Nach der EU-Wahl: Welche Aufgaben?

Nicht wenige EU-Bürger, die rechtspopulistische Hetze gegen die EU ablehnen, scheinen gleichwohl ratlos gegenüber den vielfältigen rhetorischen Zuweisungen von Aufgaben an die EU, die im Wahlkampf zu hören sind.

1. Zum EU-Ziel-Spektrum im Wahlkampf.

Die Vermischung von innen- und wahlpolitisch motivierten Beiträgen im EU-Wahlkampf dürften nicht wenige Menschen verwirren, wenn sie sich fragen, um was es bei dieser Wahl überhaupt geht.

  • Umverteilungsaufgaben für eine „EU-Sozialunion“, wofür bzw. aus welchem „Füllhorn“ auch immer;
  • oder das immer wieder beschworene Ziel der „Vereinigten Staaten von Europa“;
  • oder noch platter, „mehr Europa“ zu schaffen als Standard-Lösung zu fast jedem Problem, dem nationale Politiker gern aus dem Wege gehen;
  • oder die „Souveränitäts“-Redefiguren, mit denen Staatspräsident Macron die EU-Führungsrolle seines Landes zu beanspruchen scheint.

Diesen EU-Bürgern mögen die pragmatischen Antworten helfen, die Mark Rutte, der liberal-konservative Ministerpräsident der Niederlande, 2018 auf die Frage gab: Wie soll es mit der EU weitergehen? *1) *2)

2. Was die EU ist, und was sie nicht ist. *1)

  • Für Ministerpräsident Rutte ist die EU „eine Wertegemeinschaft und ein Kooperationsverbund von 27 souveränen Ländern, die sich gegenseitig verstärken, wenn es um Themen geht, die ein gemeinsames Vorgehen erfordern, und die sich an einmal getroffene Vereinbarungen halten.“
  • Die EU ist für Mark Rutte nicht „ein Zug, der unaufhaltsam in Richtung Föderalismus rast … alles sei nur eine Frage der Geschwindigkeit – »weil die Bürger Europas nicht überfordert werden dürfen«.“
  • Ministerpräsident Rutte ist überzeugt, dass der „Zug der Geschichte nicht unaufhaltsam auf eine föderale Lösung zu(steuert). Das würde auch gar nicht ins 21. Jahrhundert passen.
  • Selbst wenn wir ganz zu den Anfängen der EU zurückgehen, stellen wir fest, dass idealistische Motive wie »Nie wieder Krieg!« und »Plus jamais ça« in eine sehr pragmatische Zusammenarbeit bei Kohle und Stahl umgesetzt wurden.
  • Und so sollte es auch bleiben: hehre Ideale ganz nüchtern mit Inhalt füllen. Wir sollten eine besser funktionierende Union anstreben, nicht eine immer engere Union.“

3. Ziele des EU-Kooperationsverbundes.

Die 27 autonomen EU-Länder sollten auf den Feldern zusammenarbeiten, wo sie gemeinsam bessere Resultate erreichen als bei isoliertem Vorgehen *2):

  • „weil wir so unseren Wohlstand vergrößern – Stichwort Binnenmarkt und Währungsunion …
  • weil wir so unsere Sicherheit erhöhen – denken Sie an den Kampf gegen die grenzüberschreitende Kriminalität und den grenzüberschreitenden Terrorismus oder an die Instabilität an den Außengrenzen …
  • weil wir nur gemeinsam Antworten formulieren können auf globale Herausforderungen wie Klimawandel, Migration und die Zukunft des Welthandels.“

4. Voraussetzungen für zielführende EU-Kooperation. *2)

  • Nationale Parlamente und EU-Parlament müssen „ein fein ausgewogenes Gleichgewicht“ bilden. Die Nationalparlamente seien sehr wichtig, weil dort bestimmt werde, was die Mitgliedsstaaten besser selbst regeln (Subsidiaritätsprinzip) und umsetzen können, und welche Aufgaben die EU übernehmen sollte.
  • Im EU-Parlament werden Pläne und Vorschläge des EU-Rates und der EU-Kommission für EU-weite Gesetze und Regeln debattiert und angenommen.
  • Die Herrschaft des Rechtes dürfe keinesfalls als nationale Angelegenheit gesehen werden, sondern müsse in allen EU-Mitgliedsstaaten durchgesetzt werden. Damit Bürger und Wirtschaft dem Rechtssystem in jedem EU-Land vertrauen und sich auf die Sicherheit ihrer Investitionen in jedem EU-Land verlassen können. Das müsse die EU-Kommission rigoros und unabhängig überwachen.
  • Die EU „ist kein Selbstbedienungsladen“, sondern in der EU müsse gelten: „Vereinbart ist vereinbart … Hierzu sind die Einrichtungen der Gemeinschaft – die Kommission und ganz besonders der Gerichtshof – unverzichtbar. Sie wachen über gleiche Wettbewerbsbedingungen und haben die zum Teil undankbare Aufgabe, die Umsetzung von Vereinbarungen zu kontrollieren und einzufordern.“ *1)
  • Für die EU-Zuständigkeiten gelte Goethes Wort: ‚In der Beschränkung zeigt sich der Meister.‘ Die „ever closer union“ oder „mehr und mehr Europa“ sei kein Wert und kein Ziel an sich: Die Einheit der EU werde nicht erreicht durch mehr EU-Zuständigkeit in immer mehr Bereichen, sondern indem wenige wichtige Aufgaben wirklich gut bearbeitet werden. Goethes Wort anders formuliert: Für die EU gelte „weniger ist mehr“!
  • Eine EU, die für die Bürger einen Mehrwert leistet, sich auf ihre Kernaufgaben beschränkt und damit erkennbare Ergebnisse bewirkt, könne, so Mark Rutte, gewiss mit der öffentlichen Zustimmung und Unterstützung rechnen.

5. Kommende prioritäre Aufgaben der EU.

Eine Schwäche der EU sei ihre Tendenz, neue Vereinbarungen zu treffen, bevor die bestehenden vollständig umgesetzt seien. *2)

  • So sei der Gemeinsame Binnenmarkt bei weitem nicht auf dem Gebiet der Dienstleistungen und der Digitalmärkte verwirklicht. Gerade die großen EU-Länder verschleppten die Öffnung ihrer Märkte für Dienstleistungen. Dadurch würden nach Berechnungen im Auftrag des EU-Parlaments zusätzliche Geschäfte im Wert von etwa 1 Billion Euro verhindert. Das entspricht fast einem Drittel der jährlichen Wirtschaftsleistung in Deutschland.
  • Der Euro, die EU-Wirtschafts- und Währungsunion, hatte das Ziel, in allen Ländern Wohlstand zu schaffen, ausdrücklich jedoch nicht die Umverteilung von Wohlstand zwischen den EU-Ländern. Die Bestrebungen für eine Transfer-Union seien ein Verrat an diesem Versprechen. Warum sollte Bürgern eines Landes, das harte Reformen durchgeführt hat, die finanzielle Verantwortung für Misswirtschaft in anderen EU-Ländern zugemutet werden? Rutte verweist auf die Erfolge notwendiger Struktureformen in Irland, Portugal und Spanien.
  • Das gemeinsame Sicherheitsnetz der Euro-Länder, der „European Stability Mechanism (ESM)“, beruhte daher ebenfalls auf dem Versprechen, solidarische Finanzhilfen in Notsituationen nur dann zu gewähren, wenn sie von strukturellen Reformen im Sinne des Stabilitäts- und Wachstumspaktes begleitet würden. Dieser Zusammenhang der Hilfe zur Selbsthilfe dürfe nicht aufgegeben werden.
  • Neue Aufgaben stellten sich durch eine gemeinsame Migrationspolitik, den gemeinsamen Schutz der EU-Außengrenzen und der kollektiven Sicherheit der EU vor den Bedrohungen durch vor allem Russland.
  • Die gemeinsame Klimapolitik sei schon definitionsgemäß ein nationale Grenzen überschreitendes Thema.

Ministerpräsident Rutte hat diese kommenden Aufgabengebiete, auf die sich die EU fokussieren sollte, in seinem Beitrag *1) in 9 detailliert ausgeführte Vorschläge gefasst. Diese näher darzustellen, würde den Rahmen dieses Blogs sprengen.

Besonders überzeugend für EU-Bürger mag Ministerpräsident Ruttes Kernsatz für die Zukunft der EU wirken: Ein Vertrag ist ein Vertrag — Für eine Union der Regeln in einer Welt aus den Fugen. *2)

6. Niederlande — kleines großes Land.

Für mich als EU-Bürger stellen die Gedanken des niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte den mit Abstand bedeutendsten Maßstab für die künftige Ausgestaltung der EU dar.

Diese glasklar durchdachten Reden des Staatsmannes Mark Rutte zur Zukunft der EU sind für mich wahrhaftig und sehr überzeugend. Weil hier der Vertreter eines Landes spricht, in dessen DNA das Bewusstsein für gemeinsame Verantwortung und für persönlich-individuelle Verantwortung tief verwurzelt ist. Gerade deshalb — der Deichbau zeigt es — weil dieses Nachbarland zur Hälfte unter Wasser stünde, gäbe es diesen Gemeinsinn nicht.

Für die Entscheidung bei der EU-Wahl über die Fragen, wie es mit der EU und ihren Aufgaben weitergehen soll, mag dieser Rückblick auf die europapolitischen Grundsätze des großen Europäers Mark Rutte helfen.

*1) Rede des niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte, Bertelsmann-Stiftung, Berlin. Speech „Weniger versprechen, mehr halten – Das Versprechen Europas erfüllen.“ 02-03-2018; https://www.government.nl/documents/speeches/2018/03/02/rede-des-niederlandischen-ministerprasidenten-mark-rutte-bertelsmann-stiftung-berlin.

*2) Speech by Prime Minister Mark Rutte on the future of the European Union — European Parliament, Strasbourg. Speech „A Deal is a Deal: A Union of Rules in an Unruly World“. 13-06-2018; https://www.government.nl/documents/speeches/2018/06/13/speech-by-mark-rutte-prime-minister-of-the-netherlands-european-parliament-strasbourg.