Der Aufruf von London: 1942 und 2022.

 

Wie können demokratisch Gesinnte die Ukraine unterstützen? Diese Frage treibt die Menschen um, die im TV die unfassbare Brutalität des Vernichtungskrieges sehen, den Russlands Präsident Putin in der Ukraine führt.

1. Internationales Recht: Machtlos gegen Putins Krieg?

US-Präsident Joe Biden hat nunmehr benannt, was Präsident Putin ist: Ein Kriegsverbrecher. Und diesem Urteil, so ist zu hoffen, werden sich immer mehr Träger politischer Verantwortung anschließen.

Die Gräueltaten gegen die Menschen in der Ukraine, die  Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen, ihrer Infrastruktur, Wohnungen, Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten, die Vertreibung und selbst in diesem Horror noch militärische Gewalt gegen humanitäre Fluchtkorridore — diese Kriegsverbrechen sind bereits Gegenstand von Ermittlungen durch den Internationalen Strafgerichtshof (ISTGH) in Den Haag.

Der ISTGH kann militärisch Verantwortliche bis hin zum obersten Befehlshaber, Präsident Putin, für Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord in der Ukraine anklagen. Diese Verbrechen müssten Putin und seinen Militär- und Wirtschaftsführern allerdings “gerichtsfest“ *1) persönlich nachgewiesen werden.

Eher “gerichtsfesten“ Erfolg versprechend erscheine die Anklage gegen Putin und seinen Führungszirkel für die völkerrechtliche Straftat der “Aggression“. Diese sei von der Generalversammlung der Vereinten Nationen (VN, UN) definiert worden als „die Anwendung militärischer Gewalt durch einen Staat gegen die Souveränität, die territoriale Integrität oder die politische Unabhängigkeit eines anderen Staates.“ *2)

Putin hatte die Befehle für den militärischen Aufmarsch an den Grenzen der Ukraine und die Invasion des Landes am 24. Februar 2022 vor der Weltöffentlichkeit erteilt. Und diese Aggression mit nuklearer Drohung gegen die NATO und die EU verknüpft, die der Ukraine durch partnerschaftliche Verträge verbunden sind. Damit erscheine die Beweislage für das völkerrechtliche Verbrechen der Aggression offenkundig. Zumal die russische Führung sich für die Invasion der Ukraine weder auf eine Autorisierung durch den VN-Sicherheitsrat, noch glaubhaft auf Selbstverteidigung berufen könne. *2)

Bei so deutlichen Beweisen für das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine durch die russische Staatsführung ist umso bedauerlicher, dass die Regeln des ISTGH Putin ein “riesiges Schlupfloch“ *2) eröffnen.

Alle festen Mitglieder des VN-Sicherheitsrates — China, Frankreich, Russland, Großbritannien und die USA — hatten sich bei der Einrichtung des ISTGH einer Definition von Aggression verweigert, die es ermöglicht hätte, mächtigere Staaten durch das Völkerstrafrecht vor dem ISTGH zu belangen. Der ISTGH könnte die Führung Russlands, das nicht ISTGH-Mitglied ist, nur dann für das Verbrechen der “Aggression“ gegen die Ukraine anklagen, wenn der VN-Sicherheitsrat dem ISTGH diese Zuständigkeit erteilte, was Russland als ständiges Mitglied durch Veto verhindern würde. *2)

Uta Zapf stellt daher fest: „Der VN-Sicherheitsrat ist gelähmt. Ein Klima der Straflosigkeit wurde geschaffen, in dem Putin das Völkerrecht ignoriert – es ist in seinem brutalen Machtspiel keine Kategorie mehr.“ *3)

Bei diesem Befund darf und wird es nicht bleiben.

2. Der Aufruf von London: 1942 und 2022.

London ist derzeit der Ort, vom dem aus Gruppen bedeutender Persönlichkeiten *4), an deren Urteil sich Menschen weltweit orientieren, eine Botschaft für Putin haben: „Der lange Arm des internationalen Rechts wird ihn erfassen.“ *5)

Der “Aufruf von London“ greift die Forderung des Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, auf: „Um die Invasoren vor Gericht zu bringen, muss ein Internationales Tribunal geschaffen werden.“ *5)

Gordon Brown spricht gewiss für alle demokratisch Gesinnten, die für die Souveränität, die territoriale Integrität und die politische Unabhängigkeit der demokratischen Ukraine eintreten: *5)

  • Im London des Jahres 1942, im zweiten Weltkrieg, „hatte uns eine Gruppe von Regierungen im Exil den Weg nach vorn gezeigt. Sie verfassten einen Aufruf, dass Hitler und seine Kumpane für ihre Kriegsverbrechen bestraft werden müssen. Ein Strafprozess wäre notwendig, um ´den Glauben an Gerechtigkeit in der zivilisierten Welt` zu festigen. Dieser Aufruf führte zu den Nürnberger Prozessen“.
  • Eine Anklage Putins wegen des Verbrechens der Aggression gegen die Ukraine und der militärischen Invasion des Landes „ist das Mindeste, was wir tun müssen, um die Tapferkeit der Menschen in der Ukraine anzuerkennen und ihnen die Hoffnung zu geben, dass die Gerechtigkeit durchgesetzt wird.“
  • „Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, sagte dem Kongress der USA in seiner Botschaft vom 16. März 2022: ´Die Herzen der Ukrainer werden täglich, zu jeder Stunde gebrochen; aber die Einheit der Ukraine bleibt unzerbrechlich.` Es ist die Kraft des Widerstandes, der Mut unter dem feindlichen Feuer, den die Ukrainer beweisen — dies hat das Gewissen der Welt aufgerüttelt.“
  • „Deshalb wächst auf allen Kontinenten der Druck, die Sanktionen und Reiseverbote gegen Russland, die humanitäre und militärische Hilfe für die Ukraine durch die Anklage gegen Putin und seinen inneren Führungskreis zu ergänzen.“
  • „Die Gründe, die 1942 zum Vorschlag eines Gerichtes für Kriegsverbrechen führten, sind heute so gültig wie damals … In Nürnberg verurteilten wir die Nazi-Kriegsverbrecher. 80 Jahre danach müssen wir dafür einstehen, dass der Tag der Rechenschaft für Putin kommen wird.“

Auch das Kampagnen-Netzwerk AVAAZ („Stimme“), das mit Bürgerstimmen weltweit politische Entscheidungen beeinflussen will, hat sich der Forderung nach einem Tribunal angeschlossen, damit Putin und seinen Komplizen der Prozess für ihr Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine gemacht wird. Seit Mitte März haben bereits fast 1.3 Millionen Menschen das Begehren unterzeichnet, Putin vor Gericht zu bringen.

3. Der “Aufruf von London“: Vorgabe für deutsche Politik.

Der “Aufruf von London“ stärkt alle, die in ohnmächtiger Erbitterung den mörderischen Krieg Putins in der Ukraine verfolgen, in der Hoffnung, dass „der Tag der Rechenschaft für Putin kommen wird.“ (Gordon Brown).

Unvergessen sind uns die Worte, die Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, am 17. März 2022 im Deutschen Bundestag an das deutsche Volk richtete: *6)

  • Sehr verehrtes deutsches Volk. Ich wende mich an Sie nach drei Wochen des unerwarteten Angriffs der russischen Truppen auf die Ukraine. Nach acht Jahren Krieg im Osten unseres Landes, im Donbass. Ich wende mich an Sie.
  • Russland bombardiert unsere Städte und zerstört alles in der Ukraine: Wohnviertel, Krankenhäuser, Schulen, Kirchen – alles. Mit Raketen, mit Bomben, mit Artillerie. In drei Wochen sind sehr viele Ukrainer gestorben, Tausende. Die Besatzer haben 108 Kinder getötet – mitten in Europa, bei uns, im Jahr 2022.
  • In drei Wochen des Krieges für unser Leben, für unsere Freiheit haben wir uns davon überzeugt, was wir zuvor gespürt haben – und was Sie vielleicht nicht alle merken. Sie befinden sich wieder hinter einer Mauer. Nicht hinter der Berliner Mauer. Sondern mitten in Europa. Zwischen Freiheit und Unfreiheit. Und diese Mauer wird mit jeder Bombe stärker, die auf unseren Boden fällt – auf die Ukraine.
  • Sehr verehrtes deutsches Volk. Warum ist das möglich? Wir haben gesagt, dass Nord Stream 2 eine Waffe und Vorbereitung auf den großen Krieg ist, und wir haben als Antwort bekommen: Das ist Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft. Und das war Zement für die neue Mauer.
  • Ich bin denen dankbar, die über Mauern schauen können und die wissen, dass die Verantwortung über allem steht, wenn es um Menschen geht. Es ist schwierig für uns, das ohne ihre Hilfe, ohne die Hilfe der Welt, zu überstehen und die Ukraine, Europa zu verteidigen.
  • Nach der Zerstörung Charkiws, das zweite Mal in 80 Jahren, nach der Bombardierung von Donbass, Tschernihiw, Sumy – damit man sich nach 80 Jahren, nach so vielen gefallenen Menschen, nicht fragt: Was ist mit der historischen Verantwortung gegenüber der Ukraine … Lieber Herr Bundeskanzler Scholz, zerstören Sie diese Mauer. Geben Sie Deutschland die Führungsrolle, die Deutschland verdient. Damit ihre Nachfahren stolz auf Sie sind. Unterstützen Sie den Frieden, unterstützen Sie die Ukrainer, stoppen Sie diesen Krieg. Helfen Sie uns, diesen Krieg zu stoppen. Es lebe die Ukraine!

Wolodymyr Selenskyjs Bild von der neuen Mauer des Unrechts mitten in Europa, die Putin durch Krieg errichtet, hat uns Deutsche an das Versprechen erinnert, das unser Grundgesetz nach den Verbrechen der Nazi-Herrschaft verkörpert: Die Stärke des Rechtes ist gegen die Brutalität des vermeintlichen Rechtes des Stärkeren durchzusetzen.

In unzähligen Sonntagsreden unserer Politiker scheint es zur leeren Phrase geworden. Sonst würde wohl hierzulande der Appell aufgegriffen, ein Tribunal zu schaffen, einen internationalen neuen Gerichtshof, für die Anklage Putins und seines Gefolges wegen des Verbrechens der Aggression gegen die Ukraine.

Statt dessen heißt es: „Ziel muss bleiben, ihm aus Gründen der Vernunft weiter die Chance auf einen gesichtswahrenden Ausstieg nicht zu verbauen, sondern sogar aktiv darauf hinzuwirken.“ *7) 

Auf „gesichtswahrenden Ausstieg für einen Kriegsverbrecher aktiv hinzuwirken“? Wir Bürger in Deutschland, die sich der von Putin angegriffenen internationalen Friedens- und Rechtsordnung verpflichtet wissen, verfügen nun über einen anderen Maßstab für das jetzt gebotene Ziel gegenüber der russischen Staatsführung unter Putin. Ein Tribunal für das Völkerrechts-Verbrechen der Aggression!

An dieser Forderung werden wir unsere Politik messen: Wird unsere Politik durch Taten der historischen Würde gerecht, die Präsident Wolodymyr Selenskyj vor dem Deutschen Bundestag und die der “Aufruf von London 1942 und 2022“ bezeugt haben?

*1) FAQ. IGH und IStGH zu Russland. Ein Krieg, zwei Gerichte. Stand: 17.03.2022. Von Frank Bräutigam, ARD-Rechtsredaktion; https://www.tagesschau.de/ausland/europa/igh-zu-ukraine-103.html

*2) Op-Ed: Putin’s crime of aggression in Ukraine and the International Criminal Court. BY VICTOR PESKIN AND MIECZYSŁAW P. BODUSZYŃSKI. MARCH 5, 2022; https://www.latimes.com/opinion/story/2022-03-05/vladimir-putin-crime-aggression-ukraine-international-criminal-court. Die Autoren weisen darauf hin, dass Russland sich für die Invasion der Ukraine weder auf eine Autorisierung durch den UN-Sicherheitsrat, noch auf Selbstverteidigung berufen kann. (Übersetzung RS).

*3) Uta Zapf. Tod der Weltfriedensordnung. Putin ignoriert das Völkerrecht. In seinem brutalen Machtspiel ist es keine Kategorie mehr. Es herrscht ein Klima der Straflosigkeit. 15.03. 2022. (Uta Zapf war von 1990 bis 2013 Mitglied des Bundestags. Ab 1998 war sie Vorsitzende des Unterausschusses Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestags); https://www.ipg-journal.de/rubriken/aussen-und-sicherheitspolitik/artikel/tod-der-weltfriedensordnung-5799/? 

*4) Zwei Gruppen herausragender Persönlichkeiten sind hervorzuheben: Zum einen fordern die beiden ehemaligen Premierminister Großbritanniens, Gordon Brown (Labour-Party) und Sir John Major (Conservative Party) gemeinsam mit derzeit etwa 140 Akademikern, Schriftstellern, Juristen und Politikern ein neues Internationales Tribunal. Dies soll Präsident Putin und seinen Führungskreis wegen des Verbrechens der “Aggression“ gegen die Ukraine nach internationalem Recht belangen. Im Rahmen dieses Auftrags solle das Tribunal nach dem Vorbild der Nürnberger Prozesse gegen Nazi-Kriegsverbrecher (1945 – 1949) Recht sprechen und eng mit dem ISTGH zusammenarbeiten. (*4a) War in Ukraine: Gordon Brown backs Nuremberg-style trial for Putin. By Kathryn Snowdon & Lauren Turner. 19.03.2022; https://www.bbc.com/news/uk-60803155). Eine zweite hochrangige Gruppe, die ein Strafgerichts-Tribunal für ein Urteil über das Verbrechen der “Aggression“ gegen die Führung des Präsidenten Putin fordert, ist “The Elders Foundation“ mit Sitz in London. “The Elders“ verstehen sich als politisch unabhängige Persönlichkeiten, die ihre gemeinsame Erfahrung und Urteilskraft weltweit für Frieden, Gerechtigkeit und Menschenrechte einsetzen. Die Gruppe wurde 2007 von Nelson Mandela gegründet und wird heute repräsentiert durch: Ban Ki-moon (Deputy Chair), Gro Harlem Brundtland, Zeid Raad Al Hussein, Hina Jilani, Ellen Johnson Sirleaf, Ricardo Lagos, Graça Machel (Deputy Chair), Juan Manuel Santos, Mary Robinson (Chair) and Ernesto Zedillo. Martti Ahtisaari, Ela Bhatt, Fernando Henrique Cardoso, Lakhdar Brahimi, and Jimmy Carter are Elders Emeritus. (*4b) The Elders call for a criminal tribunal to investigate alleged crime of aggression in Ukraine. The Elders today call for a special criminal tribunal to investigate the alleged crime of aggression in Ukraine, and hold President Putin to account for the invasion of Ukraine’s sovereign territory. 5 March 2022; https://theelders.org/news/elders-call-criminal-tribunal-investigate-alleged-crime-aggression-ukraine). RS-Hinweise: Der Einfachheit halber seien hier die Forderungen nach einem neuen Internationalen Tribunal, das über Putins Aggression gegen die Ukraine urteilen soll, als “Aufruf von London“ zusammengefasst. Die Frage scheint derzeit noch offen, ob der vorgeschlagene neue Gerichtshof in Abwesenheit der Angeklagten urteilen kann. Bei den Nürnberger Prozessen soll dies möglich gewesen sein.

*5) For Putin the pariah justice MUST come: Former PM GORDON BROWN knows from personal experience what a cold-blooded monster Russia’s president is… Here he announces an international campaign to put him in the dock for his war of aggression. By GORDON BROWN FOR THE DAILY MAIL. PUBLISHED: 18 March 2022; https://www.dailymail.co.uk/news/article-10629047/For-Putin-pariah-justice-come.html (Kernsätze ausgewählt und übersetzt von RS).

*6) Wolodymyr Selenskyj. Selenskyjs Rede vor dem Bundestag im Wortlaut. Der ukrainische Präsident hat sich in einer bewegenden Ansprache per Video an den Deutschen Bundestag gewandt. Lesen Sie hier die Rede im Wortlaut. 17. März 2022. https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-03/wolodymyr-selenskyj-rede-bundestag-ukraine. (Kernsätze ausgewählt von RS).

*7)  Joachim Weber. FOCUS-Online-Gastautor. Putin agiert brutal: Der Westen muss jetzt militärisch rote Linien ziehen. Samstag, 19.03.2022;  https://www.focus.de/politik/ausland/ukraine-krise/mehr-mut-zum-risiko-warum-der-westen-rote-linien-in-richtung-russland-verschieben-muss_id_69902048.html