Der Schuld-Verschiebebahnhof *)

 

Brexit rettet Leben, sagen viele Briten. Dies wird auch in den EU-Ländern registriert und debattiert.

1. Impf-Erfolge in Großbritannien.

Großbritannien ist von der Corona-Pandemie sehr hart getroffen worden, da es seine Grenzen u. a. wegen vieler weltweit tätiger Briten Anfang 2020 lange offen hielt, um ihnen die Rückkehr zu ermöglichen. *1)

Gisela Stuart, deutschstämmige Politikerin der Labour Party und Leiterin der britischen Kampagne zum EU-Austritt „Vote Leave”, hatte 2016 der EU eine “Blockmentalität“ vorgeworfen: „Wenn wir etwas durchsetzen wollen, was für uns von besonderer Bedeutung ist, wird dies mit immer mehr Mitgliedstaaten immer schwieriger.“ *2)

Dies scheint sich aus britischer Sicht derzeit zu bestätigen, da es um die lebensrettenden Impfungen gegen Corona geht: Geimpft sind in Großbritannien: 12 Mio. = 18 Prozent (der Bevölkerung, RS). EU: ebenfalls 12 Mio. = 2,7 Prozent. Deutschland: 2,3 Mio. = 2,8 Prozent. *3)

Und so konstatiert das einflußreiche Massenblatt BILD: „Angela Merkel und Ursula von der Leyen bekamen eine historische Chance auf dem Silbertablett serviert. Schnell und ausreichend Impfstoff für Europa zu beschaffen, hätte gereicht, um nicht nur Zehntausende Leben und Millionen Arbeitsplätze zu retten – sondern gerade nach dem Brexit zu zeigen: als Gemeinschaft ist man stärker als der Einzelne! Sie haben diese Chance verpasst.“ *4)

Ein britisches Pro-Brexit-Massenblatt titelt: “Thank God we left“ (Daily Express, 11. Januar 2021). Ist die britische Leistung hoher Impfzahlen wirklich mit dem Brexit zu erklären? Oder ist diese Leistung der von Premier Boris Johnson früh eingesetzten “Impf-Arbeitsgruppe“ (Vaccine Taskforce) unter Leitung von Kate Bingham geschuldet? *3) *5)

Der Auftrag des Premiers an Kate Bingham, herausragend erfahrene Biochemikerin und Unternehmerin im Sektor für Risikokapital: Leben retten und bis Mitte Februar 2021 15 Mio. Briten zu impfen. Ms. Bingham akzeptierte die Aufgabe — unbezahlt bis zum Jahresende 2020.

Hochrangige britische und amerikanische Wissenschaftler würdigten die Leistung von Kate Bingham als Vorsitzende der Impf-Task Force *6):

  • Bingham und ihr Team hätten nicht nur 350 Mio. Impfdosen von sechs verschiedenen Impfstoffen bei pharmazeutischen Firmen weltweit beschafft, sondern auch eine leistungsfähige Infrastruktur für Produktion, Verteilung und klinische Erprobung für die Zulassung von Impfstoffen aufgebaut.
  • Iain Foulkes, head of commercialisation for Cancer Research UK: „Die Impf-Task Force und ihre Führung haben die Fähigkeit des UK transformiert, Impfstoffe zu beschaffen, zu produzieren und zu verteilen. Diese Arbeit wird sich als entscheidend dafür erweisen, dass ein wirksamer Impfstoff schnell verabreicht werden und ein Ende der verheerenden Pandemie bringen kann“.
  • Sir Gregory Winter, Nobelpreisträger für Chemie 2018: Kate Bingham „hat nicht nur ein exzellentes Verständnis der grundlegenden Wissenschaft, sondern auch außerordentliche Erfahrung in den Prozessen und Problemen, um wissenschaftliche Innovationen kommerziell anzuwenden und zu nutzen.“ Zu öffentlicher Kritik, weil die Impf-Task Force Geld für Medienberater ausgab, sagte Sir Gregory, „der Auftrag an Medienberater überrascht mich nicht. Selbst wenn ein Impfstoff so sicher und wirksam ist, wie Wissenschaftler zu hoffen wagen, muss doch die Bevölkerung überzeugt und mit der Impfung einverstanden sein.“
  • Peter Hale, Geschäftsführer der amerikanischen “Foundation for Vaccine Research in Washington DC“, urteilte über Binghams Kommunikation zum Impfprozess: „Sie hat Medienrummel vermieden und Zeit für Erklärungen aufgewendet, hart gearbeitet, um die Kommunikationskanäle immer offen zu halten. In den USA (“Operation Warp Speed“) wurde uns radikale Transparenz zugesagt, statt dessen bekamen wir radikale Undurchsichtigkeit. Das Gegenteil sahen wir bei Kate und ihrem Team.“

Trotz des föderal strukturierten UK, trotz des heterogenen 67 Mio.-Volkes der Briten (Waliser, Engländer, Schotten, Nord-Iren, Briten mit Migrationshintergrund ca. 13 %) wurden im internationalen Vergleich größerer Länder beste Impfresultate erzielt. Kate Bingham stellte dazu klar: „Dies hat nichts mit dem Brexit zu tun, sondern damit, dass wir organisiert waren“. *5)

2. Deutsche Impftrödelei — Schuld-Verschiebebahnhof Richtung EU?

Die EU und die deutsche Bundesregierung scheinen ihr viel beklagtes “Versagen“ mit großtönenden Phrasen überspielen zu wollen; wir hören diese fast täglich von den Akteuren:

  • Man hat in schwieriger Lage das Menschenmögliche getan.
  • Niemand ist sicher, bevor nicht alle sicher sind.
  • Das Virus ist der gemeinsame Feind.
  • Es lebe Europa.

Niemand setzt sich mit der kritischen Analyse des Publizisten und FDP-Politikers Helmut Markwort zur Impf-Politik auseinander *7):

  • Wie bei vielen anderen Themen auch erwies sich die gepriesene “europäische Lösung“ als Tarnwort für “lange Bank“.
  • Die Extrawünsche der 27 EU-Mitglieder kosten Zeit. Besonders die eifersüchtigen Franzosen und ihr Gefolge richteten Schaden an. Ihnen missfiel, dass große Summen an eine deutsche Firma mit amerikanischem Partner fließen könnten. Auch der französische Pharmakonzern Sanofi sollte profitieren. Der lieferte aber nur Ankündigungen.
  • Die deutsche Regierung muss sich das Versagen der EU ankreiden lassen. Eine einflussreiche Nation wie Deutschland hätte einen Weg finden müssen, ihre eigenen Bürger optimal zu versorgen und gleichzeitig in der EU loyal zu agieren.

Rolf-Dieter Krause, ehemaliger Leiter des ARD-Studios Brüssel und vertraut mit Interna und Funktionsweise der EU, stellte fest: „Die EU hat in den letzten Jahren ohnehin um ihr Ansehen zu kämpfen. Hier hat man ihr eine Aufgabe übertragen, der sie einfach nicht gewachsen ist.“ *3)

Recht hat EU-Insider Rolf-Dieter Krause. Aber war der deutschen Regierung mit ihrer EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 etwa unbekannt, dass die EU weder zuständig noch geeignet sein könnte, die Impfstoff-Beschaffung zügig zu organisieren? Und warum wurde der EU dennoch diese operative Aufgabe übertragen?

Bekanntlich ist eine “EU-Gesundheits-Union“ ein sehr weit entferntes Zukunftsziel. Wie die EU selbst feststellt: Auf absehbare Zeit liegt die “primäre Verantwortung dafür, Gesundheitsdienste und medizinische Leistungen zu organisieren und zu erbringen, bei den Mitgliedsländern der EU. Die EU dient deshalb der Ergänzung nationaler Politik.“ *8)

Diese Zuständigkeitsverteilung zwischen der EU und den Mitgliedsländern in der Gesundheitspolitik erklärt zweierlei:

  • Dass als EU-Kommissarin für Gesundheit mit Stella Kyriakides eine Politikerin und Psychologin aus Zypern (!) ernannt wurde. Ihr Vorgänger war der litauische (!) sozialdemokratische Politiker Vytenis Povilas Andriukaitis, mit einem medizinischen Grad und einem Abschluss als Historiker. Diese Ernennungen von Gesundheitskommissaren aus peripheren, kleinen EU-Ländern erklärt den Rang der EU-Gesundheitspolitik gegenüber den Zuständigkeiten der Mitgliedsländer und innerhalb der EU-Kommission!
  • Deshalb bleibt es schleierhaft, warum die komplexe Aufgabe der Impfstoff-Beschaffung und Verteilung an die damit offenkundig überforderte EU übertragen wurde. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ließ durchblicken, er habe Bundeskanzlerin Merkel vor dieser Entscheidung gewarnt. Spahn hatte bereits eine einflussreiche Länder-Gruppe organisiert (Deutschland, Frankreich, Italien, Niederlande), um Impfstoffe für die EU zu beschaffen. Dann übernahm jedoch die Kanzlerin (“Chefsache“) und damit wurde Stella Kyriakides aus Zypern verantwortlich, die bei Pharma-Unternehmen unbekannt war. So rückte wohl Thierry Breton, bedeutender französischer Unternehmer und Politiker als “EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen mit der erweiterten Zuständigkeit für Verteidigung und Raumfahrt“ in das Zentrum der Entscheidungen, sicher um den französischen Pharmakonzern Sanofi ins Impfstoff-Geschäft zu bugsieren. Das führte zu dem oben von Markwort beschriebenen Debakel bei der Impfstoff-Beschaffung, weil von Sanofi zwar Ankündigungen, aber kein Impfstoff kam.

Frau von der Leyen als Präsidentin der Kommission muss nun im seit Jahrzehnten üblichen “Schuld-Verschiebebahnhof“ *9) als EU-Sündenbock für nationale Fehlentscheidungen herhalten. Sie hat die wohl von Kanzlerin Merkel und Staatspräsident Macron vereinbarte deutsch-französische Interessenpolitik auf dem Impfstoff-Sektor auszubaden, die in Wirtschaft, Medien und von Experten heftig kritisiert wird.

Trotz wohlfeiler Schuld-Verschiebung von der deutschen Bundesregierung zur EU muss die Bagatellisierung der “Impf-Trödelei“ in Deutschland durch Daniel Caspary, MdEP, die Menschen empören: „Bis zum Sommer hätten fünfzig Millionen Deutsche ihr Impfangebot im Briefkasten, wiederholt Caspary das Versprechen der Kanzlerin. Dann würde niemand mehr fragen, wer am Impf-Beginn schneller gewesen sei.“ *3) Der Herr mag recht haben; denn Tote reden und fragen nicht …

Caspary ist Vorsitzender der deutschen CDU/CSU-Parlamentarier im Europäischen Parlament. Seine Behauptung, niemand werde im Sommer 2021 mehr fragen, wer am Impf-Beginn schneller gewesen sei, ist bei täglich zwischen 500 und 1000 Corona-Toten in Deutschland nichts weniger als skandalös! Der Präsident des Europäischen Instituts für Internationale Wirtschaftsbeziehungen, der Ökonom Paul Welfens, schätzt: „Insgesamt wird die deutsche Impf-Trödelei rund 15.000 Menschenleben kosten“. *10)

Wer wundert sich noch über den “Schuld-Verschiebebahnhof“ Richtung EU?

*) Den Ausdruck “Schuld-Verschiebebahnhof“ verdanke ich Hans-Jürgen Moritz, siehe *9).

*1) Covid: Why hasn’t the UK banned all international flights? By Eleanor Lawrie. BBC News. 09.02.2021; https://www.bbc.com/news/explainers-55659926. In der kontroversen Debatte des März 2020 wird u. a. angeführt, das: „An inquiry into the pandemic suggested it was understandable the government ´did not consider it practical or effective simply to restrict flights` at that time, partly because there were so many British residents trying to get home.“

*2) Britische Politikerin Gisela Stuart über Brexit-Vorteile — Drohender EU-Ausstieg. „Für den Brexit einzutreten bedeutet nicht, dass man ein Spinner ist”. 13.04.2016, von Jochen Buchsteiner, faz.net.

*3) TV-KRITIK: Hart aber fair: Kann Europa Krise? VON SIMON STRAUSS. AKTUALISIERT AM 09.02.2021; faz.net. Siehe dazu auch: Josef Nyary. TELETÄGLICH. VERÖFFENTLICHT AM 9. FEBRUAR 2021. Impfstoff-Zoff in „hart aber fair“: Knallharte Kritik an Ursula von der Leyen; https://nyaryum.de/category/teletaeglich/

*4) KOMMENTAR ZUR EU-IMPFSTOFFBESCHAFFUNG. Chance verpasst. Artikel von: FILIPP PIATOV, veröffentlicht am 09.02.2021; bild.de

*5) Covid-19: Vaccination targets could be exceeded, says Kate Bingham. Published 8 January 2021; https://www.bbc.com/news/uk-politics-55591470 (Übersetzung RS).

*6) Coronavirus treatment. Scientists defend controversial head of UK vaccine task force. Clive Cookson in London NOVEMBER 13 2020; https://www.ft.com/content/9f08cd41-c895-4138-ba37-6f9c36fcef31 (Übersetzung RS).

*7) FOCUS Magazin Nr. 02 (2021). Helmut Markworts Tagebuch. Wie die Umständlichkeit der EU den deutschen Bürgern geschadet hat. FOCUS-Autor Helmut Markwort. Sonntag, 10.01.2021; https://www.focus.de/politik/deutschland/tagebuch-wie-die-umstaendlichkeit-der-eu-den-deutschen-buergern-geschadet-hat_id_12846089.html. (Obige Punkte sind wörtlich zitiert, RS).

*8) European Commission. EU Health Policy. 2021; https://ec.europa.eu/health/policies/overview_en. (Übersetzung RS).

*9) Kommentar von Hans-Jürgen Moritz. Von der Leyen nimmt gern den Mund zu voll — doch EU kuschelt lieber statt abzurechnen. Mittwoch, 10.02.2021; https://www.focus.de/politik/kommentar-von-hans-juergen-moritz-statt-abrechnung-europaabgeordnete-kuscheln-mit-von-der-leyen_id_12965235.html

*10) TODESFÄLLE STEIGEN EXPLOSIONSARTIG. Deutsches Impf-Debakel: Experte wirft Regierung grobes Versagen vor — „15.000 Corona-Tote wegen Trödelei“, von Mara Rehfisch. Aktualisiert: 16.12.2020; https://www.merkur.de/welt/coronavirus-impfstoff-deutschland-spahn-merkel-bundesregierung-tote-impfung-90132032.html