EU: Estnische Ratspräsidentschaft.

Manche Deutsche erinnern ihre familiären Wurzeln in den baltischen Ländern. Gerade ihnen sollte der nazi-deutsche Verrat und seine Verbrechen am Recht der baltischen Völker auf Selbstbestimmung mit der darauf folgenden sowjetischen Annektion bewusst sein. Deshalb verdient die kommende estnische Ratspräsidentschaft einige Bemerkungen der Freude an europäischem Gelingen.

Nach Litauen (2. Halbjahr 2013) und nach Lettland (1. Halbjahr 2015) hat nun auch Estland diese europapolitische Aufgabe bis zum Jahresende 2017 übernommen. Im Rahmen der 18-monatigen „Trio-Präsidentschaft“ mit Bulgarien und Österreich, damit die Politikziele der EU längerfristig und kontinuierlich bearbeitet werden können.

Dies wird beitragen, die baltischen Länder noch stärker in der EU und auch in der NATO zu verankern.

Euro-atlantische Verbundenheit war das Ziel dieser Länder, seit sie in der „Singenden Revolution“ *1) ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion erkämpften.

Und die euro-atlantische Integration gilt den Balten auch heute noch als hoher Wert. Denn Präsident Putins anmaßender Missbrauch der russischen Minderheiten in baltischen Ländern als seinem „Schutz“ zugehörig *2), musste von Esten, Letten und Litauern als Drohung empfunden werden. Dieser Sorge hat die NATO entsprochen, indem Truppen dort moderat verstärkt wurden. *3)

Deshalb erweist sich heute als historisches Verdienst, dass US-Präsident Bill Clinton gegen das scharfe Votum namhafter Sicherheitspolitiker, nicht zuletzt in den USA, an der Osterweiterung der NATO festgehalten hat.

Seit 2004 sind die baltischen Staaten Mitglieder der EU und der NATO. Dafür haben engagierte Bürger geworben. Allerdings dominierten gerade in der SPD und ihrem Umfeld die Verfechter eines Ausschlusses der baltischen Länder (als ehemalige Sowjet-Republiken) von einer NATO-Mitgliedschaft.

Eine Persönlichkeit, die sich dennoch für den NATO-Beitritt der baltischen Länder besonders wirksam eingesetzt hat, sei hier erinnert: Generalmajor a. D. Dr. Dietrich Genschel, ein herausragend kluger und sicherheitspolitisch sachkundiger Sozialdemokrat, der Helmut Schmidt verbunden war.

Herr Dr. Genschel hatte als Vertreter Deutschlands im „International Defence Advisory Board to the Baltic States“ (IDAB) eine große Herausforderung angenommen. Denn nachdem die baltischen Länder ihre Unabhängigkeit wiedergewonnen hatten, wurde ihre sicherheitspolitische Ausgangslage durch den IDAB so charakterisiert: *4)

„Es ist wert zu erinnern, dass:

  • zu Beginn (der 1990er Jahre, RS) weder nationale Ministerien, noch nationale Streitkräfte existierten,
  • die militärische Infrastruktur in Trümmern lag,
  • Ausrüstung und logistische Unterstützung nahezu nicht existent waren,
  • der öffentliche Rückhalt für das professionelle Militär gering war,
  • Ausbildung und Erfahrungen unter dem gänzlich verschiedenen Sowjet-System gesammelt worden waren,
  • die Kooperationssprache zwischen den drei Staaten Russisch war,
  • und die dringliche operative Aufgabe darin bestand, den endgültigen Abzug der russischen Truppen und die Staatsgrenzen zu sichern.“

Ab 1998 leitete Dr. Genschel ein von ihm konzeptionell entwickeltes Projekt der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) für den zivil-militärischen Dialog in den baltischen Ländern. Zu jener Zeit waren dort schon wesentliche sicherheitspolitische Reformen umgesetzt worden.

Die Pionierarbeit, die Dr. Genschel leistete, setzte bei dem vom IDAB festgestellten Mangel an öffentlichem Rückhalt für die Sicherheitskräfte an: *5)

  • Am Beginn der Beratung standen Informationsgespräche über die Erfahrungen, die in der Bundesrepublik Deutschland beim Aufbau ihres bewährten Modells zivil-militärischer Beziehungen gemacht wurden.
  • Dann folgten Diskussionen, wie Platz und Rolle des Militärs in den jungen baltischen Demokratien definiert und entwickelt werden könnten. Auch Konzepte für militärpolitische Reformen wurden erörtert.
  • Im Rahmen der von der Friedrich-Ebert-Stiftung unterstützten demokratischen Transformation der baltischen Länder hatten diese Beiträge Dr. Genschels nachhaltig positive Wirkung. Dies galt vor allem für den Aufbau von Vertrauen zwischen Streitkräften und Gruppen der Zivilgesellschaft, die dem Militär traditionell eher fern standen. Hier konnten durch die FES entscheidende Zugänge der Verständigung geebnet werden.

Unvergessen bleibt der Mut Dr. Genschels, gegen die vorherrschende Meinung für die Aufnahme der baltischen Länder in die NATO zu werben.

Dr. Genschel schloss seine Analyse und Empfehlungen für die NATO-Beitrittsperspektive der baltischen Länder mit den folgenden Worten: *6)

„In conclusion: the Baltic States are not abandoned and do not live in a security vacuum. They are almost full-fledged members in the family of democratic states which enjoy both soft and hard core security. The crucial exception for the Baltics is: they alone suffer from a severe hard-core security gap. Accession to NATO is the only honest way, to fill that gap. It will take time mainly because of unfounded Russian concerns but also because NATO needs to digest new members. But western democracies should do their utmost to keep this timespan at a minimum. And in the meantime there is a lot to prepare for that moment, when Lithuania, Latvia and Estonia eventually will share with us equal security in the North Atlantic Alliance, which they so richly deserve already today.

Und diesem Appell Dr. Genschels, vor zwei Jahrzehnten an die westliche Gemeinschaft gerichtet, kann heute erst recht zugestimmt werden.

  • Im Demokratieindex liegen Estland (Rang 34), Litauen (38) und Lettland (39) bereits knapp vor Polen und Griechenland; nicht wenigen Angehörigen der russischen Minderheiten in den baltischen Ländern dürfte der Demokratie-Rang Russlands (132) zu denken geben. *7)
  • Bleiben wir bei Estland: Auf Rang 10 (vor Frankreich 12) steht Estland im EU-Social Justice Index der Bertelsmann-Stiftung sogar über dem EU-Durchschnitt. *8)
  • Im Weltbank-Index für Unternehmer-Freundlichkeit („Ease of Doing Business“) erreicht Estland mit Platz 12 mehr als Deutschland (Platz 17). *9)
  • Der Index für Wahrnehmung von Korruption von Transparency International 2016 sieht Estland (Rang 22) zwar hinter Deutschland (10), aber knapp vor Frankreich und deutlich vor anderen Staaten des östlichen Europa (Polen (29), Tschechien (47), Ungarn (57)). *10)

Gerade Estland hat Europa bewiesen, welche Leistung Freiheit, Demokratie und Sicherheit entfesseln können.

Zurecht hat Dr. Genschel in seinem Plädoyer für die vollständige Integration der baltischen Länder in die westliche Allianz aus der historischen Europa-Rede Winston Churchills zitiert: „Small nations will count as much as large ones and gain their honour by their contribution to the common cause.“ *11)

Das Programm des estnischen Vorsitzes im Rat der Europäischen Union richtet sich auf die folgenden Ziele des „common cause“ der Europäischen Union: *12)

  • Eine offene und innovative europäische Wirtschaft.
  • Ein sicheres und geschütztes Europa.
  • Ein digitales Europa und Datenfreizügigkeit.
  • Ein inklusives und nachhaltiges Europa.

Die estnische EU-Ratspräsidentschaft will sich vor allem auf Initiativen konzentrieren, die zur Digitalisierung der Wirtschaft und der Staatstätigkeit („E-Government“) sowie zur digitalen Bildung für den Arbeitsmarkt beitragen. Sie zielt auf eine „zukunftsgerichtete Debatte, die zur Talliner Erklärung zum E-Government führen soll.“ *12, S.22)

Alle guten Wünsche an Estland für eine erfolgreiche EU-Ratspräsidentschaft 2017!

*1) Siehe Wikipedia. Die freie Enzyklopädie: „Als Singende Revolution wird die Periode der nationalen Bewegungen im Baltikum 1987 bis 1991 und des gewaltlosen Kampfes um die Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit bezeichnet; https://de.wikipedia.org/wiki/Singende_Revolution.

*2) „Russland ist, wo Russen leben“ in: GÜNTHER MARX. 27.04.2014. Dialog mit einem Tauben; http://www.moz.de/brandenburg/artikel-ansicht/dg/0/1/1273430/ oder:

„Für mich sind nicht Grenzen und Staatsterritorien wichtig, sondern das Schicksal der Menschen.“ BILD-INTERVIEW MIT DEM RUSSISCHEN PRÄSIDENTEN, von: NIKOLAUS BLOME, KAI DIEKMANN UND DANIEL BISKUP, veröffentlicht am 11.01.2016.

Wladimir Putin erklärt seine Welt: Die Nato ist aggressiv, Angela Merkel ehrlich. Und eine russische Krim göttliche Gerechtigkeit.

*3) Solche Zeichen, dass die baltischen Länder sich auf die NATO verlassen können, bewertete Außenminister Steinmeier 2016 als „Säbelrasseln und Kriegsgeheul“.

Doch schon 2014 analysierte der SPD-Verteidungsexperte Hans-Peter Bartels: „Putin habe in „atemberaubender Geschwindigkeit“ eine besondere Partnerschaft zerstört. Die Forderung baltischer Nato-Staaten nach Unterstützung sei deshalb verständlich.“ Siehe: INTERVIEW vom 01.09.2014.

NATO-KRISENMANAGEMENT. „Sicherheitsbedürfnis der Balten stärken“. Hans-Peter Bartels im Gespräch mit Friedbert Meurer; www.deutschlandfunk.de/nato-krisenmanagement-sicherheitsbeduerfnis-der-balten.

*4) Zitiert nach: The Challenge of Military Reform in Postcommunist Europe. Building Professional Armed Forces. Editors: Anthony Forster, Timothy Edmunds, Andrew Cottey. 2002. ISBN: 978-1-349-42628-7 (Print) 978-1-4039-1429-3 (Online). Chapter 6: Professionalisation of the Armed Forces in Central and Eastern Europe: the Case of Latvia. Jan Arveds Trapans. S. 81. (Übersetzung und Hervorhebung durch Spiegelpunkte im Zitat: RS).

*5) Dietrich Genschel. Security Sector Reform in Transition Countries — Personal Reflections on a Project by the Friedrich Ebert Foundation (1998 – 2002). S+F (23. Jg.) 3/2005; http://www.sicherheit-und-frieden.nomos.de/fileadmin/suf/doc/SuF_05_03.pdf.

*6) Dietrich Genschel. How can Security for the Three Baltic States be best achieved? In: Lithuanian Foreign Policy Review Z. 2 (1998), 31-44. (Hervorhebung RS).

Genschel erläutert sicherheitspolitisch gebräuchliche Fachbegriffe seiner Schlussfolgerung:

Soft security domestically is a by-product of some key capabilities like political, legal and social stability, economic prosperity and ecological balancing whereas externally soft security can result from intense political cooperation and integration, trade and cultural relations with neighboring states and with the regional and global environment. Soft security implicitly assumes that the state is not exposed to existential, in particular military threats from outside.

Semi-soft security is defined as being provided by well-functioning administration, police, customs and border guards.

Hard security is mainly of external significance. It is provided by capabilities of a state to deter any external threats to the country and should this fail to defend the country’s territorial integrity successfully. The notion of hard security of course assumes the possibility not necessarily the probability of a serious risk.“

*7) „Democracy Index“ (Zeitschrift The Economist); https://de.wikipedia.org/wiki/Demokratieindex.

*8) Social Justice in the EU. A Cross-national Comparison. Social Inclusion Monitor Europe (SIM) – Index Report Daniel Schraad-Tischler and Christian Kroll; https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/33_SGI/BST_Studie_EU_Social_Justice_Index_2014.pdf.

*9) The Word Bank. DOING BUSINESS. Measuring Business Regulations. 2016; http://www.doingbusiness.org/rankings.

*10) SURVEYS. 25 JANUARY 2017. CORRUPTION PERCEPTIONS INDEX 2016; https://www.transparency.org/news/feature corruption_perceptions_index_2016

*11) Winston Churchill. Europa-Rede in der Universität Zürich am 19. September 1946; https://auns.ch/content/uploads/2016/09 Churchill_Rede_Zuerich.pdf.

*12) Programm des estnischen Vorsitzes im Rat der Europäischen Union.

1. JULI 2017 – 31. DEZEMBER 2017; https://www.eu2017.ee/sites/default/files/2017-07/EU2017EE%20Programme_1.pdf. (Hervorhebung RS).