Dialog mit Venezuelas Regime?

Zu Beginn der 1980er Jahre war Venezuela eine Demokratie und Fluchtpunkt für viele Menschen, deren Leben in südamerikanischen Diktaturen bedroht war. Jetzt ergeht ein „dringender internationaler Aufruf: Die Gewaltspirale in Venezuela stoppen!“ *1)

Angesehene lateinamerikanische Wissenschaftler und Intellektuelle haben sich mit diesem Appell für ein Ende von Polarisierung und Gewalt engagiert. Wer wollte sich nicht wenigstens mit Unterschrift „dem Aufruf zu einem demokratischen, pluralen Dialog“ anschließen, um eine Gewaltspirale zu stoppen, die „bereits mehr als fünfzig Tote gefordert hat sowie Hunderte von Verletzten und Verhafteten, die an Militärgerichte überstellt werden“? *1)

Wer seine Unterschrift auch in Fragen der internationalen Politik so ernst nimmt wie im Geschäftlichen *2), der sollte abwägen. Gerade dann abwägen, wenn er den Gegenstand des Aufrufs nicht selbst beurteilen kann.

Halten wir uns an „neues deutschland, sozialistische tageszeitung“ (nd) — bekanntlich mit der geschichtlichen Verbindung der Parteien SED-PDS-DIE LINKE. Danach besteht folgende Dreiecksverbindung hinter dem in nd veröffentlichten Appell:

  • „Aussteller“ des Aufrufs seien „Intellektuelle, ehemalige Minister der Chávez-Regierung bis hin zu moderaten Oppositionspolitikern … Veröffentlicht wurde der Aufruf, den unter anderem der Soziologe Edgardo Lander, Chávez‘ ehemaliger stellvertretende Bildungsminister Nicmer Evans und der ehemalige Koordinator des Oppositionsbündnisses MUD, Enrique Ochoa Antich, unterzeichnet haben, auf der chavistischen Website aporrea.org.“ *1)
  • „Bezogene“ des Aufrufs sind ehrenwerte Intellektuelle Lateinamerikas und anderer Länder. Sie haben den Aufruf der mehr oder weniger dem „chavistischen“ Regime Maduros verbundenen „Aussteller“ aufgegriffen und ihrerseits einen unterstützenden Appell verfasst: „Dringender internationaler Aufruf. Die Gewaltspirale in Venezuela stoppen! Jenseits der Polarisierung hinsehen, was in Venezuela passiert.“ *1) Sie „bürgen“ als „Bezogene“ — trotz gleichmäßig verteilter Kritik an dem „chavistischen“ Regime Maduros und der Opposition — für den von ihnen unterstützten Aufruf der „Aussteller“ mit ihrer Glaubwürdigkeit: „Wir (erklären) uns solidarisch mit dem Aufruf (der „Aussteller“, RS) zu einem demokratischen, pluralen Dialog“. *1) Folgen wir diesem Aufruf durch Unterschrift, bürgen wir in gleicher Weise.
  • „Begünstigte“ des Aufrufs dürften die mit dem Maduro-Regime verbundenen gesellschaftlichen Gruppen sein, die — so vermuten Oppositionelle — an einem „Dialog“ mit irgendwie gearteter Verlängerung des Machterhalts interessiert sind. Das „chavistische“ Regime für „bolivarianischen Sozialismus“ wurde von Hugo Chávez vor fast 20 Jahren begründet.

Sprechen überhaupt politische Gründe gegen die immerhin humanitär naheliegend erscheinende Unterstützung eines Aufrufs zu „demokratischem, pluralem Dialog“ für ein Ende der Gewalt in Venezuela?

Werden im politischen Geschäft des venezolanischen Regimes die zu Frieden und Gewaltlosigkeit aufrufenden „Bezogenen“ von den „Ausstellern“ und „Begünstigten“ des Aufrufs benutzt? Oder lassen sie sich benutzen: „Als Linke setzen wir darauf, dass in Venezuela jenseits von Polarisierung und Gewalt eine andere Form von Dialog möglich ist. Die Auswege aus derartigen Krisen sind immer lang und kompliziert …“ *1)

Vielleicht könnte auch gefragt werden: Warum „lange und komplizierte Auswege“ durch „demokratischen, pluralen Dialog“? Sind die vielen Toten und Verletzten, die katastrophale Misswirtschaft in einem bedeutenden Erdöl-Exportland nicht Grund genug für international beobachtete, nach den bekannten Standards (frei und fair) organisierte Neuwahlen? Wäre dies nicht ein direkter demokratischer Weg gegen weitere Gewalt durch das Regime oder durch oppositionelle Extremisten?

Dialog? Alles schon da gewesen: „Regierung und Opposition in Venezuela wollen reden. Vatikan soll bei Verhandlungen über Maduros politische Zukunft als Präsident vermitteln.“ *3) Diese ganz große Nummer am Rande frivolen Missbrauchs der päpstlichen Würde und Autorität hat sich wohl als sinnlos erwiesen.

Und solche Vorgeschichte zum „demokratischen, pluralen Dialog“ mag auch bei internationalen Beobachtern Skepsis auslösen: *4)

  • Die Maduro-Regierung behauptet, die USA führten mit bezahlten Oppositionellen einen Wirtschaftskrieg gegen Venezuela. Dagegen seien die sozialen Errungenschaften der Chávez-Revolution zu verteidigen — mit Militärtribunalen und Milizen (bewaffnete zivile Regime-Anhänger, sogenannte „colectivos“). Ferner kündigte Staatspräsident Maduro am 1. Mai an, eine „Verfassunggebende Versammlung“ einzuberufen, um das Land zu befrieden.
  • Die Opposition behauptet, dass die Regierung Chávez-Maduro von Beginn an, seit 1998, die venezolanische Demokratie und Gewaltenteilung, Parlament und Verfassungsgericht, schrittweise aushöhle, und eine Diktatur wie in Kuba vorbereite. Die „Verfassunggebende Versammlung“ sei ein Versuch, das Parlament zu entmachten, die in diesem Jahr fälligen Regionalwahlen und die im Dezember 2018 anstehenden Präsidentschaftswahlen zu verschieben — alles Manöver des Regimes also, um länger an der Macht zu bleiben.

Professor Hector E. Schamis, Center for Latin American Studies-Georgetown University, fasst seine Skepsis zum Aufruf für „Dialog“ in folgende Worte: „Ständig werden dieselben Klischees benutzt. Der Begriff „Dialog“ — jedes Mal, wenn er beschworen wurde, diente er dazu, die Straßen zu räumen und die Fortdauer des Regimes zu garantieren. Was folgen wird, ist eine Verhandlung, und vielleicht ist es nötig, ein goldenes Exil zu gewähren. Nur vermeidet das Wort „Dialog“, weil es vergiftet ist. Das Übermaß von Wiederholung hat es zu einem Synonym für Komplizentum gemacht.“ *5)

Gleich wie der jetzt notwendige Prozess bezeichnet wird, „Dialog“ oder „Verhandlung“, bevor der wirtschaftliche Zusammenbruch und die Konflikte in Venezuela zu einem Bürgerkrieg ausufern, sollte das Ziel geklärt sein: Mit internationalen Beobachtern „die Bedingungen schaffen für freie, faire und glaubwürdige Parlamentswahlen“. *4)

Was ist nun mit dem in nd *1) publizierten Aufruf zum „demokratischen, pluralen Dialog“ und der solidarischen Unterschrift?

Erneut kommen Zweifel auf, wenn die in nd propagierte Beurteilung der Lage in Venezuela zur Kenntnis genommen wird: Die Berichterstattung in den internationalen Medien führe „in die Irre, denn die Toten gehen mitnichten nur auf die Konten von Regierung und Sicherheitskräften. Sie sind im Wesentlichen das Resultat sozialer Unruhen, die von einer Opposition geschürt werden, die sich mit geradezu psychopathologischem Starrsinn des »Chavismus«, des »Bolivarismus« und des »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« entledigen will.“ *6)

Eine solidarische Unterschrift für „demokratischen, pluralen Dialog“ zwischen einer Regierung, die an der Macht klebt, und einer “fragwürdigen Opposition psychopathologischen Starrsinns“ (Neuber)? Und jeder Versuch, sich durch Berichte „internationaler Medien“ über die Lage in Venezuela zu informieren, führe „in die Irre“ — nur nd-Lateinamerikaexperte Neuber sei im Besitz der Wahrheit?

Zu viele Fragen und Fragwürdigkeiten — selbst für eine einzige „solidarische“ Unterschrift!

*1) Debatte. Venezuela braucht den Dialog. 29.05.2017; https://www.neues-deutschland.de/artikel/1052537.venezuela-braucht-den-dialog.html?

Hinweis RS: Der vom Putschisten zum Parteiführer und mehrfach gewählten Staatspräsidenten Venezuelas aufgestiegene ehemalige Oberstleutnant Hugo Chávez hat „durch seine Politik, sein(en) Führungsstil und seine Medienauftritte .. sowohl international beachtete Kontroversen wie auch bedeutende Aufmerksamkeit und Anerkennung unter linken und globalisierungskritischen Gruppierungen hervorgerufen.“ Vor seinem Tod 2013 hatte Chávez seinen Stellvertreter Nicolás Maduro als Nachfolger bestimmt. Vgl.: https://de.wikipedia.org/wiki/Hugo_Chávez.

*2) Die bekannte Warnung an den vom „Wechselaussteller“ für einen „Begünstigten“ zahlungspflichtigen „Bezogenen“ lautet: „Schreibe hin, schreibe her, aber schreibe niemals quer“.

*3) Politik. Regierung und Opposition in Venezuela wollen reden. 30.10.2016; https://www.neues-deutschland.de/.

*4) Vgl.: Political Crisis in Venezuela. Council on Foreign Relations. 29.05.17. Contingency Planning Memorandum Update. Contingency Planning Memorandum by Patrick Duddy. March 30, 2015.

*5) EN ANÁLISIS. Democracia de todos. La crisis de Venezuela en América Latina. HÉCTOR E. SCHAMIS. 28 MAY 2017; http://internacional.elpais.com/internacional/2017/05/28/america/1495932573_365443.html. (Übersetzung, RS).

*6) Fragwürdige Opposition in Venezuela. Die Krise in dem südamerikanischen Land kann nur innerhalb des Chavismus gelöst werden, meint Harald Neuber. 31.05.2017; https://www.neues-deutschland.de/artikel/1052544.fragwuerdige-opposition-in-venezuela.html.