Frühjahr 1971 nur die Möglichkeit des Rücktritts gesehen haben.

Die Frage in puncto Wirtschaftskompetenz Brandts sollte also ergänzt werden um die Frage: Welchen Anteil hatte Verteidigungsminister Schmidt bei dem aus Sicht Alex Möllers ökonomisch unvertretbaren Wachstum der Ausgaben des Bundes?

3. Wer vom Rücktritt Alex Möllers und der zusätzlichen Übernahme des Finanzministeriums durch Wirtschaftsminister Karl Schiller finanzpolitische Mäßigung erwartet hatte, sah sich getäuscht. Karl Schiller soll bei seinen stabilitätspolitisch gebotenen Bremsversuchen gegenüber den Ausgabeforderungen der Bundesministerien in brutalster Form fertiggemacht worden sein. Nicht zuletzt durch den schon erwähnten Big-Spender.

Zu der Anti-Schillerfronde gesellte sich der Dichter Günther Grass. Zunächst mit der nach heutiger Kenntnis verblüffenden Forderung, Schiller solle doch seine NSDAP-Mitgliedschaft bekennen. *2) Im Sommer 1972 erkannte Schiller die Vergeblichkeit seiner Stabilitätspolitik und verließ erst die Regierung, dann die SPD. Grass richtete nun den angeschlagenen Professor Schiller öffentlich hin, indem er dessen Inflationswarnungen als selbstbezogene „´Ich-Inflation`“ *2) karikierte.

4. Dies war unter rein sachlichem Aspekt völlig daneben. Immerhin war der Preisindex der Lebenshaltung von 1,8 % (1969) auf beispiellose 7.1 % (1973) gestiegen. *3) Diese dramatische Beschleunigung der Geldentwertung mit entsprechender Lohn/Preis-Spirale (bis zu 15 % Lohnsteigerung im öffentlichen Dienst) hatte Karl Schiller zu gemeinsamen Aufrufen mit Ludwig Erhard getrieben.

In diesem Zusammenhang erfolgte später Helmut Schmidts berüchtigtes wirtschaftspolitisches Diktum: „5 % Inflation sind mir lieber als 5 % Arbeitslosigkeit.“ Nicht Willy Brandt, der Insidern zufolge dem finanzpolitischen Treiben der sozialliberalen Anfangsjahre zugesehen hatte, sondern Helmut Schmidt wurde der ökonomischen Inkompetenz geziehen, als beide Wirtschaftsindikatoren 5% betrugen.

5. DIE WELT *1) zitiert einen weiteren Kritikpunkt Helmut Schmidts an Willy Brandt: „Als der Ölpreis explodierte, nahm er das zuerst nicht zur Kenntnis.“

Damals, Herbst 1973, erpresste die Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) mit Preisabsprachen und Produktionsdrosselung den Westen wegen seiner Unterstützung Israels im Jom Kippur Krieg. Zu jener Zeit brach nach der Studie des Club of Rome *4) mit Behauptungen, die Erdölvorräte wären bis Ende des 20. Jahrhunderts erschöpft, überdies Zukunftsangst in den europäischen Industrieländern aus. In der Bundesrepublik wurden Ende 1973 vier Sonntagsfahrverbote verhängt.

Auf dem Höhepunkt der Panik und des Dramas ist mir der Vortrag des großen Harvard-Ökonomen Professor Hendrik Houthakker im Hamburger Amerika-Haus unvergeßlich geblieben. Houthakker rief zur Gelassenheit auf!

Die wirtschaftsgeschichtliche Erfahrung zeige, dass kein Preiskartell Bestand habe, denn der ökonomische Anreiz, es zu unterlaufen, sei zu groß. Houthakker begrüßte dauerhafte Ölpreissteigerungen wegen der dadurch ausgelösten Einspar-, Substitutions- und Explorationseffekte. Zum angeblich bevorstehenden Ende der Erdölvorräte verwies er auf nachgewiesene, bisher unberührte Lagerstätten in nordamerikanischen Ölsänden und Ölschiefer, die ein Mehrfaches der gesamten Ölvorkommen des Mittleren Ostens ausmachten. Die Entwicklung hat Prof. Houthakkers Analyse bestätigt.

6. Historiker werden anerkennen, dass Helmut Schmidt gerade in den Jahren seiner Kanzlerschaft schwerste Herausforderungen zu bewältigen hatte: nur die wirtschaftlich-finanzielle Stabilisierung, die Terroranschläge, die Verhandlungen zum Nato-Doppelbeschluss seien genannt. Und das mit einer SPD eher im Rücken als zur Seite.

Wer könnte gelegentliches Grummeln des großen Regierungschefs zum Erbe seines Vorgängers nicht verstehen? Die journalistischen „Spürnasen und Wegelagerer“ sollten dies im Jahr des Hundertsten von Willy Brandt mit schweigendem Respekt zur Kenntnis nehmen.

Kein Spitzenpolitiker hat der Medien-Zunft in den letzten fünf Jahrzehnten solche Qualität an Diskussionsstoff, an intellektuellen Impulsen, politischen Analysen und so brilliante Reden geboten wie Helmut Schmidt. Daran könnten sich die Verantwortlichen der Medienbranche gelegentlich dankbar erinnern. Sie haben immens von Helmut Schmidt profitiert.

*1) Heinz Verführt, Ein unangenehmes Erbe, DIE WELT, Freitag, 9. August 2013, S. 23 f.

*2) Torben Lütjen, Kommen Sie zur Besinnung, Karl Schiller; welt.de, 30. September 2007.

*3) destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Preise/Verbraucherpreise/*

*4) Die Grenzen des Wachstums, 1972. Der Club of Rome wurde 1973 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.