Zwischen Aggression und Resignation.

 

Der verschärfte Lockdown gefährde wirtschaftliche Existenzen, mache einsam und drücke auf das Gemüt — so hörten wir Bundespräsident Steinmeier im TV. *1) Die Lage erscheint weit gefährlicher.

1. Derzeit trügerische Ruhe?

Feuer gelegt, Autos zerstört, Geschäfte geplündert — in zehn Städten der Niederlande, darunter Amsterdam, Den Haag und Rotterdam, wüteten jugendliche Horden zu Hunderten gegen die Einschränkungen (Ausgangssperre) wegen der Corona-Pandemie. *2)    

Könnte dies auch in unserem Land drohen? Sieht der Bundespräsident eher die Älteren, wenn er Einsamkeit und gedrücktes Gemüt beklagt? Müssen wir nicht bei hoch erregten und gewaltbereiten Jugendlichen mit Zusammenrottung, Aggression und Krawall rechnen — wie im Corona-Sommer 2020 z. B. in Stuttgart oder Frankfurt?

Gewiss halten die meisten Menschen sich an die Regeln und die eingeschränkten Kontakte, die zu Recht geboten sind. Aber schwerste Ausschreitungen können von einigen Hundert Gewalttätern angezettelt werden.

In einem Wahljahr mit harten Konflikten um das “Versagen“ der EU und der Bundesregierung, die eigene Bevölkerung durch ausreichenden Impfstoff zu schützen, wächst ein breites Umfeld der Empörung.

Es gibt leider genug Erfahrungen, dass Gewalttäter solchen vermeintlichen Rückraum der stillschweigenden Billigung von Protest bis hin zur Gewalt als Rechtfertigung nutzen. Und die leider allzu berechtigt erscheinende Kritik an der Politik mag verbreitete Wut nähren.

2. Politikversagen in der Pandemie?

Verriss der Impfpolitik von EU und Bundesregierung häuft sich zwar in allen politischen Lagern. Härter kritisieren jedoch führende Presse-Journalisten. Ihre Kritik wird hier wiedergegeben, da die “öffentlich-rechtlichen“ TV-Programme eher auf Regierungskurs zu berichten scheinen.

So urteilt der angesehene Publizist und FDP-Politiker (MdL Bayern) Helmut Markwort: *3)

  • Die Peinlichkeit ist gewaltig. Während in Israel, Großbritannien und den USA Millionen Bürger schon gegen Corona geimpft sind, hängen Deutsche frustriert in telefonischen Warteschleifen. Es fehlt an dem Impfstoff, der in Deutschland entwickelt wurde.
  • Gesundheitsminister Jens Spahn .. lässt sich mit Hoffnung auf mehr Impfdosen zitieren, obwohl er hätte handeln können, anstatt zu hoffen. Die Mainzer Firma Biontech hatte Zigmillionen von Impfdosen angeboten, aber die deutsche Regierung verschob die Entscheidung nach Brüssel.
  • Wie bei vielen anderen Themen auch erwies sich die gepriesene „europäische Lösung“ als Tarnwort für „lange Bank“.
  • Die Extrawünsche der 27 EU-Mitglieder kosten Zeit. Besonders die eifersüchtigen Franzosen und ihr Gefolge richteten Schaden an. Ihnen missfiel, dass große Summen an eine deutsche Firma mit amerikanischem Partner fließen könnten. Auch der französische Pharmakonzern Sanofi sollte profitieren. Der lieferte aber nur Ankündigungen.
  • Die deutsche Regierung muss sich das Versagen der EU ankreiden lassen. Eine einflussreiche Nation wie Deutschland hätte einen Weg finden müssen, ihre eigenen Bürger optimal zu versorgen und gleichzeitig in der EU loyal zu agieren.

Die Kritik Markworts wirkt deshalb so vernichtend, weil die EU-Kommissionspräsidentin, Ursula von der Leyen, Wochen brauchte für das Eingeständnis, das Markworts Vorwürfe bestätigt: „Rückblickend hätten wir stärker parallel über die Herausforderungen der Massenproduktion nachdenken müssen … Natürlich, ein Land kann ein Schnellboot sein, und die EU ist mehr ein Tanker.“ *4) Überdies hätte Deutschland im zweiten Halbjahr 2020 seine EU-Ratspräsidentschaft im Sinne der letztgenannten Forderung Markworts nutzen müssen. Der Schaden für das Ziel der Europäischen Integration scheint unabsehbar.

Mitte Januar 2021 hatte der Chefredakteur von BILD, Julian Reichelt, den Zweckoptimismus Spahns zurückgewiesen, die Impfstrategie der Bundesregierung als “Zeit der Zuversicht“ zu deklarieren: *5)

  • Viel weiter als mit dieser Einschätzung kann man sich von der Stimmung im Land kaum entfernen.
  • Die Bundesregierung hat es geschafft, durch ihre verheerende Einkaufspolitik beim Impfstoff alles zu brechen, was es an Impfeuphorie mal gegeben haben mag.
  • Die Bundeskanzlerin hat eingestanden, dass wir bis Anfang Juli (!) NICHT ausreichend Impfstoff haben.
  • Bei Millionen Impfwilligen schwinden mit jedem Tag Glaube an und Hoffnung auf einen baldigen Impftermin.

Und somit fällt Reichelt das Urteil “Politikversagen“:

Es werde „zu viel gestorben und zu wenig geimpft in Deutschland – leider beides von der Politik mitverschuldet … Wenn wir es nicht schaffen, deutlich schneller zu impfen, versinken wir im Dauer-Lockdown und gefährden die wirtschaftliche Zukunft unseres Landes!“ *5)

So viel zu der Weihnachtsbotschaft Bundespräsident Steinmeiers: “Das Licht am Ende des Tunnels wird heller“. *6) Hoffentlich behält unser Staatsoberhaupt Recht …

*1) Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Statement zur Lage in der Corona-Pandemie. 14. Dezember 2020; https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Berichte/DE/Frank-Walter-Steinmeier/2020/12/201214-Statement-Pandemie.html

*2)  Zehn Polizisten verletzt. Niederlande erleben erneute Krawallnacht. 26.01.2021; https://www.weser-kurier.de/deutschland-welt_artikel,-niederlande-erleben-erneute-krawallnacht-_arid,1955811.html.

*3) FOCUS Magazin | Nr. 02 (2021). Helmut Markworts Tagebuch. Wie die Umständlichkeit der EU den deutschen Bürgern geschadet hat. FOCUS-Autor Helmut Markwort. Sonntag, 10.01.2021; https://www.focus.de/politik/deutschland/tagebuch-wie-die-umstaendlichkeit-der-eu-den-deutschen-buergern-geschadet-hat_id_12846089.html. (Obige Punkte sind wörtlich zitiert, RS)

*4) Ursula von der Leyen im Gespräch. „Das hätten wir früher machen können“. Interview von Björn Finke, Brüssel. 4. Februar 2021; https://www.sueddeutsche.de/politik/von-der-leyen-interview-impfstoff-1.5196520?

*5) KOMMENTAR ZUR IMPF-STRATEGIE. Keine Zeit der Zuversicht! Von: JULIAN REICHELT, veröffentlicht am 13.01.2021; bild.de (Obige Punkte sind wörtlich zitiert, RS).

*6) DW NACHRICHTEN. Steinmeier: „Licht am Ende des Tunnels wird heller“.  25.12.2020; https://www.dw.com/de/steinmeier-licht-am-ende-des-tunnels-wird-heller/av-56054804