EU Positionswechsel?

Vor der Wahl zum Europäischen Parlament soll Bundeskanzlerin Merkel in einem international weit verbreiteten Interview zu einem Positionswechsel der Europäischen Union (EU) aufgerufen haben. Gegenüber wem oder auf welchem Politikfeld?

Dieses Interview der Bundeskanzlerin war zu lesen in der Version von Philip Oltermann, dem Vertreter der britischen Qualitäts-Zeitung „The Guardian“ in Berlin. *1)

Die englischsprachige Version des Presse-Gesprächs mit der Kanzlerin ist wichtig genug, da sie in den USA zur Kenntnis genommen wird. Und deshalb kann diese Botschaft der Bundeskanzlerin von transatlantisch engagierten EU-Bürgern als sehr fragwürdiges Signal an die USA bewertet werden: „Europe must reposition itself to stand up to the challenges posed by its three big global rivals, China, Russia and the US, Angela Merkel has said before her final European election as German chancellor.“ *1)

Gewiss gibt es schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten mit der von Präsident Donald Trump geführten Regierung der USA: Streit um Fragen des Außenhandels (Drohungen Präsident Trumps mit „Strafzöllen“); um Nordstream 2 wegen wachsender Abhängigkeit von Gas-Importen aus Russland; Streit um die Verpflichtung, zwei Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung zur gemeinsamen Verteidigung im NATO-Bündnis beizutragen; Dissens in der Bewertung multilateraler Vereinbarungen (z. B. über das Abkommen zum Klimaschutz von Paris, Dezember 2015, das von 195 Ländern vereinbart wurde).

Aber vergessen werden sollte nicht die ebenso einfache wie offensichtliche Tatsache, dass Sicherheit und Frieden für die EU vor allem auf dem Bündnis mit den USA beruhen.

Informationen über die wechselseitigen transatlantischen Meinungsverschiedenheiten erhalten das politische Berlin und das politische Washington über die jeweiligen Botschafter, US-Ambassador Richard Grenell und die Botschafterin Deutschlands Dr. Emily Haber.

Dies begrüßen transatlantisch Engagierte, weil ihnen Klarheit wichtiger ist als vermeintlich diplomatische Gepflogenheiten. Und empfinden die Kritik aus Politik und Medien an den öffentlichen Erklärungen dieser beiden Diplomaten als verfehlt.

Was sollen aber die Bürger der USA davon halten, wenn die deutsche Bundeskanzlerin den NATO-Bündnispartner USA in eine Reihe mit Gegnern der EU wie Russland und China stellt: „Europe must reposition itself to stand up to the challenges posed by its three big global rivals, China, Russia and the US, Angela Merkel has said before her final European election as German chancellor.“ *1) Die EU vor einer Reihe von drei Rivalen: China, Russland und die USA?

Die USA: von Merkel in eine Reihe mit Russland gestellt?

Mit Präsident Putins Russland, das schwerste Verbrechen gegen Völker- und Kriegsrecht auf sich geladen hat? Wer wollte US-Ambassador Richard Grenell nicht zustimmen, wenn er uns Deutsche erinnert: *2)

  • Als der Verbrecher Assad — unter Beihilfe der „Schutzmacht Russland“ — syrische Kinder und Erwachsene mit Gas umbrachte, intervenierten Frankreich, Großbritannien und die USA militärisch; aber die Deutschen hätten dazu die Position bezogen: Wir lehnen Krieg ab und halten uns raus;
  • Ambassador Grenell: „I think that the lessons of World War II should be that the Germans are the first to recognize a madman gassing children in Syria … The Germans should be the first to say: That is a madman, gassing children, and we want to help a coalition – or lead a coalition – to stop that, because we’ve seen this before“ … Russland habe, so erinnert uns Ambassador Grenell ferner:
  • chemische Waffen für Mordanschläge in Großbritannien eingesetzt,
  • das Passagierflugzeug MH 17 mit russischen Raketen vom Boden der besetzten Ost-Ukraine abgeschossen, was 298 Menschen den Tod brachte, davon allein fast 200 Opfer der Niederlande;
  • tausende von Toten habe der Krieg Russlands zur Annexion der Krim und die illegale militärische Intervention in der Ostukraine gefordert;
  • das russische Bündnis mit dem Massenmörder Assad habe zur Vertreibung von Millionen Syrer geführt: in die EU, vor allem nach Deutschland;
  • Und gleichwohl hören wir von außenpolitischen Experten — vom damaligen Außenminister Steinmeier bis in diese Tage vom Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) und Dean des Global Diplomacy Lab (GDL), Ruprecht Polenz (CDU), den skandalösen Anspruch: „Russland hat ein Interesse daran, dass die EU große Teile des Wiederaufbaus in Syrien finanziert.“ *3)
  • Und nicht zuletzt mische sich Russland in Wahlen europäischer Länder ein: mit Desinformationskampagnen und Finanzierung rechtspopulistischer Parteien, was im FPÖ-Skandal Österreichs in diesen Tagen wieder deutlich wird.

Ganz ausdrücklich — möge Herr Ministerpräsident a. D. Platzeck (SPD) Ambassador Grenell zugehört haben — sei hier die Position der USA zustimmend hervorgehoben: „We just don’t think you can trust the Russians.“ *2)

Die USA: von Merkel in eine Reihe mit China gestellt?

Bundeskanzlerin Merkel weiß doch ganz genau, mit welchen Mitteln staatlicher Lenkung China massiv den Eintritt in europäische Auslandsmärkte betreibt.

  • Als „Neue Seidenstraße“ wird verklärend diese geopolitische Macht- und Wirtschaftsexpansion beschönigt. Mit marktwirtschaftlichem Wettbewerb hat das wenig zu tun. Denn mit dirigistischen Mitteln werden chinesische Unternehmen massiv subventioniert und vor Konkurrenz geschützt: auch durch erzwungene Auflagen für ausländische Unternehmen in China zum Technologietransfer an chinesische Wettbewerber und durch Missachtung von ausländischen Patenten und geistigem Eigentum.
  • Gegenüber wirtschaftlich kooperationswilligen EU-Ländern — z. B. Italien, Griechenland, Kroatien, Polen, Ungarn, Bulgarien, Rumänien  — nutzt China seine Wirtschaftskraft, baut aber die versprochenen „partnerschaftlichen“ Infrastrukturprojekte durchweg mit chinesischen Firmen. Zur Verärgerung der EU-Partner Großbritannien, Frankreich und Deutschland, die den Großteil der Strukturhilfen für schwächere EU-Länder aufbringen. So wird durch Chinas Vorgehen (und Russland ist Teilhaber an dem „Seidenstraßen“-Projekt) die EU gespalten.
  • Auch die USA stehen kritisch zu Chinas geopolitischer Machtexpansion in der EU und in EU-Nachbarschaftsräumen: China versuche massiv, sicherheits- und handelspolitisch wichtige Häfen und damit maritime Handelswege zu kontrollieren, z. B. Piräus in Griechenland und Dschibuti am Horn von Afrika, dem Zugang zum Roten Meer und Suez-Kanal, mit dortiger Militärpräsenz.
  • In den USA und in einigen EU-Ländern, aber auch zunehmend in Entwicklungsländern würden die chinesisch gesteuerten „Seidenstraßen“-Projekte kritisch beurteilt. Nicht nur wegen der strategischen Kontrolle Chinas über wichtige maritime Handelsrouten. Sondern auch wegen der korruptiven Einflusspolitik auf demokratische Regierungsführung, mit wachsender Verschuldung und Abhängigkeit gegenüber China sowie Missachtung internationaler Standards für Umweltschutz und Arbeitsbedingungen in der EU-Nachbarschaft entlang der projektierten „Neuen Seidenstraße“. *4)
  • All dies spricht nicht für den Aufbau von Vertrauen in Chinas Parteidiktatur und ihre geopolitische Systemexpansion. Hinzu kommt die brutale menschenrechtliche Bilanz gegenüber Minderheiten wie Tibeter oder Uiguren und vielen anderen nicht parteigläubigen Dissidenten.

Was bedeutet Merkels Forderung nach einem EU-Positionswechsel gegenüber den USA?

Zurück zur Ausgangsfrage: Was sollen die Bürger der USA davon halten, wenn die deutsche Bundeskanzlerin den NATO-Bündnispartner USA als „globalen Rivalen der EU“ *1) in eine Reihe mit Gegnern des demokratischen Westens wie Russland und China stellt?

Bundeskanzlerin Merkel sollte nicht unterstellt werden, dass sie die transatlantische Wertegemeinschaft aufgegeben habe. Oder sich bereits „im vorzeitigen Ruhestand“ wähne (so Christian Lindner, FDP-Vorsitzender).*5) Das britische Magazin „The Economist“ sieht aber Merkels Aktivitäten als Regierungschefin — Appelle für den globalen Multilateralismus oder das Feiern zu 70 Jahren deutscher Verfassung — eher als typische Aufgabe eines „zeremoniellen Staatsoberhauptes“ und darüber hinaus zunehmend auf das Feld der internationalen Politik gerichtet.

EU-Bürger, die enge Beziehungen zum Partner USA wünschen, werden von der Bundeskanzlerin erwarten, dass ihre Forderung nach einem EU-Positionswechsel gegenüber den USA auf die Selbstverständlichkeit beschränkt bleibt, die wir schon seit Jahren regelmäßig von ihr hören: dass „wir unser Schicksal mehr in die eigene Hand nehmen müssen“.

Weit überzeugender erscheint jedoch, was der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte zu den Beziehungen zwischen der EU und den USA feststellt. *6)

  • Ja, das Verhältnis zu unserem wichtigsten Verbündeten sei nicht mehr so selbstverständlich und so eng wie früher: Dies zeige der von der US-Regierung einseitig verfügte Rückzug aus dem Klima- und aus dem Iran-Abkommen sowie die EU-Exporteuren auferlegten Importzölle auf Stahl und Aluminium.
  • Aber dennoch: „of course we remain friends and allies. I personally have always been a strong believer in the transatlantic bond. And we need to keep working as closely as possible with the US.“ *6)

Für Ministerpräsident Rutte scheint somit ein Wechsel im Verhältnis der EU zu den USA kein Thema zu sein.

Das eint uns Bürger des demokratischen Westens, ob in der EU oder in den USA: „a strong belief in the transatlantic bond“.

Danke Ministerpräsident Mark Rutte!

*1) Merkel: Europe must unite to stand up to China, Russia and US. German chancellor also shares views on Brexit and climate crisis in interview. Stefan Kornelius, Nico Fried and Philip Oltermann in Berlin; Wed 15 May 2019 17.00 BST. Last modified on Thu 16 May 2019 14.46 BST; https://www.theguardian.com/world/2019/may/15/angela-merkel-interview-europe-eu-unite-challenge-us-russia-china. (Hervorhebtng RS).

*2) BILD EXCLUSIVE. What the US Ambassador hopes to see from Germany.
Artikel von: JULIAN REICHELT, veröffentlicht am 12.05.2019 – 13:26 Uhr; bild.de.

*3) Krieg am Golf? Die EU sollte weder Pest noch Cholera wählen.
Ein Gastbeitrag von Ruprecht Polenz. SONNTAG, 19. MAI 2019; Quelle: n-tv.de

*4) CHINA’S BELT AND ROAD: THE NEW GEOPOLITICS OF
GLOBAL INFRASTRUCTURE DEVELOPMENT. A BROOKINGS INTERVIEW. APRIL 2019; https://www.brookings.edu/wp-content/uploads/2019/04/FP_20190419_bri_interview.pdf.

*5) Germany. The long goodbye. Berlin. Germany’s chancellor, Angela Merkel, is slowly leaving her party. The Economist. May 4th-10th 2019, p. 22 f.

*6) Speech by Prime Minister Mark Rutte on the future of the European Union — European Parliament, Strasbourg. Speech. A Deal is a Deal: A Union of Rules in an Unruly World. 13-06-2018;

https://www.government.nl/documents/speeches/2018/06/13/speech-by-mark-rutte-prime-minister-of-the-netherlands-european-parliament-strasbourg.