Der Inselkrimi.

Eine Insel in der Nordsee — nennen wir sie Eilân — bietet vollständiges Fehlen von Abwechslung, Aufregung, Autos und eine Natur, die sich mit Strand und Dünen begnügt. Dennoch oder deshalb hat sich von hier der Inselkrimi verbreitet. Ich lese ihn nie — wie gesagt, keine Aufregung — dafür schreibe ich einen. Versprochen: Er ist kurz.

Fundsache.

Oliver „Olli“ Kellner ist ein Hamburger Jung, dort vor 40 Jahren als Wunschkind zweier Bilanzbuchhalter geboren, vollständig aus der Art dieses Elternhauses geschlagen, ein Hüne von zwei Metern, Berufsverbrecher und Vollstrecker des 75-jährigen Paten Antonio Cocinero. Der ist Inhaber der Firma PhaSi GmbH, die sich den Geschäftsfeldern „Pharma“-Vertrieb und „Sicherheits“-Dienste widmet. Olli führt Sonderaufträge in der Drogen- und Schutzgeld-Sparte durch.

Damit ist er zur Freude seiner Ehefrau Gina ein reicher Mann geworden. Olli hat eine gute Nachricht für Gina: Fertigmachen! Die Prinzessin wartet schon am Kai. Gemeint ist seine 15 Meter Motoryacht.

Cocinero erwartet ihn Ende Juni, noch zwei Wochen hin, zur Konferenz am Flughafen von Eilân. Konferenz heißt, Besprechung von Aufträgen ohne Zeugen, wie zufälliges Treffen unter Bekannten, höchstens eine halbe Stunde. Dann Abflug von Cocinero und für Gina und Olli Gelegenheit, ein Paar Tage Seeluft zu genießen.

Am verabredeten Tag hat sich Olli ein Fahrrad geliehen, den kleinen Rucksack mit Unterlagen gepackt und sitzt eine halbe Stunde vor dem 12 Uhr Mittags Termin auf einer Bank am Rande der Abstellplätze für die Flieger und wartet auf Cocinero. Olli sieht es als seine Stärke und Zuverlässigkeit, dass er alle Aufträge und Belege mit seiner Leica Q dokumentiert — und Chef Cocinero schätzt die Bild-Dokumente mehr als bloße Worte. Olli sieht sich eine Auswahl der Belege an, die er dem Chef zeigen will, bevor sie gelöscht werden.

Und da ist Cocinero schon. Beide sprechen am Zaun miteinander.

⁃ Kalle war bei mir, erzählt Cocinero, so klein mit Hut! Sah‘ schon mal besser aus.

⁃ Willst Du ihn sehen, nachdem ich ihn überzeugt habe, fragt Olli, und zeigt einen Bildbeleg.

⁃ Mann! Ey! Das hält für drei Jahre vor. Wenn nun auch Elli ihre Zicken zu doll treibt, geh‘ anders ran, ich mag ihren Mund und ihre Zähne, wenn sie mir Märchen erzählt.

⁃ Weißt Du, Antonio, bei Elli reichen ein paar von diesen Bildchen vor dem Einigungsgespräch.

Dann, razz-fazz, die Geschäftsergebnisse, neue Aufträge, zur Freude von Olli nichts Dringendes, Gruß und Kuss an Gina, und es reicht völlig, wenn Du in einer Woche wieder in Hamburg bist. Macht Euch ein paar schöne Tage, der Job ist hart genug.

Und weg war Antonio Cocinero. Olli sieht dem Flieger nach, winkt und setzt sich erleichtert auf die Bank. War gut gelaufen. Er holt den Flachmann raus und lässt es ordentlich gluckern. Ah, was für ein schöner Tag! Jetzt ab zu Gina, da gibt es Krabben satt mit Rührei und Champagner. Auf den Drahtesel und ab dafür!

Eine halbe Stunde später kommt ein Wanderer den krautigen Weg entlang und sieht neben einer Bank in der Nähe des Flughafens einen dunklen Gegenstand. Es ist eine Kamera, Leica Q. Heinz-Edgar Schott, Bilanzbuchhalter im Ruhestand, selbst passionierter Hobby-Fotograf, erkennt sofort den hohen Wert des Fundes. In seiner Ferienwohnung angekommen, verfasst er eine Übersicht — Fundsache, Fundzeit, Fundort mit Skizze, Finder mit Adressdaten auf Eilân und in seiner Heimatstadt Hamburg, Wert des Fundes ca. 4000 Euro. Für das Fundbüro am nächsten Vormittag.

Ein milder Sommertag auf Eilân, Schäfchenwolken und klare Sicht bis zum Horizont, wo drei Riesenpötte ganz sachte nach Osten gleiten, schläfrige Erholung am Nachmittag, der Abend kommt und Gina sagt: Wie schön die Sonne und die Wolken, mach‘ mal ein Foto. Olli kramt und schreit, verdammt, wo ist die Kamera? Er schafft es, noch ein Fahrrad aufzutreiben und steibt zum Flughafen — nichts …

Am nächsten Tag hat Heinz-Edgar noch vor 9.30 Uhr die Fundanzeige abgewickelt und geht zufrieden in ein Café.

Bei Gina und Olli sieht es düster aus. Wo ist die Leica? Wer hat diese Dokumentensammlung in der Hand. Mit all den „Belegen“ für Cocinero?

Erst gegen Mittag, als letzte ungläubig-verzweifelte Zuflucht lässt Olli Gina beim Fundbüro von Eilân anrufen. Beide zweifeln an ihrer Menschenkenntnis, als sie erfahren, dass eine Leica abgegeben wurde. Sie sollen vorbeikommen, Angaben zu den Bildern, Ort und Zeit des Verlustes machen.

Olli schickt Gina, hat sie genau instruiert: Du bist Maskenbildnerin. Bei einer Krimiproduktion eingesetzt. Entsprechend die Fotos, die auf der Kamera sind. Marmorierte Köpfe und blutige Szenen. Geldbündel etc. Der Beamte im Fundbüro sieht von Gina beschriebene Fotos, zwei reichen ihm. Der mutmaßliche Ort und die Zeit des Verlustes stimmen auch.

Ein Finderlohn von 200 Euro wird angeboten und Heinz-Edgar telefonisch benachrichtigt.

Und er wird zu einem opulenten Abendessen an Bord der Yacht eingeladen, um ihm wegen der Kamera auf den Zahn zu fühlen. Treffpunkt am Hafen, erste Bank links vom Büro des Hafenmeisters, bitte mit Zeitung aufmerksam machen.

⁃ Und, bitte, bringen Sie ihre Gattin mit.

⁃ Ich bin leider verwitwet. Meine liebe Annerose ist vor zwei Jahren verstorben.

⁃ Eine Bekannte dann?

⁃ Kenne hier niemanden. Lebe allein.

Olli sieht ihn sogleich. Heinz-Edgar, zwei Tage vor der Abreise, ist schon etwas knapp bei Kasse und hat das Gefühl, ein wenig Nachdruck bei der Belohnung für seine Ehrlichkeit könne nicht schaden.

Ein Bilanzbuchhalter, so erzählt er Olli, kennt nicht nur den Preis, sondern auch den Wert der Dinge. Eine schöne Kamera ist das, ich kenne mich aus damit, sagt er, ein Kunde und Freund hat die auch und mir gezeigt, wie praktisch sie ist. Und nicht zu denken an den Verlust der für Sie sicher besonders wertvollen Bilder.

Da dieses Gespräch Heinz-Edgar doch etwas peinlich und deshalb anstrengend ist, merkt er nicht, dass Ollis Augen schmal werden. Es ist nicht nur die Erwähnung des Berufs Bilanzbuchhalter, der Ollis alten, alten Hass auf seine strengen Buchhalter-Eltern nun gegen Heinz-Edgar richtet. Es ist vor allem der Gedanke, dass Heinz-Edgar die Gelegenheit genutzt hat, in das Archiv seiner Taten zu blicken. Deutet sich Erpressung an?

Solche Bilder sind sicher wertvoller für einen so wohlhabenden Mann wie Sie als die Kamera selbst, schwätzt Heinz-Edgar in seiner Unsicherheit und zugleich im Bestreben, doch etwas mehr aus dieser unverhofften Begegnung mit Reichtum zu machen als 200 Euro.

Also doch! Das läuft auf Erpressung hinaus. Olli sagt in mildem Ton: Alles kein Thema, lieber Herr Schott! Aber kommen Sie doch erstmal an Bord. Gina wartet schon mit Krabben und ihren kreativen Zutaten, so kommen Sie, wir werden als Freunde auseinandergehen, seien Sie sicher!

Olli bringt den staunenden Heinz-Edgar zur „Prinzessin“. Gina ruft: Herzlich willkommen an Bord, komm‘ zu … Mutti, denkt Heinz-Edgar noch, als er eine Berührung an seinem Hals fühlt. Dann erlöschen seine Sinne. Noch in der Nacht wird Heinz-Edgars Ferienwohnung wie zur Abreise ausgeräumt und hergerichtet.

Drei Wochen später. Ein scharfer Ostwind hat die ganze Nacht getobt. Frau Ena Gräfin Contani ist früh am Strand von Eilân und sucht Bernsteine. Drei kleinere hat sie schon aus schwarzen Schichten angeschwemmten, fossilen Holzes schimmern sehen. Dann jedoch entdeckt Gräfin Ena etwas Besonderes: Ein Medaillon, Porzellan mit Rosen bemalt, eine antike Handarbeit, eingefasst in Gold, der Deckel auf der Rückseite lässt sich öffnen und gibt das Bildnis einer schönen jungen Dame frei. Gräfin Ena entnimmt es, um Hinweise auf den Besitzer zu finden. Auf der Rückseite steht: Für Heinz-Edgar in Liebe Annerose. Mehr nicht. Und doch so viel …

Am nächsten Tag füllt die Beamtin im Fundbüro das Formular für Gräfin Ena aus. Fundort: Strand. Fundsache: Anhänger.