Es ist der Rechtsstaat, Dummkopf!

Als Grundsatz für reformpolitische Intervention kann wohl gelten, jene Politikfelder mit Priorität anzupacken, die jeweils am meisten gefährdet erscheinen.

Das ist für die in der Opposition tonangebende Umverteilungskoalition sicher der Sozialstaat. Denn die „Schere“ zwischen Arm und Reich öffne sich. Also: Verteilen mit Geldern Dritter unter dem Vorzeichen „Gerechtigkeit“! Die von gerechten Umverteilern eingeforderten Abgaben und Steuern fließen allerdings überwiegend nicht an wirklich Arme, sondern werden innerhalb der Mittelschichten verteilt. Dies ist der hier nur referierte Befund von Sozialwissenschaftlern.

Der harte Kern der Umverteiler „von oben nach unten“ stützt sich auf einen besonderen „Wählertypus – männliche (Langzeit-)Arbeitslose, geringqualifizierte Arbeiter, Gewerkschaftsmitglieder im Alter von Mitte 40 bis Ende 50 – der der SPD ziemlich unversöhnlich gegenübersteht und nicht mehr zurückzugewinnen ist – höchstens um den Preis einer völligen Verbiegung der Partei.“ Diese Feststellung des Sozialwissenschaftlers Tobias Dürr wird von Peer Steinbrück zustimmend zitiert. Aus gutem Grund. Denn gegen diese Interessen und die populistischen Linken, die diese Interessen bedienen, „wird die SPD kaum konkurrieren können, wenn sie den Kontakt zur Mitte der Gesellschaft nicht verlieren will.“ (Peer Steinbrück, Unterm Strich, Hamburg, 3. Auflage, 2010, S. 460)

Als Bundesfinanzminister hatte Peer Steinbrück maßgeblich mitgewirkt, 2009 die Schuldenbremse in unserem Grundgesetz zu verankern. Kommende Generationen sind damit gegen das weitere Belasten ihrer Zukunft durch immer neue Schulden wenigstens des Bundes geschützt. Die Grünen mit dem Fraktionsvorsitzendem Fritz Kuhn, die Linkspartei und ein harter Kern von etwa 20 SPD-Abgeordneten hatten im Deutschen Bundestag gegen die Schuldenbremse im GG gestimmt.

Bürger, die die Staatsschulden bedienen müssen, also für Zins und Tilgung aufkommen, werden fragen: Wozu die Schuldenberge, wofür sind die Schulden gemacht worden?

Der IWF warnt, dass die „traditionellen Industrieländer im Schnitt mit 110 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt eines Jahres, RS) verschuldet“ seien. Bundeskanzlerin Merkel hat kürzlich aufgezeigt, wofür diese Hypotheken auf die Zukunft bisher vor allem verzehrt worden sind. (Vgl. Holger Steltzner, Die Quelle der Schulden, FAZ, 13.10.2012).

Die Europäische Union schaffe mit „sieben bis acht Prozent der Weltbevölkerung noch etwa rund 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Welt, wir haben aber auch rund 50 Prozent der Sozialausgaben der Welt – sieben bis acht Prozent der Menschen haben 50 Prozent der Sozialausgaben.“ Dies sollte denen zu denken geben, die sich für Gerechtigkeit gegenüber den wirklich Armen der Welt engagieren.

Es gibt daher noch eine andere „Schere“ als die zwischen „Arm und Reich“ in Deutschland. Michael Backhaus (bams.de) beschreibt sie im Zusammenhang mit Bundeskanzlerin Merkels Aussage: „Die Schere, die uns die Zukunft abschneidet.“

Ist also weiterer Ausbau unseres in Deutschland ausgeuferten Sozialstaates vordringliches Reformziel? Derzeit zeichnet sich ein ganz anderes Problem der Gerechtigkeit ab als die „Verteilungsgerechtigkeit“.

„Wir sehn uns vor Gericht“ war Titel einer Sendung, in der  Deutschlandradio-Kultur am 15.10.2012 *) vor einer übermäßigen Prozessflut warnte. Dazu stellte ein Jurist, Herr Ingo Socha, Abteilungsleiter beim Familiengericht Lübeck, fest: „Ich kann nicht sehen, dass die Justiz in den Bundesländern aus sich heraus diesem Ansturm in irgendeiner Weise Herr werden kann, ohne dabei faires Verfahren, Rechtsstaatlichkeit oder ähnliche Dinge zu opfern.“ (dradio, S.2)

Rechtsstaat und fairer Prozess, um sich gegen Unrecht zu wehren, sind aus der Sicht von Fachleuten offenbar stärker gefährdet, als uns Bürgern allgemein bewusst ist.

In angelsächsischen Ländern wird nicht nur von Juristen, sondern auch von Ökonomen thematisiert, wie wirtschaftliche Anreize, z.B. das Erfolgshonorar („no win, no fee“), zu exzessiven Rechtsstreitigkeiten führen können. Diese garantierten auch keineswegs Chancengleichheit bei der Suche nach Gerechtigkeit. Denn Anwälte neigten zur „Rosinenpickerei“, wo Höhe des Streitwerts und Erfolgswahrscheinlichkeit bestimmen, wer Unterstützung bei verletzten Rechten erhält.

„Eine Frage des Geldes“ – so hatte die Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen (Spiegel, 29.3.2011) zum Kachelmann-Prozess geschrieben. „Die Zeugin heult Sie hier an, und Sie fragen nicht nach, was sie mit den 50.000 Euro gemacht hat“, berichtet sie über einen Zwischenruf des Verteidigers Schwenn, der als indiskutabel wertet, „den Burda-Verlag hier Regie führen zu lassen“, denn der habe dieses Honorar für die Zeugin gezahlt.

Hier geht es ausdrücklich nicht um die Wahrheit in einem Fall selbstzerstörerischer Beziehungskonflikte. Jedoch deckt der Hinweis von Frau Friedrichsen auf, dass der Rechtsstaat auch durch Medien gefährdet sein könnte, die Ideologie oder Sensationsgier bedienen.

Zwei im Fall Kachelmann bezeichnende Vorfälle in Medien hat der Journalist Stefan Niggemeier aufgegriffen (Spiegel 15.10.12).

Die Verlegerin der Zeitschrift Emma, Frau Alice Schwarzer, wird von Herrn Niggemeier der „brutalsten“ Nachtreterei bezichtigt: „Sie fordert von Kachelmann Demut und Dankbarkeit, als sei er in irgendeinem Sinne schuldig. Was ist ein Freispruch wert? Im Zweifel nichts.“

Diese bedenkliche Rechtskultur wurde in der TV-Sendung von Herrn Jauch durch den ehemaligen Chefredakteur der BILD, Herrn Tiedje, erneut vorgeführt. „Tiedje bestand darauf, Kachelmann als möglichen Vergewaltiger zu behandeln“ (Niggemeier), vom Studiopöbel beklatscht, wenn er – vom „Moderator“, Herrn Jauch, ungerügt – dem „Wetterfuzzi“ einen „miesen Charakter“ bescheinigte.

Alle diese skizzierten Gefährdungen der Rechtskultur, der Rechtsstaatlichkeit und des fairen Prozesses laufen darauf hinaus, dass Geld, Medienmacht und die „Öffentliche Meinung“ eine destruktive Rolle spielen können. Daran wird nicht viel zu ändern sein. Prominente bleiben gefährdet, Bürgern ohne die Mittel für aufwändigen Rechtsstreit bleibt auf der „Hohen See“ der Justiz nur Hoffnung. **)

Wie ist es zu der Überlastung der Justiz infolge der Flut von  Gerichts-Prozessen gekommen, durch die Fachleute die Rechtsstaatlichkeit bedroht sehen?

Neben gewandelten Bürgermentalitäten mögen dazu auch öffentliche Stellen, Verbände, Parteien und große Unternehmen beitragen, die über Mittel verfügen, einen langen Weg durch Gerichts-Instanzen hinzunehmen.

Auch im Rechtssystem sind Ursachen zu suchen. Familienrichter Socha kritisierte in der erwähnten Sendung des Deutschlandradios, „dass es in dem vorgerichtlichen Bereich bereits an Eskalationsstufen fehlt“. Und „die Eskalation, die dann gesehen wird, die einzige, die dann gesehen wird, ist eben der Gang zum Gericht.“ (dradio.de, S.4)

Darin sah Richter Socha eine „Banalisierung der Justiz“. Denn „nicht wenige Bürger würden sich an Gerichte wenden, weil sie hofften, auf diese Weise einer konkreten Auseinandersetzung innerhalb der Familie oder der Nachbarschaft aus dem Wege gehen zu können. Mangelhafte Kommunikation ist in einem solchen Fall eine der Ursachen für die Verrechtlichung alltäglicher Konflikte.“ (dradio.de, S.6)

Dazu kommt allerdings die „Verrechtlichung“ sozialer, wirtschaftlicher und politischer Konflikte. Der Professor für Öffentliches Recht, Herr Frankenberg, konstatiert „unglaublich viele Verfassungsbeschwerden … es sind im Jahr plus minus 4.000, und … dass eigentlich nur 1,7 Prozent dieser Beschwerden Erfolg haben.“ In der dradio-Sendung wird dazu festgestellt (S.18): „Die Justiz kann weder die Politik ersetzen noch die Demokratie. Und doch wird sie in vielen sozialen und politischen Konflikten als Ausweichinstanz angesehen, die ins Lot bringen soll, was die sonstigen Akteure nicht klären konnten.“

Sicher bleibt es für nicht wenige Politiker in der Bundesrepublik interessanter, sich mit Geld des Steuerzahlers für „soziale Gerechtigkeit“ einzusetzen. Vor allem im Vergleich zu der Aufgabe, „Gerechtigkeit“ zu sichern, wenn Menschen, denen Unrecht widerfuhr, den Rechtsstaat und den fairen Prozess am nötigsten brauchen.

Deshalb sollte die politische Bildung dieses Gerechtigkeits-Thema stärker beachten, Fehlentwicklungen und Reformvorschläge für unseren Rechtsstaat intensiv erörtern, damit rechtspolitische Konsequenzen gezogen werden.

Seit vielen Jahren ist die liberale Bundesministerin der Justiz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, für Mediation eingetreten, d.h. für „´außergerichtliche Streitbeilegung` in Zivilverfahren. Dazu könnten viele Institutionen beitragen, etwa Verbraucherverbände oder Handelskammern.“ (DIE WELT, 13.06.1995, Jürgen Oeder, Minister streiten um Justizreform).

Der Bürger sieht einer liberalen Reformbilanz auf diesem Gebiet mit Interesse entgegen.

Denn wenn durch „Banalisierung der Justiz“ Rechtsstaatlichkeit und fairer Prozess derzeit gefährdet sind, dann erscheint eine Justizreform als vordringliche Reformaufgabe für Gerechtigkeit in unserem Land. Dann darf Bill Clinton paraphrasiert werden: Es ist nicht der Sozialstaat, es ist der Rechtsstaat, Dummkopf!

*) Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen, 15.10.2012, „Wir sehn uns vor Gericht!“ Zur Verrechtlichung des Sozialen und Politischen, Conrad Lay.

**) Nachtrag 29.11.2012: „Das Schweigen der Banker … (zu) … Gustl Mollaths Berichten über Schwarzgeldgeschäfte von HVB-Mitarbeitern. Er landete in der Psychiatrie.“ Quelle: SZ vom 22.11.2012/fzg.