Die “Schere“ in Deutschland.

Ich schätze die Schere meiner Friseurin. Nagelscheren und das Geschenketui halte ich seit 40 Jahren ebenso in Ehren wie die Schneider-Scheren meiner Oma Olga. Was ich nicht schätze, ist die „Schere“ als linker politischer Kampfbegriff.

Gemeint ist die „Schere zwischen Reich und Arm“, die sich in Deutschland angeblich immer weiter öffnet. Mit dieser Propaganda verlor die für solche Thesen anfällige SPD krachend die Bundestagswahl 2013. Und die SPD musste diese erneute Niederlage hinnehmen, weil sie drei zentrale Grundsätze und Erfolgsbedingungen moderner Sozialdemokratie aus dem Blick verloren hatte. Solche Grundsätze hatten Tony Blair und Gerhard Schröder entwickelt und in der Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik umgesetzt. *1)

Diese drei Erfolgsbedingungen lassen sich zusammenfassend formulieren:

Erstens, Sozialdemokratie ist keine Protestbewegung, sondern strebt Regierungsführung an.

Zweitens, wirtschaftlicher Erfolg, unternehmerische Risikobereitschaft und Streben nach Wohlstand sind zu ermutigen und zu fördern. „Wir wollen eine Gesellschaft, die erfolgreiche Unternehmer ebenso positiv bestätigt wie erfolgreiche Künstler und Fußballspieler und die Kreativität in allen Lebensbereichen zu schätzen weiß.“ *1)

Drittens, nicht Reichtum ist also das Problem, sondern Armut und Ausgrenzung aus dem Arbeitsleben. Deshalb braucht „der Arbeitsmarkt einen Sektor mit niedrigen Löhnen, um gering Qualifizierten Arbeitsplätze verfügbar zu machen.“ *1)

Gleichwohl überdauert das Bild von der „Schere zwischen Arm und Reich, die sich in Deutschland immer weiter öffnet“. In Gesprächen vieler politisch Engagierter, vor allem Wohlhabender, was als Sensibilität für sozialen Zusammenhalt hier nicht kritisiert wird. Bei manchen Debatten mag eine Rolle spielen, dass für die USA nachvollziehbare Befunde *2) vorschnell auf Deutschland übertragen werden.

Hier geht es jedoch darum, Analyseresultate und wirtschaftspolitische Urteile für Deutschland zu referieren. Zunächst ein grober Überblick zur „Scheren“-Hypothese.

Unstrittig ist, dass etwa ab Mitte der 1980er Jahre die Globalisierung zu weltweit expandierendem Handel, Kapitalverkehr und Wettbewerb führte. Damit stiegen die Anforderungen an spezifische Qualifikationen von Arbeitnehmern für eine zunehmend „digitalisierte“ Weltwirtschaft. Deutsche Facharbeiter profitierten von dieser Entwicklung, entsprechend verstanden Gewerkschaften wie IG-Metall und IG-Chemie die Globalisierung auch als Chance.

Die deutsche Wiedervereinigung führte dann zu einer sich öffnenden „Schere“ der Ungleichheit durch v. a. hohe Arbeitslosigkeit. Bundeskanzler Gerhard Schröder, konfrontiert mit über 5 Mio. Arbeitslosen, stellte sich dem Problem, indem er die Notwendigkeit eines „Niedrig-Lohn-Sektors“ thematisierte und die Agenda-Reformen einführte. Die Beschäftigungserfolge dieser Politik sind heute offenkundig. Auch nach der Weltwirtschaftskrise 2008 – 2009 und der europäischen Staatsschuldenkrise ab 2011!

Fachleuten zufolge befindet sich die „Schere zwischen Arm und Reich“ seit der Agenda-Politik Schröders in Deutschland im „Ruhestand“. Da könnte sie bleiben, würde der alt-linke Kampfbegriff nicht immer wieder hervorgeholt.

Seit dem Sommer 2014 wird besonders kräftig mit der „Schere“ hantiert.

Den Anfang machte „Starökonom Thomas Piketty“, der im Kapitalismus des 21. Jahrhunderts die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden sieht. Seine Begründung: Die Rendite „r“ aus Vermögen (Zinsen, Dividenden, Mieten, Unternehmensgewinne und realisierte Gewinne auch aus Wertsteigerungen von Aktien, Immobilien, Kunst, Schmuck etc., RS) sei größer als das reale Wirtschaftswachstum “g“ (das sich zum erheblichen Teil in wachsenden Löhnen, Gehältern, Pensionen oder Sozialleistungen niederschlagen könnte, RS). Mit der Piketty-These hat ein angesehener Professor, der das Scherenbild gelegentlich vertritt, aufgeräumt.

Prof. Dr. Peter Bofinger ist ein gründlich arbeitender Gelehrter: „Piketty hat insofern recht, als unser Wohlstand zunehmend ungleich verteilt wird. Das ist in der Tat ein Problem für die Legitimation einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Leider enthält Pikettys Buch einen fundamentalen Widerspruch: Er stellt eine Theorie auf – widerlegt sie dann aber mit seinen eigenen Zahlen. Damit hat er sich selbst ins Knie geschossen … Wer sich die Mühe macht, in Pikettys Buch nicht nur das Vorwort zu lesen, findet auf Seite 356 eine Schautafel. Sie zeigt, wie sich r und g historisch entwickelt haben. Demnach stimmt Pikettys Theorie von Christi Geburt bis zum Jahr 1913: Die Rendite des Kapitals lag tatsächlich über dem realen Wirtschaftswachstum; r war größer als g. Doch seit 1913 ist es genau andersherum: Die Kapitalrendite liegt deutlich unter der realen Wachstumsrate, also: r kleiner als g.“ *3)

Wenn aber die Rendite auf Vermögen „r“ unter dem realen Wirtschaftswachstum „g“ liegt, dann ist zumindest nicht ausgeschlossen, dass die angeblich sich immer weiter öffnende “Schere“, die ständig wachsende (!) Ungleichverteilung in Deutschland sich als eine linke Täuschung, als linke Mystifikation, entpuppt. Suchen wir weiter nach Befunden!

Vor allem eine neue OECD-Studie hat die Debatte wieder angeheizt. *4) Die Arbeiten der OECD und ihrer Wissenschaftler gerade auch auf dem Gebiet der Beobachtung von Wirtschaftswachstum und Einkommensverteilung verdienen Hochachtung. Deswegen weckt der Beitrag „Focus on Inequality and Growth – December 2014“ zu Recht Interesse.

Hier sei der Einfachheit zuliebe von analysetechnischen Begriffen abgesehen. Für 19 OECD-Länder *5) wird geschätzt: Welche Folgen für das Wachstum der jährlichen Wirtschaftsleistung *6) pro Kopf der Bevölkerung zwischen 25 – 64 Jahren würden sich ergeben, wenn die Ungleichheit zwischen den verschieden Gruppen von Einkommensbeziehern zum Beispiel zunehmen würde. *4) *6)

In Bezug auf Deutschland ab 1991 wird von der OECD behauptet: Zwischen 1991 und 2010 ist die deutsche Wirtschaftsleistung um etwa 26 Prozent gewachsen. Wenn die Ungleichheit in Deutschland nicht zugenommen hätte, hätte sich die Wirtschaftsleistung um fast 32 Prozent erhöht. Also hat die sich öffnende „Schere zwischen Reich und Arm“ schädliche Auswirkungen auf den Wohlstand in Deutschland.

Nun sieht auch der ökonomische Laie, dass mit dieser Viel-Länder-Studie eine hypothetische „Modell-Analyse“ vorgelegt wurde. Frei nach Peer Steinbrück: „Hätte, hätte, Fahrradkette!“ Die OECD-Untersuchung gehört damit in die Gruppe der politisch eher belanglosen, aber wissenschaftlich durchaus interessanten „Was wäre, wenn“-Analysen.

Unstreitig gehören die Beziehungen zwischen Wirtschaftswachstum und Einkommensverteilung zum Kompliziertesten, was die ökonomische Theorie zu bieten hat.

Das Spektrum der Mutmaßungen ist daher weit: Von linken Ökonomen hört man, je mehr die Armen bekommen, desto zügiger wächst die Wirtschaft, da die Armen nicht sparen, sondern alle Einkommenszuwächse ausgeben. Diese Betrachtungsweise vernachlässigt kostentreibende Effekte, die Investitionen unrentabel machen könnten.

Unternehmen und vernünftige Industriegewerkschaften in Deutschland empfahlen deshalb über viele Jahre Lohnzurückhaltung. Gerade angesichts hoher Arbeitslosigkeit und von Mindestlöhnen in unserer östlichen EU-Nachbarschaft zwischen 1 bis 3 Euro stärkten sie damit die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft.

Vom großen Hamburger Sozialdemokraten Oswald Paulig, selbst studierter Volkswirt, habe ich schon Mitte der 1970er Jahre das Mantra notiert: „Unsere Unternehmen haben zu wenig Eigenkapital!“ Das hieß: Unternehmen brauchen Gewinne, um das Eigenkapital zu erhöhen, damit das Risiko vertretbar ist, unsichere Investitionen zu tätigen. Die Position Oswald Pauligs war damals gegenüber einer außer Rand und Band tobenden Linken sehr mutig. Diesen Mut gegenüber dem linken Dauerprotest gegen „Ungerechtigkeit und Reichtum“ zeigte auch das Schröder-Blair-Papier von 1999. *1).

Nun empfiehlt uns also die „Hätte-Hätte“-Analyse der OECD für den Länderreigen von USA, Mexiko bis zur Türkei: Umverteilung von oben nach unten fördert das Wachstum und den Wohlstand auch in Deutschland.

Damit ist jedoch die Frage nicht beantwortet: Öffnet sich überhaupt in Deutschland die „Schere zwischen Reich und Arm“ immer weiter?

Jeder Student lernt, dass Hypothesen nicht dadurch zu prüfen sind, dass man nach Zeichen sucht, die für sie sprechen. Hypothesen werden geprüft und bewertet, indem Fakten herangezogen werden, die gegen sie sprechen. Hypothesen müssen den Test der „Falsifizierung“ bestehen.

Auch wirtschaftlichen Laien könnte einleuchten, dass die „sich weiter öffnende Schere“ für Deutschland eine Hypothese ist, die seit Jahren wackelig erscheint. In der Weltwirtschaftskrise ab 2008 und in der EU-Staatschuldenkrise ab 2011 haben vor allem Zinsen, Gewinne und Vermögenserträge gelitten, während die Löhne, Gehälter, Renten und Pensionen stabil blieben. Das lässt eher ein „Schließen der Schere“ vermuten.

Dazu muss nun der spezialisierte wissenschaftliche Sachverstand konsultiert werden, der sich nicht — wie die OECD-Studie für ihre politischen Empfehlungen — auf hypothetische Szenarien, sondern auf Tatsachen, auf faktenbasierte Untersuchungen stützt.

Beginnen wir mit einer Studie des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) *7). Die DGB-Autoren kritisieren den über viele Jahre unbefriedigenden „Anteil der Arbeitnehmerentgelte am Volkseinkommen“ (Lohnquote): „Im Jahr 2008 setzte dann eine gegenläufige Bewegung ein. So stieg die Lohnquote erstmals seit vielen Jahren wieder. Im Krisenjahr 2009 und dem damit verbundenen stärksten Rückgang der Wirtschaftsleistung seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland stieg die Lohnquote auf 68,2 % und somit um mehr als 3 Prozentpunkte zum Vorjahr. Das heißt jedoch nicht, dass eine reale Einkommensumverteilung zugunsten des Produktionsfaktors Arbeit stattfand. Das zwischenzeitliche Hoch ist lediglich konjunkturell bedingt. Der starke Anstieg der Lohnquote liegt einzig daran, dass die gesamtwirtschaftlichen Unternehmens- und Vermögenseinkommen wegen der Turbulenzen auf den Finanzmärkten stärker einbrachen als das Volkseinkommen.“ *7)

Dies Resultat bestätigt die Vermutung, dass sich tendenziell die „Schere“ geschlossen hat. Weil — mit dem DGB vereinfacht ausgedrückt — die für Reichtum günstigen Faktoren „einbrachen“. Übrigens erreichte die Lohnquote im Jahre 2013 noch immer hohe 68 Prozent (www.destatis.de, 2014, Folie 27). Dies deutet nicht auf bloß konjunkturelle, sondern eher trendmäßige Verbesserung der Arbeitnehmerentgelte hin. Zumal die Vermögenseinkommen wieder ihr Vorkrisen-Niveau erreicht haben dürften.

Eine aktuellere empirische Analyse findet sich bei Stefan Bach vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Berlin. Bach kommt zu folgenden Resultaten *8).

Erstens: „Detailliertere Untersuchungen unter Einbeziehung der Top-Einkommen aus der Einkommensteuerstatistik zeigen, dass von 1992 bis 2005 nennenswerte reale Zuwächse bei den Markteinkommen nur für die reichsten 10% der Bevölkerung angefallen sind.“

Zweitens: „Seitdem scheint sich der Trend zunehmender Ungleichheit der Markteinkommen aber nicht mehr fortgesetzt zu haben. Dies ist vor allem auf die günstige gesamtwirtschaftliche Entwicklung, den dynamischen Arbeitsmarkt und die sinkenden Vermögenseinkommen zurückzuführen.“

Drittens: „In der mittleren Frist ist bei einer günstigen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und einer anhaltend guten Beschäftigungslage mit einer stärkeren Entwicklung der Masseneinkommen zu rechnen, so dass sich die Einkommensungleichheit insoweit leicht zurückbilden dürfte.“

Viertens, werde allerdings auf längere Frist das Verteilungsproblem wieder akut. Die „zunehmend spürbare demografische Alterung (wird) die Einkommensungleichheit im Bevölkerungsquerschnitt erhöhen, da die Alterseinkünfte zumeist niedriger sind als die Erwerbseinkommen und längerfristig Altersarmut ein zunehmendes Problem darstellen dürfte.“

Die „Schere zwischen Reich und Arm“ hat sich — folgt man der Analyse Bachs — somit seit 2005 eher geschlossen als geöffnet. Dies könne bei hohem Beschäftigungsstand auch auf mittlere Sicht erwartet werden. Längerfristig müsse den absehbaren demografischen Entwicklungen entgegengewirkt werden. Auch dazu finden sich die bekannten und seit Gerhard Schröders Agendapolitik empfohlenen Maßnahmen im Beitrag von Bach:

Mit bildungs-, wirtschafts- und sozialpolitischen Instrumenten lasse sich „die Vermögensbildung fördern, vor allem bei Altersvorsorge und Wohneigentum. Arbeitnehmer können sich mit Lohnbestandteilen am Erfolg ihrer Arbeitgeber beteiligen. Machtverschiebungen auf den Arbeitsmärkten durch demografische Trends, Arbeitsmarktregulierungen (z.B. Mindestlohn) und Sozialreformen (vor allem die Grundsicherung) können die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer stärken und, soweit sie nicht zu höherer Arbeitslosigkeit führen, wieder einen höheren Anteil des Volkseinkommens in die Kassen der Massen lenken. Längerfristig sollte man durch Bildung und gesellschaftliche Integration die Produktivität von Menschen erhöhen, die bisher nur geringe Einkommen erzielen können.“ *8)

Hierzu sei noch angemerkt, dass leider seit den 1970er Jahren die nachhaltige Förderung von Vermögensbildung für Arbeitnehmer durch sozialdemokratische Regierungen vernachlässigt und früher sogar aus gewerkschaftlichen Kreisen nicht selten als „Sozial-Klimbim“ abgetan wurde. *9)

Die Hartnäckigkeit, mit der gerade in intellektuell und gesellschaftlich hochstehenden Kreisen an der Hypothese der sich immer mehr öffnenden „Schere zwischen Reich und Arm“ in Deutschland festgehalten wird, überrascht angesichts der empirischen Befunde. Diese könnten auch sorgfältigen Lesern hier ergänzend zitierter Presseorgane durchaus aufgefallen sein.

Nehmen wir die ZEIT: „Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat kürzlich neue Berechnungen zur relativen Armut (d.h. im Vergleich zu einem Einkommensdurchschnitt, RS) vorgelegt. Danach hat die Armutsgefahr deutlich zugenommen – allerdings zwischen 1999 und 2004. Und danach nicht mehr … Die Forscher haben sich auch andere, vergleichbare Erhebungen angeschaut. Diese kämen alle zum selben Ergebnis, »nämlich einem deutlichen Anstieg des Armutsrisikos bis etwa 2005 und einem seitdem etwa gleichbleibenden Niveau«. Mit anderen Worten: Schon seit sieben Jahren wächst die Armut nicht mehr.“ *10)

Auch Schätzmethoden zur absoluten Armut (d.h. was Arme sich alles von durchschnittlich üblichen Waren (PKW, PC z.B.) oder von Dienstleistungen (Flug nach Mallorca, z.B.) nicht kaufen können, RS) ergeben: „Seit Beginn der Erhebung im Jahr 2005 liegt der Anteil der Not Leidenden in der hiesigen Bevölkerung bei rund fünf Prozent, ohne große Veränderungen, ohne klare Tendenz. Die fünf Prozent sind schlimm genug, aber von wachsender Armut kann keine Rede sein … Die Not wird nicht größer, sondern immer kleiner. Das ist die Bilanz der vergangenen Jahre. Vor allem Linke mögen das ungern eingestehen. Sei es aus sozialpolitischen Motiven, sei es aus parteipolitischen, schließlich könnte es ja jemand als Entwarnung verstehen. Dabei verhindert der Daueralarm – »Die Armut wächst!« – jede sinnvolle Überprüfung von Politik. Viele Medien tragen dazu bei … Nach dem alten Journalisten-Motto: »bad news are good news« – nur schlechte Nachrichten verkaufen sich gut.“ *10)

Besonders hohe auf Fakten gestützte Urteilskraft ist dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) eigen.

Der Vorsitzende des SVR, Prof. Dr. Christoph M. Schmidt, Präsident des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen, nahm zu folgender Frage Stellung: Aus dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung geht hervor, dass die Kluft zwischen Arm und Reich wächst. Sehen Sie die Gefahr einer Spaltung der Gesellschaft?

Prof. Schmidts Antwort: „In nahezu allen entwickelten Gesellschaften hat die Spreizung der Löhne zugenommen, in Deutschland noch vergleichsweise moderat. Wenn wir hierzulande von Armut sprechen, ist dies im Verhältnis zu einem relativ hohen Lebensstandard gemeint. Das ist nicht die existenzielle Not, die wir mit Armut in anderen Ländern verbinden. Eine soziale Marktwirtschaft wie in Deutschland verträgt es aber sicher nicht, wenn die Ungleichheit über ein gesellschaftlich akzeptiertes Maß hinaus wächst. Aber davon sind wir nach meiner Einschätzung noch weit entfernt. Wir haben ein außerordentlich hohes Maß an Umverteilung.“ *11)

In einem Rückblick auf das Jahr 2012, in dem sich die SPD mit einem linken Umverteilungsprogramm ganz fatal in Stellung für die Bundestagswahl 2013 brachte, heißt es ironisch: „Die ´Schere` war eines der beliebtesten Instrumente der Feiertagsrhetorik in diesem Jahr. Bischöfe, Politiker und Kommentatoren warnen vor dem Auseinanderklaffen der Schere zwischen Arm und Reich in diesem Land.“ *12)

Spaß an der Ironie beiseite. Nehmen wir den von Herrn Kister *12) zart angedeuteten moralischen Impuls ernst. Dazu ist dann jedoch die Kompetenz eines professionell ausgewiesenen Wirtschaftsethikers zu konsultieren. *13)

Prof. Dr. Christoph Lütge, der das Fach Wirtschaftsethik an der Technischen Universität München vertritt, hat — so das Deutschlandradio Kultur — den OECD-Bericht (s. *4) kritisiert. „Da sollte man einmal genauer hinsehen. Aus meiner Sicht wird hier viel zu schnell von Daten zu den Schlussfolgerungen gesprungen.“ Die von der OECD empfohlene Politik gegenüber „der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich“ sei voreilig. „Die Berechnungen der OECD für Deutschland müssten in ein Verhältnis zu der Situation in anderen Ländern gesetzt werden. Dieser Unterschied ist in anderen Ländern nach wie vor deutlich stärker. Jetzt hier in Deutschland nach Umverteilung zu rufen, erscheint mir schon etwas überraschend.“ *13)

Denn Deutschland stehe im Vergleich zu anderen Ländern „sehr gut da“ (Lütge). Lütge scheint eher die Gefahr zu sehen, dass der — für die SPD 2013 als fatal erwiesene — politische Kampfbegriff „Schere“ zwischen Arm und Reich „jetzt politisch dazu verleitet, eine hektische Betriebsamkeit zu entfalten“. Angesichts der massiven Verteilungspolitik durch die Bundesregierung könnte sich herausstellen, dass solche Betriebsamkeit „gar nicht viel bringt“. *13)

Welches Fazit riskiert nun der bloggende Politiklaie angesichts vielfach empfundener Empörung über „Scheren“ und soziale Ungerechtigkeit? Am besten gar keins gegen die Promotoren der „Political Correctness“.

Vielleicht nur zusammenfassend die Fragen zur „Schere“ in Deutschland: begrifflich, analytisch, empirisch, politisch und ethisch verfehlt? Und als Empfehlung? Ab und zu mal die „Schere im Kopf“ benutzen!

*1) Vgl. dazu das „Schröder/Blair-Papier“ von 1999. Eine qualitativ vergleichbare Politikanalyse für den Wandel in der globalisierten Welt ist bis heute keiner anderen Partei gelungen. „Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten. Ein Vorschlag von Gerhard Schröder und Tony Blair“ (London, 8. Juni 1999), www.glasnost.de/pol/schroederblair.html; „Europe: The Third Way/Die Neue Mitte – Tony Blair and Gerhard Schroeder“; www.labour.org.uk/views/items/00000053.html. Vor dem britischen Industrieverband CBI hatte Oppositionsführer Tony Blair bereits 1995 ausgeführt: „I want a tax regime where through hard work, risk and success, people can become wealthy. Britain needs successful people in business, who can become rich by their success.“ Siehe: Blair works hard for his reward to wealth. CBI conference: Labour leader wins biggest share of applause with pledges on competition and inflation economy. Peter Rodgers and Mary Fagan. Tuesday 14 November 1995; http://www.independent.co.uk/news/business/blair-works-hard-for-his-reward-to-wealth-1581920.html.

*2) Robert B. Reich, The Inequality Paradox, National Policy Association, Washington, D. C., April 10, 1997, S. 3 ff.

*3) Soziale Gerechtigkeit. Ins Knie geschossen. Von Neubacher, Alexander; spiegel.de, 02.06.2014. (Prof. Dr. Bofinger ist Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, RS).

*4) OECD (2014), „Focus on Inequality and Growth – December 2014“. This document as well as figures and underlying data can be downloaded via www.oecd.org/social/inequality-and-poverty.htm. Und: OECD, berlin/presse/einkommensungleichheit-beeintraechtigt-Berlin Centre › Presse › OECD-Papier: Einkommensungleichheit beeinträchtigt das Wirtschaftswachstum.

*5) Irland, Großbritannien, Niederlande, Schweden, Finnland, Norwegen, Österreich, Türkei, Belgien, Neuseeland, USA, Deutschland, Dänemark, Kanada, Frankreich, Japan, Spanien, Italien, Mexiko.

*6) Das „reale“ Bruttoinlandsprodukt bzw. die jährliche Wirtschaftsleistung entspricht (vereinfachend!) etwa dem Volkseinkommen, der Summe aller „realen“ Löhne, Gehälter, Gewinne, Mieten, Pachten, Zinsen und Dividenden in einem Land in einem Jahr. „Real“ heißt, die aufblähende Wirkung von Preissteigerungen auf diese Größen wurde herausgerechnet. Die Bezieher dieser Einkommen wurden in 10 Gruppen angeordnet: von den reichsten „obersten 10 %“ bis zu den ärmsten „untersten 10 %“. 2014 haben in allen OECD-Ländern die „obersten 10 %“ der Bevölkerung 9.5 mal soviel verdient wie die „untersten 10 %“. In den 1980er Jahren war es „nur“ 7 mal soviel. Die „Schere“ zwischen Reich und Arm hat sich also geöffnet im Vergleich zu den 1980ern. Kein Zweifel an diesem Befund für das OECD-Gebiet.

*7) DGBprofil – Verteilungsbericht 2011; http://www.sozialpolitik-aktuell.de/tl_files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Einkommen-Armut/Dokumente/DGB-Verteilungsbericht-2011.pdf. Ähnlich der SPIEGEL: „Die Statistik verzeichnet zwischen 2008 und 2012 einen Anstieg der gesamten Arbeitnehmerentgelte um 11,9 Prozent, während für Unternehmens- und Vermögenseinkommen im gleichen Zeitraum ein Minus von 1,4 Prozent zu Buche steht. Das spricht eher gegen eine zunehmende Ungleichheit …“; Münchhausen-Check. Das Kleingedruckte im Armutsbericht. Von Hauke Janssen; Donnerstag, 07.03.2013, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/faktencheck-zum-armuts-und-reichtumsbericht-der-bundesregierung.

*8) Stefan Bach, Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland: Trends und Perspektiven; http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2014/10/einkommens-und-vermoegensverteilung-zu-ungleich/. Eine Pressestimme: Unter Vermögen versteht die Bundesbank alles vom Geld auf dem Sparbuch über Immobilien, Fonds,Lebensversicherungen bis hin zum Goldschmuck und zum Auto; Der Tagesspiegel, Wirtschaft. Was sie vermögen. 24.3.2013, von Carla Neuhaus (Bundesbank-Studie: Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst / SPD und Grüne sehen Handlungsbedarf).

*9) BETRIEBS-PENSIONEN. Klimbim bleibt steuerfrei. 24.06.1959; http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-42625776.html. Ferner: ZUFRIEDENE MITARBEITER SIND PRODUKTIVER. Von wegen Sozial-Klimbim, von Olaf Storbeck; www.handelsblatt.com/politik/oekonomie/nachrichten/zufriedene-mitarbeiter …; 16.07.2007.

*10) Armut. Steigt der Anteil der Armen in Deutschland? Viele glauben das, und die SPD will im Wahlkampf damit punkten. Doch es stimmt nicht. Von Kolia Rudzio. ZEITONLINE. Wirtschaft. Deutschland. 27.12.2012.

*11) ARMUT. Wirtschaftsweiser Schmidt warnt vor überzogener Armutsdiskussion. Interview in: http://www.derwesten.de/wirtschaft/wirtschaftsweiser-schmidt-warnt-vor-ueberzogener-armutsdiskussion-id7693634.html; 06.03.2013. Ähnlich urteilt Schmidts Kollege im SVR, Prof. Dr. Lars Feld, Leiter des Walter Eucken Instituts in Freiburg: „Die Behauptung, dass die Einkommensungleichheit immer größer wird, ist falsch. Zwar ist die Schere bis 2005 auseinandergegangen. Seit den 80er-Jahren, parallel zum Anstieg der Arbeitslosigkeit, nahm die Ungleichheit im Westen zu. Im Osten ging die Schere in den 90er-Jahren ebenfalls mit Zunahme der Arbeitslosigkeit auseinander. Doch seit 2005 nimmt die Ungleichheit nicht mehr zu. Die Reformpolitik im Zuge der Agenda 2010 hat die soziale Spaltung also keineswegs vertieft.“ Siehe: Wirtschaftsweiser warnt CDU vor Falle der SPD. Von Dorothea Siems. Chefkorrespondentin für Wirtschaftspolitik; 25. 08. 2014, www.welt.de. (Hervorhebung RS).

*12) Schere zwischen Arm und Reich. Die Mär vom Untergang der Mittelschicht. Ein Kommentar von Kurt Kister; 29. Dezember 2012, http://www.sueddeutsche.de.

*13) INTERVIEW vom 09.12.2014. OECD ZU ARMUT UND REICHTUM. „Deutschland steht sehr gut da“. Wirtschaftsethiker Christoph Lütge kritisiert Forderungen des OECD-Berichts nach Umverteilung. Moderation: Katja Schlesinger und Frank Meyer; http://www.deutschlandradiokultur.de/oecd-zu-armut-und-reichtum-deutschland-steht-sehr-gut-da.1008.de.html?dram:article_id=305668.