Zählt Größe?

Die von Bundeswirtschaftsminister Altmaier vorgelegte „Nationale Industriestrategie 2030“ ist von Wirtschaftsverbänden und führenden Ökonomen ungewöhnlich hart abgelehnt worden. Solche Debatten gehören nicht hinter „verschlossene Türen“ *1), wenn es um die Zukunft des Industriestandorts Deutschland geht.

Gliederung.

  1. Kritik an Altmaiers „strategischen Leitlinien für eine deutsche und europäische Industriepolitik“.
  2. „Disruptive Innovationen“ — Gefahr für die industrielle Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands?
  3. Altmaiers industriepolitische Ziele.
  4. Wissenschaft vs. politische Verantwortung?
  5. Zeitgemäße Wettbewerbspolitik: EU oder USA?
  6. Industriepolitik öffentlich debattieren!

1. Kritik an Altmaiers „strategischen Leitlinien für eine deutsche und europäische Industriepolitik“.

Die Kritik, in Medien öffentlichkeitswirksam vorgetragen, zielte vor allem auf die betonte Orientierung der Industriestrategie an „Nationalen und Europäischen Champions: Größe zählt – Size matters!“ *2)

Dazu hatte der Wirtschaftsminister folgende Argumentation entwickelt (*2, S. 13):

  • Immer mehr Wirtschaftssektoren seien intensivem Wettbewerb des Weltmarktes ausgesetzt.
  • Industrielle Akteure benötigten eine „kritische“ Unternehmensgröße, um bei globalem Wettbewerb vor allem aus den USA und China erfolgreich Waren und Dienstleistungen anzubieten.
  • Im Gegensatz zu den USA und China entstünden in Deutschland kaum noch neue Unternehmen vom Format großer Weltmarktkonzerne, stattdessen hätten frühere Weltmarktführer wie AEG und Grundig diesen Rang längst verloren.
  • Sektoren, in denen sich in der Regel nur große industrielle Unternehmen mit entsprechendem Kapital behaupten können, seien: Verkehrsflugzeugbau, Automobilindustrie, Eisenbahnsysteme, Anlagenbau, Internetplattformen, Banken.
  • Fehlten einem Land strukturschaffende, forschungsintensive Unternehmen der notwendigen „kritischen“ Größe, könnte das Land dem Wettbewerb bei bedeutenden Projekten und in wachsenden Teilen des Weltmarktes auf Dauer nicht standhalten.

An vor allem dieser Argumentation Altmaiers entzündete sich die Kritik des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), des Verbandes „Die Familienunternehmer“:

  • Unternehmensgröße sei nicht einfach mit hoher Wettbewerbsfähigkeit gleichzusetzen. Die „Hidden Champions“ der Klein- und Mittelunternehmen (KMU: bis zu 500 Beschäftigte) umfassten weltweit 2700 international und technologisch innovativ agierende Unternehmen, die Marktführerschaft in „Nischen-Märkten“ errungen haben. Davon sind mit 1300 fast die Hälfte deutsche Mittelständler. *3)
  • In Deutschland gibt es 3,6 Mio. KMU, das sind 99,6 % sämtlicher Unternehmen in Deutschland. Die KMU-Anteile an der Zahl deutscher Exporteure (97,4 %), an der Lehrlingsausbildung (81,8 %), an sämtlichen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten (58,5 %) zeigten die Leistungskraft dieser überwiegend inhaber- oder familiengeführten Unternehmen. *3)
  • Wenn der Staat bestimme, was förderungswürdige Zukunftstechnologien sind, sei erfahrungsgemäß das Risiko eines verengten Blicks und des Irrtums hoch. Dieses Risiko sei umso höher, als die „Nationale Industriestrategie 2030“ zu sehr auf Großkonzerne ausgerichtet sei.
  • Damit werde der industrielle Mittelstand als volkswirtschaftlicher Leistungsträger und unverzichtbarer Partner gerade auch der Großunternehmen unangemessen vernachlässigt.

Diese Kritik der Wirtschaftsverbände wird von führenden deutschen Wirtschaftswissenschaftlern geteilt:

  • Eine Regierung sollte „nicht ´big business` im Auge haben, sondern ´big market`. Die Große Koalition setzt zu stark auf die großen Spieler innerhalb der Wirtschaft und droht so, die Chancen für einen Strukturwandel zu vernachlässigen, die bei den kleineren Unternehmen schlummern“ (Prof. Dr. Thomas Straubhaar, Professor für Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Universität Hamburg). *4)
  • „Zwischen 2007 und 2016 haben die 500 größten Firmen in Familienhand ihre Beschäftigtenzahlen am Standort Deutschland um 23 Prozent auf insgesamt 2,57 Millionen Stellen ausgebaut. Zum Vergleich: Die 27 DAX-Konzerne im Streubesitz verzeichneten lediglich ein Plus von vier Prozent auf 1,55 Millionen Jobs im Inland.“ *5)
  • Der Minister sei “völlig auf dem Holzweg“. Die großen Unternehmen zu fördern, sei der falsche Ansatz, außerdem protektionistisch, diese Unternehmen haben sich im Wettbewerb zu behaupten. „Deutschlands wirtschaftliches Rückgrat sind die mittelständischen Unternehmen.“ (Prof. Dr. Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin).
  • „Altmaier verwechselt Größe mit Wettbewerbsfähigkeit. Der industrielle Erfolg Deutschlands ist den Hidden Champions zu verdanken, die durch Innovationsfähigkeit und Spezialisierung punkten, nicht durch Größe.“ (Prof. Dr. Clemens Fuest, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Präsident des ifo Instituts und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates beim Bundesministerium der Finanzen.)

Sind mit solch sachverständiger Kritik — teils vom Interesse der Verbände mittelständischer Industrie geleitet, teils durch das ablehnende Urteil bedeutender Wirtschaftsforscher — Altmaiers Überlegungen „Nationale und europäische Champions: Größe zählt — Size matters“ hinfällig?

Dies hieße jedoch, vorschnell zu urteilen; denn in den Presse-Beiträgen der Industrieverbände und Ökonomen wurden zentrale Probleme und Ziele, denen sich Altmaiers „Nationale Industriestrategie 2030“ widmet, überhaupt nicht erörtert.

2. „Disruptive Innovationen“ — Gefahr für die industrielle Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands?

Insbesondere gilt das für die von Altmaier hervorgehobene „disruptive Natur“ von Innovationen im Feld der Digitalisierung und der Künstlichen Intelligenz (KI). „Disruptiv“ werden die technologischen Neuerungen deshalb genannt, weil sie „radikal mit bishe­rigen Verfahren oder Technologien“ *2) brechen und diese ersetzen können. Deshalb sieht Altmaier in „disruptiven Innovationen“ eine „enorme Heraus­forderung für jedes hochentwickelte Industrie­land“. *2)

Diese Herausforderung sei hier erläutert am Beispiel der „additiven Fertigungsverfahren“ bzw. Verfahren durch den Einsatz von „3-D-Druckern“. Diese Verfahren stellten einen wichtigen Beitrag zur nächsten industriellen Revolution durch die Digitalisierung dar. *6)

Bei der additiven Fertigung wird ein End- oder Zwischenprodukt anhand einer „3D-CAD-Datei“ hergestellt: sukzessive und Schicht für Schicht durch digital vorgegebenes Auftragen von formlosen Materialien im 3-D-Drucker — ohne herkömmliche Werkzeuge, mit denen geformt, gefräst, gefeilt wird .*7)

Die Herausforderungen, die von dieser noch jungen Technologie für den Industriestandort Deutschland ausgehen, beschreibt das Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS): *6)

  • Die Bekanntheit der additiven Fertigung sei in der deutschen Industrie bisher nur schwach ausgeprägt. Ihre industrielle Anwendung beschränke sich „auf einige wenige Großunternehmen (u. a. Siemens, MTU, Airbus, Automobilhersteller) und kleine und mittlere Unternehmen (KMU) innerhalb eines eher engen Branchenkreises in der Luft- und Raumfahrtindustrie, Automobilindustrie, Medizin- und Energietechnik“.
  • Deutschlands derzeitige Technologieführerschaft stütze sich vorwiegend auf konventionelle, metallbasierte Verfahren und liegt insbesondere bei den KMU.
  • Bei den KMU seien die für neuartige „disruptive Anwendungspotenziale der additiven Fertigung“ erforderlichen Kompetenzen und Qualifikationen vielfach nicht in ausreichendem Maß vorhanden. Dies wirke in Bezug auf die Information über die neuen Technologien stark „diffusionshemmend“. Bei vielen KMU sei deshalb der Einstieg in neue Geschäftsmodelle und Technologien noch nicht gelungen.
  • „Deutschlands Technologieführerschaft bei den konventionellen Fertigungsverfahren“ berge das Risiko, dass die neuartigen „disruptiven“ Technologien und ihre Anwendungsmöglichkeiten „zu spät erkannt und erschlossen werden, was sich nachteilig auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit des deutschen verarbeitenden Gewerbes auswirken könnte.“

Bei künftig verbreitetem Einsatz z. B. additiver Fertigungsverfahren sei mit „erheblichen Auswirkungen auf die etablierten wirtschaftlichen Strukturen und die Beschäftigten“ zu rechnen: *6)

  • Durch additive Fertigung werden Produkte/Bauteile, die bisher aus vielen konventionell gefertigten Einzelkomponenten zusammengesetzt wurden, künftig in einem einzigen Stück gefertigt.
  • Zulieferer von Komponenten, die sich dieser Entwicklung nicht rechtzeitig anpassen, würden in ihrer Existenz bedroht.
  • Durch additive Fertigung und 3-D-Druck könnte sich die gerade bei KMU vorherrschende Bindung an den herkömmlichen Produktionsstandort und an die traditionellen Kunden für Zulieferungen auflösen.
  • Die bisher bestehenden räumlich konzentrierten Produktionsstandorte, Lager- und Logistikzentren würden durch geografisch breit gestreute Produktionsstandorte abgelöst, die dichter an regionalen Absatzmärkten liegen.
  • „Lernende Maschinen“ ersetzten im Rahmen dieser neuen Technologien bisherige Arbeitsabläufe, was für „die betroffenen Facharbeiter im schlimmsten Fall zum Arbeitsplatzverlust“ führe.

Diese Warnungen technischer Fachleute scheint der Bundeswirtschaftsminister umso ernster zu nehmen, weil die neuen „disruptiven Technologien“ diese Entwicklungen mittels der Internet-Geschäftsmodelle „einer globalen Plattformökonomie auf Weltmarktniveau“ zusätzlich begünstigen. Außerdem geben die industriepolitischen Praktiken zweier weltwirtschaftlicher Konkurrenten Deutschlands und Europas diesen Warnungen weiteres Gewicht:

  • Der Vorsprung der USA in der Technologie und der Verfügbarkeit von (Wagnis-) Kapital sowie die von der Trump-Administration ausgehende Bedrohung des Freihandels;
  • der von China mit hohem Kapitaleinsatz und staatlicher Lenkung massiv betriebene Eintritt in Auslandsmärkte bei gleichzeitigem Schutz der heimischen Unternehmen mit wenig marktwirtschaftlichen, eher dirigistischen Mitteln: Auflagen für ausländische Unternehmen zu Technologietransfer an chinesische Wettbewerber und Missachtung von ausländischen Patenten und geistigem Eigentum.

Altmaier sieht in den neuen „disruptiven Technologien“, in der Digitalisierung und der Künstlichen Intelligenz (KI) sowie in der Verbindung von lernenden Maschinen und Internet „Game-­Changer­-Technologien der Zukunft“. Zu diesen Innovationen, von denen die industrielle Zukunft geprägt werde, gehörten auch „die Nano-­ und die Biotechnologie, neue Werkstoffe und Leichtbau­-Technologien sowie die Entwicklung des Quanten­ Computings“. (*2), S. 10 ff).

Wirtschaftsminister Altmaier befürchtet deshalb für die deutsche Industrie, dass weltweit bisherige vertikale Stränge der Lieferverflechtung von Zulieferern und Abnehmern (sog. Wertschöpfungsketten) zerfallen könnten.

Diese Sorge illustriert Peter Altmaier am Beispiel des „Automobils der Zukunft“:

„Sollte die digi­tale Plattform für Autonomes Fahren mit Künst­licher Intelligenz aus den USA und die Batterie aus Asien kommen, hätten Deutschland und Europa mehr als 50 Prozent der Wertschöpfung in diesem Bereich verloren.“ (*2), S. 10).

Diese Warnung Altmaiers wird selbst von Fachleuten in dem riesigen Automobilland USA geteilt: Für das amerikanische „Center for Automotive Research“ ist die Automobilindustrie „kritischer Faktor für das Wirtschaftswachstum mit weitreichenden Vernetzungen in das industrielle und kulturelle Gefüge der Vereinigten Staaten … Ohne den Automobilsektor ist kaum vorstellbar, wie Industrie und produzierendes Gewerbe in diesem Land überleben können.“ *8)

3. Altmaiers industriepolitische Ziele.

Wirtschaftsminister Altmaier strebt daher eine Konzentration der industriepolitischen Förderung auf „Schlüsseltech­nologien und Basisinnovationen“ an, damit Deutschland dem weltweiten Wettbewerb künftig gewachsen bleibt. Konkret fordert er:

  • Stärkung der „Wertschöpfungsketten“ im Wirtschaftsraum Deutschlands und der EU (Wertschöpfung bedeutet etwa: Wert der Produktion eines Unternehmens minus Einkaufswert von Vorprodukt-Lieferungen anderer Unternehmen). Die „Wertschöpfungskette“ einer Branche — d.h. die Lieferverflechtung der Bereiche Grundstoffproduktion – Veredelung und Verarbeitung – Vertrieb – industrienahe Dienst­leistungen – Forschung und Entwicklung — solle möglichst in allen Gliedern der „Wertschöpfungskette“ erhalten und damit widerstandsfähiger werden. Dann sei es wahrscheinlicher, so Altmaier, dass die künftige industrielle Wettbewerbsfähigigkeit verbessert werde.
  • Den Anteil der deutschen Industrie an der jährlichen Wirtschaftsleistung, die etwa als volkswirtschaftliche Wertschöpfung definiert ist, von derzeit 23 % auf 25 % zu steigern: Um der Tendenz zur De-Industrialisierung in der EU entgegenzuwirken, solle außerdem bis zum Jahre 2030 dieser Industrieanteil in der EU insgesamt auf 20 % angehoben werden.
  • Die „Stärkung des industriellen Mittelstandes ist von zentraler Bedeutung, da hier eine besondere Stärke unseres Landes liegt.“ (Altmaier, *2), S. 11) Zwar fänden sich im industriellen Mittelstand viele „Hidden Champions“, die mit technischen Spitzenprodukten am Weltmarkt hohe Wettbewerbsfähigkeit erarbeitet hätten. Ihre spezifischen technologischen Fähigkeiten, so beeindruckend sie sind, lägen jedoch nicht im Bereich der digitalen Innovation. Hier sieht die Nationale Industriestrategie „mehr als bisher maßgenaue Angebote und Unterstützung“ vor.
  • Schließlich sei nicht zu bestreiten, dass es seit vielen Jahren kaum zur Bildung neuer deutscher oder europäischer Weltkonzerne gekommen sei — vor allem wenn die Entwicklung der letzten 20 Jahre mit den USA oder China verglichen werde. Im nationalen politi­schen und wirtschaftlichen Interesse, so betont Altmaier, müsse dieser deutsch-europäische Rückstand überwunden werden.

Als Instrument zur Erreichung dieser Ziele hält Altmaier ein neues „volkswirtschaftliches Verhältnismäßigkeitsprinzip“ für geboten, das die folgenden industriepolitischen Maßnahmen ermöglichen solle (*2, S.12ff):

  • Sozial- oder umweltpolitische Auflagen durch die EU und die Mitgliedsstaaten hätten die Wettbewerbsposition der Industrie gegenüber Ländern verschlechtert, bei denen solche Eingriffe unterblieben. Soweit die EU oder ein EU-Staat derartige wettbewerbsschädliche Wirkungen ausgleiche, sollte dies nicht als Subvention, sondern im EU-Recht als Maßnahme für Vergleichbarkeit im Wettbewerb behandelt werden.
  • Das europäische und das deut­sche Wettbewerbsrecht müssten überdacht werden. Die Fokussie­rung auf nationale und regionale Märkte im geltenden Recht sei mit einem räumlich zu sehr begrenzten Begriff des „relevanten Marktes“ verbunden. Dies habe dazu geführt, dass deutsche oder europäische Fusionen (d.h. Unternehmenszusammenschlüsse), „die mit Blick auf den Weltmarkt sinnvoll und notwendig sind“, nach in der EU geltendem Wettbewerbsrecht oft gescheitert seien.
  • Handlungsbedarf für die Förderung der deutsch-europäischen Industrie bestehe unabhängig von der Unternehmensgröße angesichts sehr hohen Niveaus der Strom- und Energiepreise, der Höhe der Unternehmensbesteuerung und der Höhe der Sozialabgabenquote, die dauerhaft unter 40 % zu garantieren sei.
  • Für die Wertschöpfungs­kette des großindustriellen Automobilsektors sei die Batteriezell­-Produktion so bedeutsam, dass „eine staatliche Förderung bis hin zur Unterstützung der Bildung von Konsortien sinnvoll“ erscheine.
  • Fragen industrienaher Dienstleistungen wie Internet-Geschäft (Plattformökonomie, z.B. Google), Künstliche Intelligenz (KI) und Autonomes Fahren hätten so überragende volkswirtschaftliche und wettbewerbspolitische Bedeutung, dass auch „unmittelbare staatliche Beteili­gung bei solchen Projekten erforderlich und gerechtfertigt sei“. Bei dieser Forderung verweist Altmaier auf das Beispiel Airbus und illustriert seine Industriepolitik mit Begriffen wie „KI-­Airbus“.

Abschließend plädiert Wirtschaftsminister Peter Altmaier, einen „Europäischen Rat der Industrieminister“ zu schaffen, um die industrielle Wettbe­werbsfähigkeit Europas insgesamt zu stärken, den Prozess der De-­Industrialisierung in vielen EU­-Staaten umzukehren und die EU-­Mitgliedstaaten gemeinsam diesem Ziel zu verpflichten.

4. Wissenschaft vs. politische Verantwortung?

Zunächst verblüfft den mit der Arbeitsweise im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) nicht vertrauten Bürger, dass 38 Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats beim BMWi dem Minister in einem veröffentlichten Brief „Anmerkungen“ übermittelten. Davon erhoffen sich die Fachleute, dass diese „zur Schärfung und Fokussierung der Nationalen Industriestrategie beitragen“. *9)

Tatsächlich erweckt die Lektüre der „Anmerkungen“ den Eindruck, die von Bundeswirtschaftsminister Altmaier befürchteten Gefahren für die industrielle Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands würden im Beirat weniger ernst gesehen. Vor allem die vermeintliche Gefährdung durch „disruptive Innovationen“ und Anwendungen der Digitalisierung und der Künstlichen Intelligenz (KI) rechtfertigten Altmaiers industriepolitischen Ziele und Förderinstrumente eben nicht. Strukturwandel und Innovationen scheinen aus Sicht des Beirats Dauerprobleme, mit denen die Unternehmen selbst am besten umzugehen wüssten.

Hat sich Bundeswirtschaftsminister Altmaier mehr auf technologischen als auf ökonomischen Sachverstand gestützt, als er seine „Nationale Industriestrategie 2030“ entwickelte?

Diese Vermutung legt eine Reihe von „Anmerkungen“ des Wissenschaftlichen Beirats beim BMWi nahe: *9)

  • Weil die „deutsche Wirtschaft sehr gut in die internationale Arbeitsteilung eingebunden ist, muss sie nicht in allen Bereichen gleichzeitig führend sein.“
  • Menschen, die durch Strukturwandel den Arbeitsplatz verlieren, solle die Bundesregierung für neue Technologien qualifizieren. Aber es sei nicht ihre Aufgabe „für jeden wegfallenden Arbeitsplatz in der Automobilindustrie einen gleich gut bezahlten Arbeitsplatz in der Batteriezellenfertigung zu schaffen.“
  • Strukturwandel und beschleunigte technologische Entwicklung hätten Deutschland „bisher hohe Wohlstandsgewinne gebracht, obwohl die deutsche Wirtschaft nicht in allen Basisinnovationen gut aufgestellt ist.“ Trotzdem habe sie „stark von diesen Technologien und dem von ihnen induzierten Strukturwandel profitiert.“
  • „National Champions“ mit aus Altmaiers Sicht mindestens „kritischer“ Unternehmensgröße als Weltmarktkonzern haben sehr hohen Forschungs- und Kapitalbedarf. Sie dominieren den Verkehrsflugzeugbau, die Automobilindustrie, den Bereich der Eisenbahnsysteme, den Anlagenbau, Internetplattformen und Banken. Solche National Champion-Unternehmen scheint der Beirat eher skeptisch zu beurteilen: „Stellt man diese quasi unter Artenschutz, wird der technologische Wandel in Deutschland nicht befördert, sondern blockiert.“
  • Der Beirat verweist dagegen auf den industriellen KMU-Mittelstand, hier habe Deutschland „viele Weltmarktführer, die häufig in engen Nischen hohe Wertschöpfungsbeiträge für die deutsche Volkswirtschaft erzielen, aber in der Öffentlichkeit wenig bekannt sind. Eine erfolgreiche Industriepolitik muss dieser deutschen Besonderheit Rechnung tragen.“
  • Die protektionistische Politik durch die Trump-Administration der USA zum Schutz vor Wettbewerb „traditioneller Branchen wie Stahl, Aluminium, die Automobilindustrie oder die Landwirtschaft“ sei rückwärtsgewandt. In der politisch gelenkten, im Aufholprozess zwar teilweise erfolgreichen Industriepolitik Chinas zeigten sich jedoch „Kehrseiten“ staatlicher Lenkung ähnlich wie in der Vergangenheit bei Japan: politisch motivierter Erhalt hochsubventionierter Schwerindustrie mit der Folge einer Überlastung des Bankensystems durch verlustbringende Industriekredite. Gegen solche Praktiken sei Abwehr geboten, jedoch rechtfertigten sie keine industriepolitische Förderung von Sektoren, Technologien oder gar bestimmten „National Champions“.
  • Altmaiers Sorge um den Erhalt „geschlossener Wertschöpfungsketten“ laufe auf völlig verfehlte sektorale Autarkieziele hinaus. Ähnlich negativ scheint der Beirat die von Altmaier daraus hergeleitete Technologie-Förderung und die Ausrichtung auf „National Champions“ als Weltkonzerne zu beurteilen. Deshalb lehnt der Beirat auch Altmaiers Empfehlung ab, die strengen Beihilferegeln und die Fusionskontrolle in der Europäischen Union zu lockern: Dies „wäre ein Rückschritt. Diese Regeln haben die europäischen Staaten davor bewahrt, von ihren nationalen Industrien um Hilfen erpresst zu werden, und sie haben den Wettbewerb auf dem europäischen Markt und die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen auf internationalen Märkten gefördert.“
  • Verbesserte „standortpolitische Rahmenbedingungen“, Förderung des Wettbewerbs sowie privater Wagniskapitalbildung — das bleibt als Appell des Wissenschaftlichen Beirats zu den Sorgen des Bundeswirtschaftsministers Altmaier um die Zukunft der deutschen Industrie.

5. Zeitgemäße Wettbewerbspolitik: EU oder USA?

Im Blick zurück auf die Positionen der wesentlichen industriepolitischen Akteure — Industrie-Verbände, Ökonomen, Ingenieure, Wirtschaftsminister — zeigt sich ein Kernthema des Konflikts: Bundeswirtschaftsminister Altmaiers Ziel, den Aufbau neuer deutsch-europäischer Weltkonzerne auch durch Lockerung des eher fusionsfeindlichen EU-Wettbewerbsrechtes zu ermöglichen.

Dies ist für Altmaier deshalb ein hochrangiges Ziel, weil Großunternehmen strukturprägend und innovationsintensiv produzieren.

Diese Auffassung findet sich in amtlichen Statistiken bestätigt: Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) veröffentlicht die „Gesamten Innovationsausgaben nach Branchengruppen und Beschäftigtengrößenklassen“. *10)

Diese Statistik belegt einen deutlichen Zusammenhang. Je höher die Beschäftigtengrößenklasse einer Branchengruppe, desto höher sind auch deren Innovationsausgaben. Illustriert an zwei Beschäftigtengrößenklassen zeigt sich:

  • 100 bis 249 Beschäftigte: 9.8 Mrd. € Innovationsausgaben 2019.
  • 1000 u. mehr Beschäftigte: 127.6 Mrd. € Innovationsausgaben 2019.

Dies scheint Peter Altmaiers Überzeugung zu stützen, dass Unternehmen oberhalb einer kritischen Größenklasse besser vorbereitet sein könnten, die „disruptiven Innovationen“ von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz zu nutzen und damit radikal veränderten Wettbewerbsbedingungen am Weltmarkt erfolgreich zu begegnen.

Aber rechtfertigt dies auch die von Altmaier angestrebte Erleichterung für Fusionen im deutschen und im EU-Wettbewerbsrecht, die das Ziel vergleichbarer Wettbewerbsbedingungen auf den Weltmärkten verfolgen?

Die führenden deutschen Ökonomen bzw. der industrielle Mittelstand lehnen rechtlich erleichterte Fusionen von Großunternehmen scharf ab, aus ordnungspolitischen Prinzipien bzw. der eigenen mittelständischen Interessenlage gegenüber der Großindustrie.

In den USA scheint dagegen die Frage „Is Bigness Badness?“ nicht die Ablehnungsreflexe gegen Unternehmensgröße auszulösen wie in Deutschland oder bei den Wettbewerbshütern der EU-Kommission. *11)

  • Für die USA liegt als Präzedenzfall eine Entscheidung des Supreme Court (Oberstes Verfassungsgericht) vor: „pure size or monopoly by itself was no offense.“ Entscheidend sei die Frage, ob mit illegalen Mitteln („anticompetitive means“), die das Wettbewerbsrecht brechen, Monopolpositionen aufgebaut und missbraucht würden.
  • Dies bezieht sich vor allem auf Missbrauch von Marktmacht durch wettbewerbshindernde Maßnahmen (z.B. Kaufzwang für andere beim eigenen Unternehmen oder Kaufverbot von Kunden/Lieferanten bei Wettbewerbern). Solcher Machtmissbrauch benachteiligt Konkurrenten oder erschwert potentiellen Konkurrenten den Markteintritt: „Although a monopoly acquired by fair means is legal, acting to stifle competition is illegal.“
  • Zunehmend strebe die US-Wettbewerbspolitik und Rechtsprechung das Ziel größerer Wirtschaftlichkeit an, statt Unternehmen nur deshalb zu bekämpfen, weil sie groß und profitabel sind. Diese wettbewerbspolitische Position wird mit drei empirischen Beobachtungen begründet: Erstens, seien solche Unternehmen oft herausragend innovativ. Zweitens, sei gerade der Wettbewerb zwischen Großkonzernen oft sehr intensiv, solange wettbewerbswidrige Absprachen und Kooperation streng verboten bleiben. Drittens schließlich, sei in Zeiten der Globalisierung der internationale Wettbewerb wirksamer für effiziente Marktergebnisse als Gesetze gegen Unternehmensgröße.
  • Zusammenfassend stellen Samuelson und Nordhaus fest: „Legal antitrust policy has been significantly influenced by economic thinking during the last three decades. As a result, antitrust policy now focuses almost exclusively on improving efficiency and ignores earlier populist concerns with bigness itself.“ (*11) S. 208).

Da bleibt Bundeswirtschaftsminister Altmaier nur, mit Goethe zu rufen: „Amerika du hast es besser“!

6. Industriepolitik öffentlich debattieren!

Die Interessen der Industrieverbände und die ordnungspolitische Grundsatztreue führender Ökonomen widerstreiten ganz offenkundig den Einschätzungen des technischen Sachverstandes und des Bundeswirtschaftsministers zur industriellen Zukunft unseres Landes.

Deshalb muss der Bürger fordern: Analyse und Debatte zwischen diesen Akteuren nicht mehr hinter „verschlossenen Türen“ *1) abhalten, sondern mit Protokoll der Argumente und mit Dokumenten in den Dienst für die Öffentlichkeit stellen. Für briefliche Anmerkungen, vertrauliche Gespräche oder kurze Pressemitteilungen ist die Entwicklung der deutschen Wirtschaft und ihrer Industrie für die Bürger zu wichtig.

 

*1) Gabor Steingart. Das Morning Briefing. 07.05.2019; news@morning-briefing.gaborsteingart.com. Steingart kommentiert: „Gestern hat Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier versucht, seine Nationale Industriestrategie 2030 hinter verschlossenen Türen ausgewählten Vertretern aus Wirtschaft und Industrie nahezubringen. 54 Persönlichkeiten waren in den Ludwig-Erhard-Saal gekommen, um ihren Unmut loszuwerden über den Minister, der offenbar nicht mehr an die „unsichtbare Hand“ des Adam Smith glaubt, sondern an die eiserne Faust der staatlichen Industrieplaner.“ (Hervorhebung RS).

*2) Nationale Industriestrategie 2030. Strategische Leitlinien für eine deutsche und europäische Industriepolitik. Herausgeber Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) Öffentlichkeitsarbeit. Stand Februar 2019; https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Industrie/nationale-industriestrategie-2030.pdf?__blob=publicationFile&v=24.

*3) Ein Vorbild für die Welt. Der „German Mittelstand“ ist ein Erfolgsmodell und wird weltweit bewundert. Dabei ist der deutsche Mittelstand mehr als eine rein ökonomische Größe. Von Friederike Welter. 03.10.2013; https://www.theeuropean.de/friederike-welter/7415-besonderheiten-des-german-mittelstand.

*4) Ökonomen kritisieren Wirtschaftsminister Altmaier. Anlässlich der Veröffentlichung einer Studie zum Beschäftigungszuwachs bei deutschen Familienunternehmen gehen Ökonomen harsch mit der Wirtschaftspolitik von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) ins Gericht. Meldung der dts Nachrichtenagentur vom 29.04.2019; http://www.dernewsticker.de.

*5) ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung und das Institut für Mittelstandsforschung (ifm) der Universität Mannheim. Familienunternehmen sorgen für mehr Beschäftigung. Aktuelle Studie zur „volkswirtschaftlichen Bedeutung der Familienunternehmen“. 29.04.2019; https://www.zew.de/de/presse/pressearchiv/familienunternehmen-sorgen-fuer-mehr-beschaeftigung/. (Die Studie zur volkswirtschaftlichen Bedeutung der Familienunternehmen wird seit dem Jahr 2009 regelmäßig vom ZEW und dem ifm Mannheim für die Stiftung Familienunternehmen durchgeführt.)

*6) TAB-Brief Nr. 48 / Juni 2017. Innovationsanalyse: Additive Fertigungsverfahren. Additive Fertigung: Wird die Zukunft gedruckt? https://www.itas.kit.edu/downloads/tab-brief/tb048_cavi17a.pdf.

Auch die maritime Wirtschaft gilt als bedeutendes Anwendungspotenzial für additive Fertigungstechnologien. Vgl.: Täglicher Hafenbericht THB. Additive Fertigung auf dem Vormarsch. Donnerstag, 09.05.2019; news_dvv@inxserver.de. 

*7) Additive Fertigung als zukunftsweisendes Fertigungsverfahren; https://www.iph-hannover.de/de/dienstleistungen/fertigungsverfahren/additive-fertigung/.

Vereinfacht dargestellt: Die Produktion eines Bauteils erfolgt „schichtweise, indem zunächst eine Ebene des Bauteils gefertigt wird. Über das Hinzufügen weiterer Schichten in der dritten Raumrichtung entsteht das dreidimensionale Bauteil. Durch Aufschmelzen oder chemische Aushärteprozesse wird ein Stoffzusammenhalt geschaffen, bevor die nächste Schicht aufgetragen wird … Eine Besonderheit der generativen Fertigungsverfahren ist, dass der Fertigungsprozess werkzeuglos und ohne Formen direkt auf Grundlage von 3D-CAD-Daten erfolgt. Dies erhöht gegenüber den herkömmlichen Fertigungsverfahren die Flexibilität in der Fertigung. Mit verschiedenen additiven Fertigungsverfahren können unterschiedliche Werkstoffe verarbeitet werden – wie etwa Kunststoffe, Kunstharze, Keramiken und Metalle.“

„Das Institut für Integrierte Produktion Hannover (IPH) gGmbH forscht und entwickelt auf dem Gebiet der Produktionstechnik, berät Industrieunternehmen und bildet den ingenieurwissenschaftlichen Nachwuchs aus. Gegründet wurde das IPH 1988 aus der Leibniz Universität Hannover heraus.“ (https://www.iph-hannover.de/de/das-iph/profil/).

Hinweis: „3D-CAD ist die Möglichkeit, von den Objekten eine Abbildung aus beliebiger Richtung zu erzeugen. Der 3D-Drucker ermöglicht den … angewendeten Übergang vom virtuellen Modell zum realen Objekt.“ (Wikipedia, Artikel CAD; https://de.wikipedia.org/wiki/CAD).

*8) Center for Automotive Research. Contribution of the Automotive Industry to the Economies of all Fifty States and the United States. Report by: Kim Hill, Debra Maranger Menk, Joshua Cregger, Michael Schultz. January 2015; https://www.cargroup.org/wp-content/uploads/2017/02/Contribution-of-the-Automotive-Industry-to-the-Economies-of-All-Fifty-States-and-the-United-States2015.pdf. (Übersetzung RS).

*9) Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi). Nationale Industriestrategie.

„Sehr geehrter Herr Bundesminister Altmaier,

der Beirat dankt Ihnen für die offene Aussprache im Rahmen unserer Sitzung vom 07.02.2019 und für die Einladung zur Diskussion. Wir haben im Nachgang intensiv über Ihre Nationale Industriestrategie beraten. Da Sie uns als Ihren Beirat eingeladen haben, zu einem „Kompass“ für die Industriepolitik beizutragen, erlauben wir uns die folgenden Anmerkungen und hoffen, dass sie bei der Weiterentwicklung der Strategie hilfreich sind.“

https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Downloads/Wissenschaftlicher-Beirat/brief-nationale-industriestrategie.pdf?__blob=publicationFile&v=2.

*10) Gesamte Innovationsausgaben nach Branchengruppen und Beschäftigtengrößenklassen 2006 – 2019 (Tabelle 1.8.8). Quelle: Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung – Mannheimer Innovationspanel, Sonderauswertung; http://www.datenportal.bmbf.de/portal/de/Tabelle-1.8.8.html.

*11) ECONOMICS. Nineteenth Edition. PAUL A. SAMUELSON. Institute Professor Emeritus. Massachusetts Institute of Technology. WILLIAM D. NORDHAUS. Sterling Professor of Economics.Yale University. New York, 2010, S. 204 ff.