Die Eiche von Oradour.

Europa hat viele Orte der Erinnerung an die Massenmorde der Nazis. Abermillionen Opfer lasten auf der deutschen Geschichte.

Das ist das Gemeinsame: das Unfassbare, das den Vergleich überfordert. Jedes Opfer steht für sich, für einen im deutschen Namen gemordeten Menschen – mit seiner eigenen Persönlichkeit, mit seiner Identität der Zugehörigkeit, zu einem Volk, zu einer jeden Gemeinschaft durch Geburt oder durch eigene Wahl.

Zu den Orten gegen das Vergessen gehört Oradour-sur-Glane. Am 10. Juni 1944 wurden hier 642 arglose Menschen umgebracht – Männer, Frauen, Kinder, 206 Kinder, das jüngste ein Baby, acht Tage alt. Erschossen, die meisten bei lebendigem Leibe verbrannt. Nur 52 Opfer konnten identifiziert werden. Nur sechs Menschen dem Massenmord entkommen.

Die Mörder wurden bekannt: Mitglieder der 3. Kompanie des 1. Bataillons des SS-Panzergrenadier-Regiments „Der Führer“, Teil der SS-Division „Das Reich“. Die Verantwortlichen entgingen der Sühne. Über Jahrzehnte litt die Erinnerung in Oradour – von Deutschen vernichtet, von Franzosen verraten, so fühlten Angehörige der Opfer. *1)

Oradour-sur-Glane – der Name leitet sich ab vom lateinischen Wort für Gebetsstätte, am 10. Juni 1944 wurde der Ort zu einer Schädelstätte. Kein dort Betender kann je dieses Golgatha geahnt haben.

Zum ersten Mal seit den Untaten Deutscher standen das französische und das deutsche Staatsoberhaupt an diesem Ort. Am 4. September 2013, fast 70 Jahre danach, erinnerten François Hollande und Joachim Gauck an das Grauen und seine Lehren.

Staatspräsident Hollande führte Bundespräsident Gauck durch die Ruinenstätte der Erinnerung an das alte Dorf Oradour, das die SS gesprengt und niedergebrannt hatte. Robert Hébras und Marcel Darthout sind die letzten lebenden Zeitzeugen des Massakers.

François Hollande sprach über das Geschehen und das Gebot „Silence“ – Schweigen, „dieses Wort, dieses Wort allein, richtet sich an jeden Besucher am Eingang des Dorfes Oradour-sur-Glane.“ *2)

Hier gebietet die Achtung vor den Toten zu schweigen. Nur ein außergewöhnliches Ereignis dürfe das Schweigen aufheben, sagte Staatspräsident Hollande. „Und dieses außergewöhnliche Ereignis, Herr Bundespräsident, ist Ihr Kommen an diesen Ort, wo das Schreckliche begangen wurde und wo die Erinnerung sorgfältig bewahrt wird … Sie verkörpern die Würde des heutigen Deutschland gegen die Nazibarbarei des Gestern.“

Der Staatspräsident beschreibt „das schlimmste aller Verbrechen, das Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, das in Oradour begangen wurde. Deshalb sei dieser Ort ein „Monument der Geschichte“.

„Jahrzehnte brauchte es, bis die Familien der Opfer von Oradour ein Denkmal besaßen, das kommenden Generationen die Erzählung des Dramas vermitteln kann.“ Dies ist das Zentrum der Erinnerung. Es wurde von „François MITTERRAND 1994 vorangebracht und fünf Jahre später durch den Staatspräsidenten Jacques CHIRAC eingeweiht. Jahrzehnte brauchte es, bis auch das Drama der zwangsrekrutierten französischen Soldaten anerkannt wurde und das Limousin und das Elsass den Frieden der Erinnerung fanden. Mutig haben dies der Bürgermeister von Oradour, Raymond FRUGIER, und der Bürgermeister von Strasbourg, Roland RIES, bekannt. Denn nur allein auf der Wahrheit gründet die Versöhnung.“

Der Staatspräsident erinnert an die Begegnungen zwischen Charles de GAULLE und Konrad ADENAUER, zwischen Helmut KOHL und François MITTERRAND, Hand in Hand in Verdun 1984. „Heute bekräftigt Ihr Besuch, Joachim GAUCK, dass die Freundschaft zwischen unseren beiden Ländern eine Herausforderung gegenüber der Geschichte ist, aber auch ein Beispiel für die ganze Welt. Die Stärke dieser Freundschaft zeigt sich in dieser Stunde, hier in Oradour-sur-Glane.

Diese Freundschaft, die uns beide überragt, sie verpflichtet uns … Nach dem schlimmsten Massaker der Geschichte, dessen letzte Stufe der Holocaust war, haben die Europäer entschieden, ein für alle Mal die höllische Maschine zu stoppen. Sie haben uns das schönste Erbe hinterlassen: den Frieden.

Aber Frieden wie Demokratie sind kein selbstverständlicher Besitzstand. Sie müssen von den Völkern wie von den Individuen für jede Generation von neuem erworben werden. *3)

Deshalb ist Ihre Gegenwart hier, Herr Bundespräsident, viel mehr als ein Symbol, sie ist die Bekräftigung eines Versprechens: des Versprechens, überall und für immer die Grundsätze zu ehren, die besudelt wurden, von den Henkern des Gestern bis in die heutige Zeit; des Versprechens, die Rechte des Menschen zu verteidigen, wann immer sie verletzt werden.

Diese Wachsamkeit, diese Unbeugsamkeit schulden wir den Gemarterten des 10. Juni 1944. Sie erinnern uns an unsere Pflichten. Sie rufen unser Gewissen an … “

Der Dichter Jean Tardieu hatte im September 1944 ein Gedicht für den Widerstand geschrieben. Staatspräsident Hollande zitiert daraus: „Oradour n’a plus de femmes Oradour n’a plus un homme Oradour n’a plus de feuilles Oradour n’a pas plus de pierres Oradour n’a plus d’église Oradour n’a plus d’enfants … Oradour n’est plus qu’un cri“.

„Und diesen Schrei, Herr Bundespräsident, höre ich noch heute, ich höre ihn immer, wenn es ähnliche Massaker in der Welt gibt.

Ich höre auch die Worte der Überlebenden, die ich grüße, Robert HEBRAS, Jean-Marcel DARTHOUT, sie sind heute bei uns. Ich möchte ihnen die Achtung der ganzen Nation aussprechen … aber auch ihre großherzige Geste der Gastfreundschaft ehren.“

Und dann findet Staatspräsident Hollande Worte der Hoffnung.

„Hier, inmitten der Ruinen von Oradour, steht eine starke, majestätische Eiche. Sie trägt den Namen Baum der Freiheit. In der Revolution von 1848 gepflanzt, war sie dem universellen Wahlrecht … gewidmet, aber auch dem Ende der Sklaverei. *4) Hier, an diesem Ort, pflanzten Männer und Frauen diesen Baum zur Ehre jener Zeit.

Und dieser Baum hat das Brandschatzen des 10. Juni 1944 überlebt. Er hat die Prüfungen, die Generationen überdauert, wie um zu zeigen, dass der Kampf für Menschlichkeit weitergeht.

Herr Bundespräsident, dieses Vertrauen in die Freiheit, diese Erwartung an die Demokratie, diese Bindung an den Frieden, was uns zusammen hierher geführt hat, den Staatspräsidenten Frankreichs, den Bundespräsidenten Deutschlands, beseelt uns heute in Oradour. Dies ist die Botschaft von Oradour. Sie lebt und wird für immer leben.“

Enden wir mit dieser Botschaft des Staatspräsidenten Hollande zur Geschichte, zur europäischen Zukunft, zur europäischen Verantwortung. Achten wir das Schweigen der Eiche von Oradour – Zeugin von Schande und Hoffnung, Ausdruck des Sehnens der Revolution von 1848 nach Freiheit, Demokratie, Frieden.

Die Eiche lebt, die Zeit steht still – in Oradour-sur-Glane.

*1) Sascha Lehnartz informiert uns:
„Der SS-Bataillonskommandeur Adolf Otto Diekmann fiel wenige Tage nach dem Massaker in der Normandie. Der Divisionskommandeur, General Heinz Lammerding, lebte nach dem Krieg als erfolgreicher Bauunternehmer in Dortmund und genoss danach sein Altenteil am Tegernsee. Weder die Bundesregierung noch die britischen und amerikanischen Besatzungsbehörden lieferten ihn je nach Frankreich aus.
1953 fand in Bordeaux ein Prozess statt. Angeklagt waren 21 Mitglieder des Bataillons, darunter 14 Elsässer, die bis auf einen Freiwilligen Zwangsrekrutierte waren, sogenannte „Malgré Nous“-Soldaten des NS-Regimes gegen ihren Willen. Der Freiwillige aus dem Elsass und ein deutscher Unteroffizier wurden zum Tode, die übrigen Angeklagten zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Auch die Elsässer. Doch dieses Urteil löste im Elsass so massive Proteste aus, dass die französische Nationalversammlung eine Woche später aus Sorge um die nationale Einheit ein Amnestiegesetz erließ. Die Elsässer wurden freigelassen, die übrigen Urteile in mildere Haftstrafen umgewandelt. Auch beide Todesurteile.“ (welt.de, 03.09.2013; Eine Wunde Frankreichs, die nicht heilt).

*2) Allocution du président de la République à Oradour-sur-Glane, Publié le 04 Septembre 2013; www.elysee.fr/declarations/ (Übers. RS).

*3) Vgl. J. W. v. Goethe: „Was Du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.“ (Faust. Der Tragödie Erster Teil. Nacht. Faust allein.)

*4) 1848 ging es noch um das Wahlrecht für Männer, worauf Staatspräsident Hollande hinwies.