Konfliktfall Syrien.

Die transatlantische Wertegemeinschaft wird zu Recht von angesehenen Außenpolitikern immer wieder beschworen.

Sie biete dem politischen Sehnen unzähliger Menschen in der Welt eine konkrete Vision. Nur wenn es zum Schwur kommt, dann steht Amerika ziemlich allein.

Den nahezu eintausendfünfhundert Opfern des Giftgas-Massakers durch das Assad-Regime können die deutsch-amerikanischen Werte und das aus diesen Werten gewachsene UN-Prinzip der „Responsibility to Protect“ nicht mehr helfen.

In Deutschland scheint bisher das Wahlkampf-Kalkül über dem Grundsatz der Schutz-Verantwortung für die Würde und das „political awakening“ *1) syrischer Menschen und Freiheitskämpfer zu stehen.

CNN berichtet über den Hohn eines Vertreters des Assad-Regimes: „Obama kletterte auf den Gipfel eines Baumes und weiß nicht, wie er wieder herunter kommt“ (CNN, 01.09.2013, Übers. RS).

Frau Margarete Klein von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) fällt durch ein etwas anderes Bild auf: Washington sei mit dem Plan „für einen schnellen Militärschlag zurückgerudert“. Dies biete dem Westen die Chance, „sich um eine gemeinsame Konfliktlösung mit Russland zu bemühen“ (SWP, 30.08.2013). Zu bemühen! Ausgerechnet gegenüber Russland! Aber dies trifft sicher die „herrschende Meinung“ der außenpolitischen Berliner Eliten.

Im SPIEGEL heißt es zu Präsident Obamas Entscheidung, um die Zustimmung des US-Kongresses für einen Militärschlag zu werben: „Plötzlich hat er es nicht mehr eilig … Damit schiebt er einen Teil der Verantwortung auf die Volksvertreter ab … Am Samstag präsentierte der US-Präsident einen seiner gewagtesten und zugleich doch zynischsten Schachzüge“ (Marc Pitzke) *2). Angst vor Eskalation gehe in Syrien um: „Die Botschaft, die Assad erhalten habe, laute: ´Du kannst deine eigenen Leute mit konventionellen Mitteln töten, nur nicht mit Chemiewaffen.` Doch selbst der erneute Einsatz von Giftgas kann nicht ausgeschlossen werden.“ *2)

Der Bundesminister der Verteidigung Peter Struck hatte vor über einem Jahrzehnt als verteidigungspolitische Quintessenz noch festgestellt: „Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt.“

Von Kabul ist Washington (Luftlinie) mit 11.2 Tsd. km mehr als doppelt so weit entfernt wie Berlin mit 4.8 Tsd. km. Die Luftlinie Berlin-Damaskus beträgt etwa 2.8 Tsd. km; von Washington D.C., sind es 9.5 Tsd. km. Präsident Obama ist fast 3,5 mal so weit vom Ort der Massenmorde entfernt wie die deutsche Regierungschefin Merkel. Und wie die auf „Verhältnismäßigkeit“ im Syrienkonflikt bestehenden Berliner außenpolitischen Eliten.

Gilt Peter Strucks Hindukusch-Diktum dann nicht erst recht für den Nachbarschaftsraum Nahost? Für die Lage in Syrien mit bisher über 100 000 Toten und nun auch den Giftgasopfern? Gilt Strucks Kernsatz nicht auch für Israel, das in diesem Konflikt zusätzlich durch Proliferation von Massenvernichtungswaffen, durch Terroristen, durch Hizbollah und den Iran bedroht wird? Stehen wir zu Israels Sicherheit, die „Teil der deutschen Staatsraison“ ist (A. Merkel vor der Knesseth 2008)?

Wie wird Deutschland als Partner in Amerika wahrgenommen, wenn mit ironischem Unterton festgestellt wird, Präsident Obama sei gegenüber Assad „zurückgerudert“, leiste sich „zynischste Schachzüge“, um sein Gesicht zu wahren? Sicher, einige Politiker – z.B. Westerwelle und Cohn-Bendit – „signalisieren“, dass nicht „einfach weggeschaut“ werden dürfe, dass „geahndet“ werden müsse.

Aber dies bleiben leere Worte – wegen der Nebenbedingungen: „eine geschlossene Front des Westens“ (Cohn-Bendit) oder Warten auf Russland, um „gemeinsam mit der Weltgemeinschaft ein klares Zeichen zu setzen.“ (Westerwelle). Herr Steinmeier wartet darauf, „dass wirklich alle friedlichen Möglichkeiten genutzt worden sind.“ Herr Polenz, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, hofft, „dass das Assad-Regime den Tabubruch des Giftgaseinsatzes gegen das eigene Volk nicht wiederholt“. Auf welche Maßnahmen oder Kalküle mag Herr Polenz diese Hoffnung stützen?

Solche zum Teil stark klingenden Worte ohne konkretes Handeln sind wohl im Sinne der meisten deutschen Wähler. Das Entscheidungs-Dilemma unserer Spitzenpolitiker kurz vor der Bundestagswahl soll hier nicht klein geredet und nicht ironisiert werden. Aber die deutschen Bürger müssen verantwortlich über den Platz und die Verantwortung ihres Landes in der internationalen Sicherheitspolitik informiert werden. Seit dies Peter Struck leistete, hört man wenig Vergleichbares.

Die bittere Tatsache: die „Responsibility to Protect“ durch Europa ist weitgehend leeres Versprechen geblieben. Trotz der Nato-Bomben auf Jugoslawien 1999 ohne UN-Mandat, um die Kosovo-Albaner zu schützen. Denn es gibt kein EU-Instrument, um diesem Prinzip präventiv oder als Sanktion unverzüglich Geltung zu verschaffen. Selbst nicht gegenüber einem Schurkenregime wie dem Assads.

Es scheint auch keine Bereitschaft vorhanden für ein militärpolitisches Umdenken im Sinne der Analyse und der Forderung von Klaus Naumann, Generalinspekteur der Bundeswehr a. D., der zugleich ein bedrückendes sicherheitspolitisches Fazit für Europa zieht: „Als Bürger bin ich der Auffassung, dass wir der Schutzverantwortung mehr Gewicht geben sollten als einem sich selbst blockierenden Sicherheitsrat … Ich war nie ein Freund rascher militärischer Interventionen, aber manchmal sind sie unvermeidlich, eben das äußerste Mittel der Politik. Wenn wir Deutschen uns nicht zu dieser Einsicht aufraffen, dann wird Europa sicherheitspolitisch nie eine Rolle spielen.“ (welt.de; 29.08.2013).

Nur die USA und wenige europäische Partner, wie vielleicht die Regierungen Frankreichs und Großbritanniens, scheinen willens, das Giftgas-Massaker Assads an der syrischen Bevölkerung mit einer harten militärischen Sanktion zu vergelten. Und damit abschreckend auf brutalste Gewalt-Kalküle von Diktatoren zu wirken, vielleicht sogar präventiv weitere potentielle Opfer solcher Verbrechen zu vermeiden.

Wer mag derzeit ernsthaft auf Unterstützung, Syrien zu befrieden, durch Russland, China oder den Iran setzen? Stehen diese Länder wirklich über dem Verdacht, dass der Giftgas-Anschlag durch das Assad-Regime mit ihrem Wissen und ihrer Billigung durchgeführt wurde? Ist es abwegig anzunehmen, dass diesen Staaten das brutale Handeln Assads als Lektion gegen eigene potentiell gewaltbereite Dissidenten nicht unwillkommen ist? Könnte das Massaker-Timing Assads – vor Wahlen in Deutschland, Großbritannien (Mai 2015), Türkei (Staatsoberhaupt: August 2014; Parlament Juni 2015) – vielleicht  kalkuliert worden sein, um Europa von den USA zu isolieren? *3)

Könnten sich deutsche Bürger, die sich um ein Urteil zu diesem Konflikt in Europas Nachbarschaftsraum Nahost bemühen, an den folgenden Aussagen orientieren?

Beginnen wir mit Secretary of State John Kerry: „Das Abschlachten von Zivilisten, Frauen, Kindern und unschuldigen Passanten mit chemischen Waffen ist eine moralische Obszönität. Fünf Tage lang verweigerte das syrische Regime den UN-Ermittlern Zugang zum Ort der Attacke, der das Regime angeblich entlasten würde. Stattdessen setzte es die Angriffe auf das Gebiet fort, bombardierte es und zerstörte systematisch Beweise. Dies ist nicht das Verhalten einer Regierung, die nichts zu verbergen hat.“ *4)

Defense Secretary Chuck Hagel versicherte: „Wenn gehandelt wird, dann in Abstimmung mit der internationalen Gemeinschaft und im Rahmen legaler Rechtfertigung.“ *4) Diese Stellungnahme vom 26.8.2013 zeigt, wie absurd das SPIEGEL-Zitat zu Obamas Erklärung vom 31.8.2013 ist: „Plötzlich (!, RS) hat er es nicht mehr eilig“ *2). Offenbar ist ganz im Gegenteil ein längerer Abstimmungsprozess erfolgt, bevor der Präsident sein Statement zu Syrien gab.

Dies kommt glaubwürdig in den Worten Präsident Obamas vom 31.8.2013 zum Ausdruck (Übers. RS):

Der Angriff mit chemischen Waffen „ist ein Anschlag auf die menschliche Würde. Er ist auch eine ernste Gefahr für unsere nationale Sicherheit. Er droht, das globale Verbot des Gebrauchs chemischer Waffen zu verhöhnen. Er gefährdet unsere Freunde und Partner an Syriens Grenzen – Israel, Jordanien, Türkei, Libanon und Irak. Er könnte dazu führen, dass die Anwendung chemischer Waffen oder deren Weitergabe an terroristische Gruppen eskaliert, was unsere Bürger gefährdet. In einer Welt voller Gefahren ist dieser Bedrohung entgegen zu treten …

Nun, nach sorgfältigem Abwägen, habe ich entschieden, dass die Vereinigten Staaten militärisch gegen Einrichtungen des syrischen Regimes vorgehen sollten … Ich bin zuversichtlich, dass wir das Assad-Regime für seinen Einsatz chemischer Waffen zur Verantwortung ziehen, gegenüber solchem Verhalten abschrecken und seine Fähigkeit dazu entscheidend schwächen können …

Mir ist auch bewusst, dass ich Präsident der ältesten konstitutionellen Demokratie der Welt bin … Deshalb habe ich eine zweite Entscheidung getroffen: Ich werde die Vertreter des amerikanischen Volkes im Kongress ersuchen, uns zur Anwendung militärischer Gewalt zu ermächtigen.“

Die ruhige Würde Präsident Barack Obamas und der Ernst des neben ihm stehenden Vizepräsidenten Joe Biden wird die Menschen der Welt beeindruckt haben.

Wie dürftig erscheinen dagegen manche deutschen Kommentare! Wie etwa: Der „US-Präsident öffnet sich auch ein Hintertürchen“ (M. Pitzke *2)). Eine Kategorie der Pfiffigkeit gegen den Präsidenten der USA, der die Verfassung und die demokratischen Institutionen seines Landes respektiert. Durch eine Entscheidung, die als Zeichen an die Welt dem Wert der Demokratie höchsten Rang beimisst. Und das aus Deutschland, einem Land, in dem das Prinzip der Parlamentsarmee gilt!

Ich bin überzeugt, dass Präsident Obama dem Kongress eine klare Roadmap vorlegen wird. Nicht nur mit bewiesenen Fakten über die Verbrechen des Assad-Regimes, sondern auch mit militärisch-taktischen und politisch-strategischen Zielen für Frieden im Nahen Osten und darüber hinaus.

Bei aller Härte der Debatte werden der Kongress wie das patriotische amerikanische Volk sich den Entscheidungen Präsident Obamas nicht verschließen.

Darauf deuten nicht nur einige politische Stellungnahmen amerikanischer Volksvertreter hin. Auch US-Verfassungsexperten verdanken wir Hinweise zur Legitimierung eines Militärschlags.

Ein Mandat des UN-Sicherheitsrates für militärisches Vorgehen gegen Syrien erscheint derzeit ausgeschlossen. Somit fehle dafür eine überzeugende legale Argumentation, schließt der Jurist Professor David Kaye. *5) Einige Staaten, Nicht-Regierungs-Organisationen und Wissenschaftler hätten versucht, Ausnahmen zum Erfordernis eines Mandats des UN-Sicherheitsrates zu formulieren. Diese rechtfertigten Interventionen aus, erstens, humanitären Prinzipien oder, zweitens, der „Responsibility to Protect“. Beide Ausnahmen beruhten jedoch auf der moralischen Position, dass gegen Staaten, die ihre Bürger verbrecherisch behandeln, militärisch interveniert werden könne. Aber diese Ausnahmen, so Prof. Kaye, hätten keine feste gesetzliche oder völkerrechtliche Grundlage.

Der Politikwissenschaftler Ian Hurd *6) formuliert zwei Optionen für die Legitimierung schneller militärischer Intervention gegen das Assad-Regime: Die US-Regierung sollte entweder argumentieren, dass eine ´illegale aber legitime` Intervention besser sei als nichts zu tun oder aber erklären, dass das internationale Recht sich gewandelt und weiter entwickelt habe, und die Zustimmung des UN-Sicherheitsrates nicht mehr benötigt würde, um in Syrien militärisch einzugreifen.

Professor Hurd empfiehlt die zweitgenannte Alternative, da Russland und China im UN-Sicherheitsrat verhinderten, dass die „Schutzverantwortung“ wahrgenommen wird. Völkerrechtliche Gesetzeskraft habe diese Verantwortlichkeit zwar nicht, aber in der Welt sei in den vergangenen Jahrzehnten ein „Konsens gewachsen“, dass die Betreiber von Massenmord zu bestrafen seien.

Diese Alternative, eine rasche Intervention gegen Assad zu legitimieren, wiegt um so schwerer, je unabweisbarer die konkreten Beweise für den Giftgas-Anschlag durch das Assad-Regime sind. Und noch schwerer wiegt solche Argumentation, wenn sich herausstellen sollte, dass Assad mit Wissen Russlands handelte.

*1) Zbigniew Brzezinski, The global political awakening; 16.12.2008; nytimes.com/.
*2) spiegel.de, 01.09.2013, Obamas neuer Syrien-Zeitplan. Sowie: Obama vertagt den Feldzug. Von Marc Pitzke.
*3) Vergl. zu einer Analyse ökonomischer und machtpolitischer Kalküle: Syria allies: Why Russia, Iran and China are standing by the regime. By Holly Yan, CNN; August 30, 2013.
*4) Transcript; Interviews u.a. mit US-Außenminister John Kerry durch Judy Woodruff; PBS Newshour; Aug. 26, 2013, US Weighs How to Hold Syria Accountable for Alleged Chemical Attack. (Übers. RS)
*5) David Kaye, The Legal Consequences of Illegal Wars; August 29, 2013; Foreign Affairs.
*6) Bomb Syria, Even if It Is Illegal. By Ian Hurd; 28.08.2013; nytimes.com/