EU: Vision und Common Sense.

Beides gehört zum Projekt der Europäischen Union, die Vision und der Common Sense. Und beide Ausprägungen menschlicher Vorstellungskraft verdienen Respekt.

Weil Vision und Common Sense die Rede des britischen Premierministers David Cameron zu Europa prägen, verdient diese Rede vom Januar 2013 Respekt und vor allem sorgfältige Lektüre.

Diese Rede wird auch im Zeitablauf wirken – daher scheinen die Reaktionen, die derzeit in der deutschen und vorwiegend rot-grünen „politischen Klasse“ vorherrschen, zumindest vorschnell. Diese Reaktionen dürften einer anderen Vision von Europa als der Camerons geschuldet sein.

Deshalb hier der Blick auf zwei alternative, polare Visionen zur Zukunft der Europäischen Union, auf die Joschka Fischers und die David Camerons.

1. Joschka Fischer: Vom Staatenverbund zur Föderation.

Eine bedeutende europäische Vision hat am 12. Mai 2000 Joschka Fischer als Bundesminister des Auswärtigen vorgelegt.*1) Die EU befinde sich vor der Alternative „Erosion oder Integration“ angesichts großer Herausforderungen: Gemeinsame Währung, Osterweiterung, krisenanfällige EU-Kommission, geringe Akzeptanz von EU-Parlament und europäischen Wahlen, Balkankriege, gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.

Joschka Fischer plädiert deshalb für eine grundlegende Reform der europäischen Institutionen, für „den Übergang vom Staatenverbund der Union hin zur vollen Parlamentarisierung in einer Europäischen Föderation … ein europäisches Parlament und eine ebensolche Regierung, die tatsächlich die gesetzgebende und die exekutive Gewalt innerhalb der Föderation ausüben.“ (S. 309-310). Die Frage sei, ob eine Mehrheit der Mitgliedsstaaten diesen Reformsprung wage oder eine kleinere Gruppe mit diesem Ziel „als Avantgarde … ein Gravitationszentrum aus einigen Staaten“ bilde.

Joschka Fischers „persönliche Zukunftsvision“ lässt sich dann als schrittweiser Integrationsprozess beschreiben: Bildung einer Avantgarde, die für alle Mitgliedsstaaten und Beitrittskandidaten offen bleiben müsse. Von verstärkter Zusammenarbeit hin zu einem Verfassungsvertrag im Rahmen eines „bewussten politischen Neugründungsaktes Europas“. Und als letztem Schritt „die Vollendung von Robert Schumanns großer Idee einer Europäischen Föderation. Dies könnte der Weg sein!“ (S. 311-312).

Gerade in der heutigen europäischen Krisenzeit hat Joschka Fischers Beitrag als großes europapolitisches „Erbe“ Bestand. Deshalb war Jürgen Trittins Frage im TV vor einiger Zeit, „welches Erbe“ denn Joschka Fischer hinterlassen habe, so kleinkariert.

Es ist wahr, die nachfolgende Entwicklung spricht nicht dafür, dass Joschka Fischers Zukunftsvision in absehbaren Zeiträumen Realität werden kann.

Fischer hatte in der Humboldt-Universität „ausdrücklich nicht für die Bundesregierung“ gesprochen, als er seine „persönliche Zukunftsvision“ für die EU entwickelte. Schon Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte nach „Lektüre der Rede“ vorab „trocken“ (S.306) bemerkt: „Das wird einen gehörigen Knall geben, wenn du diese Rede so hältst. Aber mach das mal.“ Kann eine europapolitische Zukunftsvision einen solchen Kanzler-Kommentar überleben?

Dann folgten bekanntlich am 29. Mai und am 1. Juni 2005 die Referenden in Frankreich und den Niederlanden über den Entwurf des europäischen Verfassungsvertrages: Ablehnung in beiden Ländern – mit 55% bei fast 70% Wahlbeteiligung in Frankreich, mit 62 % bei 63% Wahlbeteiligung in den Niederlanden.

Auch dazu passt Joschka Fischers Satz: „Quo vadis Europa?, fragt uns daher ein weiteres Mal die Geschichte unseres Kontinents.“ (S. 307). Zu dieser noch immer offenen Frage hat im Januar 2013 der britische Premierminister David Cameron nicht nur für sein Land, sondern auch für die Menschen Europas eine Antwort versucht.*2)

2. Premierminister Camerons Vision einer erneuerten EU.

Wenn David Cameron die Leistung der Europäischen Union würdigt – „Die Wunden unserer Geschichte zu heilen, ist die zentrale Erzählung der Europäischen Union“ – wird ihm sicher in Europa zugestimmt. Heute jedoch, so Cameron, sei der „übergeordnete Zweck der Europäischen Union ein anderer: nicht den Frieden zu gewinnen, sondern Wohlstand zu sichern.“

Dieses Ziel sei gegenüber der Herausforderung zu behaupten, die „ein neuer globaler Wettlauf der Nationen … um Wohlstand und Arbeitsplätze der Zukunft“ stellt. „Die Landkarte globalen Einflusses wandelt sich vor unseren Augen. Und diesen Wandel spürt der Unternehmer in den Niederlanden, der Arbeiter in Deutschland, die Familie in Großbritannien. Deshalb möchte ich zu Ihnen eindringlich und offen über die Europäische Union sprechen, darüber, wie sie sich wandeln muss, um sowohl Wohlstand zu fördern als auch um die Unterstützung ihrer Menschen zu bewahren.“

Und dann unternimmt der Premier Cameron einen eindrucksvollen Versuch, die Kontinentaleuropäer zu überzeugen. Ja, das Vereinigte Königreich werde „manchmal als ziemlich streitlustiges, eigenwilliges Mitglied der europäischen Familie gesehen. Und es ist wahr, dass unsere Geographie unsere Psychologie geformt hat. Wir haben den Charakter einer Inselnation – unabhängig, geradeheraus, leidenschaftlich unsere Souveränität verteidigend.“

Diese Eigentümlichkeit britischer Sensibilität erkläre, warum dieses Land zur Europäischen Union mit einer Einstellung komme, die „eher praktisch als emotional“ sei. Für die Briten sei die „Europäische Union kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zum Zweck – Wohlstand, Stabilität, der Anker für Freiheit und Demokratie in Europa wie auch jenseits seiner Küsten. Wir bestehen immer auf den Fragen: Wie? Warum? Mit welchem Ziel? Aber all dies macht uns nicht irgendwie un-europäisch … Bei all unseren Verbindungen zur übrigen Welt – auf die wir zu Recht stolz sind – wir sind immer eine europäische Macht gewesen, und wir werden dies immer bleiben.“

Dies ist der Beginn einer großen Rede. Wer in London das Parlament und seine Umgebung besucht, den können mindestens zwei Statuen beeindrucken. Richard Coeur de Lion, nobler christlicher Gegner des noblen muslimischen Sultans Saladin, vor dem House of Lords. Und Sir Winston Churchill im Militärumhang am Parliament Square. Auf dem Sockel steht einfach „Churchill“. „Wie immer – entschlossen und herausfordernd“, schrieb der Journalist Howard, als die Statue Churchills enthüllt wurde.*3).

Wer empfindet hier nicht, dass Großbritannien nicht insular-isolationistisch, sondern vielmehr europäisch und weltweit orientiert ist?

Oder nehmen wir die folgenden Worte David Camerons: „From Caesar’s legions to the Napoleonic Wars. From the Reformation, the Enlightenment and the Industrial Revolution to the defeat of Nazism. We have helped to write European history, and Europe has helped write ours. Over the years, Britain has made her own, unique contribution to Europe. We have provided a haven to those fleeing tyranny and persecution. And in Europe’s darkest hour, we helped keep the flame of liberty alight. Across the continent, in silent cemeteries, lie the hundreds of thousands of British servicemen who gave their lives for Europe’s freedom.“

Um drei wesentliche europäische Herausforderungen geht es Premierminister Cameron heute: Erstens, die Krise der Eurozone, zweitens, die Krise der europäischen Wettbewerbsfähigkeit, drittens, „die wachsende Kluft zwischen der EU und ihren Bürgern, … die mangelhafte demokratische Rechenschaft und Zustimmung, die besonders akut in Großbritannien empfunden wird.“

Auf fünf Grundsätze baut David Cameron „meine Vision einer neuen Europäischen Union, die dem 21. Jahrhundert entspricht.“ Eine solche EU werde die drei Herausforderungen bewältigen.

Erster Grundsatz: Wettbewerbsfähigkeit. 

Der gemeinsame Europäische Binnenmarkt sei unvollendet geblieben. Vor allem bei Dienstleistungen, Energie und der digitalen Wirtschaft – eben jenen Sektoren, die eine moderne Wirtschaft antreiben – und erreiche daher nur den halben möglichen Erfolg.

Europa müsse Vorreiter transformierender Handelsabkommen mit den USA, Japan und Indien für globalen Freihandel werden. Europas Kleinunternehmen sollten weitgehend von EU-Direktiven ausgenommen werden. Er fordert eine verschlankte, weniger bürokratische EU, die sich darauf konzentrieren sollte, den Mitgliedsländern zur Konkurrenzfähigkeit zu verhelfen. Er prangert die EU-Kommission mit ihrem Multi-Milliarden-Budget an, „die nicht die Kontrolle der Ausgaben im Fokus habe und Ausgaben-Programme auch dann nicht stoppe, wenn diese gescheitert seien.“

Zweiter Grundsatz: Vision der EU als offenes, flexibles Netzwerk.

Die EU müsse im globalen Wettbewerb mit der Geschwindigkeit und Flexibilität eines Netzwerks agieren, nicht mit der schwerfälligen Rigidität eines Blocks. Wettbewerbsfähigkeit erfordere heute Flexibilität, Wahl- und Entscheidungsfreiheit, Öffnung. Andernfalls werde Europa zum „no-man´s land between the rising economies of Asia and market-driven North America.“

Die EU-Mitgliedsländer sollten sich nicht einem „one size fits all“-Ansatz der Integrationspolitik unterwerfen.

Nicht alle Mitgliedsländer strebten den gleichen Grad politischer Integration an, betont Cameron. Dennoch werde kritisiert, dass solche Einstellung einen zentralen Grundsatz der Gründungsphilosophie der Europäischen Union verletze.

Dieser Kritik hält Cameron entgegen: Eurozone – 17 Mitglieder, 10 seien nicht dabei; Schengen – 22 EU-Mitglieder plus 4 Nicht-EU-Länder, 2 EU-Mitglieder, Großbritannien und Irland, hätten ihre Grenzkontrollen beibehalten. Militärische Interventionen: Einige EU-Länder, z.B. Großbritannien und Frankreich, seien vorbereitet, willens und fähig in Libyen oder Mali einzugreifen. Andere dagegen beim Gebrauch militärischer Mittel zurückhaltend.

Hier ist Camerons zentraler Vorschlag für Europa – in seinen eigenen Worten: „Let´s welcome that diversity, instead of snuffing it out. Let´s stop all this talk of two-speed Europe … Instead, let´s start from this proposition: we are a family of democratic nations, all members of one European Union, whose essential foundation is the single market rather than the single currency. Those of us outside the euro recognize that those in it are likely to need to make some big institutional changes. By the same token, the members of the Eurozone should accept that we, and indeed all Member States, will have changes that we need to safeguard our interests and strengthen democratic legitimacy. And we should be able to make these changes too.“

Dies als „Rosinenpickerei“ (Van Rompuy, 28.12.2012, standard.at) zu bezeichnen, geht am Kern der Argumentation Camerons vorbei. Cameron schlägt ein Zwei-Lager-Modell der EU vor. Das eine Lager, die Mitgliedsländer mit Föderations-Vision, möge den Weg der Vertiefung gehen. Aber dabei sollten den Mitgliedsländern des anderen Lagers, die diesen Weg nicht mitgehen wollen, keine Probleme auferlegt werden, vor allem nicht beim Zugang zum Gemeinsamen Binnenmarkt. Flexible, freiwillige Kooperation entfalte viel stärkeren Zusammenhalt und Bindung als zentralisierter Zwang, davon ist David Cameron überzeugt.

Cameron trifft eine weitere „häretische“ Aussage: Der Europäische Vertrag verpflichte die Mitgliedsstaaten, „die Grundlagen für eine immer engere Union zwischen den Völkern Europas zu legen.“ Dieser Satz, so Cameron, sei immer wieder auf die Staaten und Institutionen statt auf die Völker bezogen worden. Mit Hilfe des Europäischen Gerichtshofs habe dadurch die Zentralisierung in der EU immer mehr zugenommen.

„Wir verstehen und respektieren das Recht anderer, ihrer Verpflichtung auf dieses Ziel nachzukommen. Aber für Großbritannien – und vielleicht für andere – ist dies nicht das Ziel.“ Damit lehnt der britische Premier den Weg der Zentralisierung bis hin zur Föderation grundsätzlich ab.

Dieser im Jahr 2000 von Joschka Fischer dargelegten Zukunftsvision Europas stellt Cameron seine alternative Vision der EU entgegen: „Wir glauben an eine flexible Union freier Mitgliedsstaaten mit gemeinsamen Verträgen, Institutionen und dem gemeinsamen Ideal der Zusammenarbeit. Damit die Werte der europäischen Zivilisation in der Welt repräsentiert und gefördert werden. Damit wir unsere gemeinsamen Interessen stärken, indem wir unsere gemeinschaftliche Stärke nutzen, um Märkte zu öffnen. Und eine starke wirtschaftliche Grundlage im gesamten Europa schaffen. Und wir glauben an die Zusammenarbeit unserer Nationen, um die Sicherheit und Vielfalt unseres Energieangebots zu schützen. Dem Klimawandel und der globalen Armut entgegen zu arbeiten. Zusammen zu arbeiten gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität. Und weiterhin neue Länder in der EU willkommen zu heißen.“

Premier Cameron stellt nachdrücklich fest: „Diese Vision der Flexibilität und der Zusammenarbeit“ unterscheide sich von der Vision jener, die eine immer engere politische Union bauen wollen – aber sie sei ebenso folgerichtig begründet und ebenso legitimiert.

Dritter Grundsatz: Subsidiarität in der EU umsetzen.

Cameron fordert: Macht und Zuständigkeiten müssten den Mitgliedsstaaten auch zurückgegeben werden können und keinesfalls nur in eine Richtung, nämlich hin zur EU, verlagert werden.

Das Subsidiaritätsprinzip sei vor einer Dekade beim EU-Rats-Gipfel in Laeken zugesagt worden. Es sei im Europäischen Vertrag verankert, aber nie angemessen umgesetzt worden.

Deshalb verwendet Cameron diesen Begriff gar nicht erst. Offenbar lehnt er auch eine einheitliche Anwendung dieses Grundsatzes für alle Mitgliedsländer ab. Seine Begründung: „Länder sind verschieden. Sie treffen unterschiedliche Entscheidungen. Wir können nicht alles harmonisieren.“ Als Felder, in denen aus britischer Sicht das Subsidiaritätsprinzip gegen weiteren EU-Zentralismus angewendet werden könnte, nennt Cameron die Arbeitsbedingungen, die Umwelt- und Sozialpolitik sowie die Bekämpfung der Kriminalität.

Vierter Grundsatz: Demokratische Rechenschaft und Kontrolle.

Cameron fordert eine stärkere und bedeutendere Rolle für die nationalen Parlamente in Angelegenheiten der EU. „Es gibt aus meiner Sicht keinen einheitlichen Europäischen Demos. Die nationalen Parlamente sind und bleiben die wahre Quelle realer demokratischer Legitimität und Rechenschaft in der EU.“

Tatsächlich hat Cameron hier einen gerade für die deutschen EU-Bürger besonders bedeutsamen Punkt angesprochen.

Bereits in „der Maastricht-Entscheidung aus dem Jahre 1993 hatte das (Bundesverfassungs-)Gericht .. angemahnt, dass eine Verlagerung deutscher Hoheitsaufgaben auf die Europäische Union nicht zu einer Auszehrung der Kompetenzen des Bundestages und damit einer Entleerung der durch die Bundestagswahl bewirkten demokratischen Legitimation führen dürfe.“ *5)

Hut ab vor Premierminister David Cameron und seinen Experten, die für das Verfassungsrecht in den EU-Mitgliedsstaaten zuständig sind. Kann der deutsche Bürger ironisch fragen, ob EU-Enthusiasten im Deutschen Bundestag nur noch durch das Bundesverfassungsgericht und Warnungen aus Großbritannien gehindert werden, die Befugnisse unseres Parlamentes auszuhöhlen?

Fünfter Grundsatz: Fairness zwischen den EU-Mitgliedsländern.

Damit meint Cameron: Welche neuen institutionellen Vorkehrungen in der Eurozone auch immer getroffen werden, diese müssten sich auf Euro-Länder und Nicht-Euro-Länder gleichermassen fair auswirken. Die Teilnahme am Gemeinsamen Markt und die Möglichkeit, seine Regeln zu setzen, seien der maßgebliche Grund für die Mitgliedschaft Großbritanniens in der Europäischen Union. „Daher ist es unser vitales Interesse, die Integrität und Fairness des Gemeinsamen Marktes für alle seine Mitglieder zu schützen.“

Diese britische Sorge dürfte allen EU-Bürgern einleuchten: Die durch ein gerüttelt Maß an Verantwortungslosigkeit selbst verschuldete Schulden- und Vertrauenskrise in der Euro-Zone führt zu Regeln für fiskal- und wirtschaftspolitische Koordinierung bis hin zur „Bankenunion“, die sich auch auf den großen Finanzplatz London auswirken können.

Für Cameron sind die Briten zu Recht besorgt über die Reformschritte, die in der Eurozone vorbereitet werden. Und sie fragten sich, „was vertiefte Integration in der Eurozone für ein Land bedeute, das dem Euroraum nicht beitreten wird.“ Das Ergebnis sei wachsendes Misstrauen in die Eurozone und die EU, sodass der „demokratische Konsens“ im Vereinigten Königreich für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union hauchdünn geworden sei.

Die EU, die aus der Krise der Eurozone hervorgehe, werde sich sehr von der gegenwärtigen unterscheiden. Vielleicht werde die EU wegen der Maßnahmen, die zur Rettung der Eurozone notwendig seien, sogar in einer Weise transformiert, dass „sie nicht wieder zu erkennen sei“.

Deshalb mache ein britisches Referendum über die Mitgliedschaft in der EU erst dann Sinn, wenn ein Übereinkommen für eine erneuerte EU verhandelt und erarbeitet worden sei. Ein solches Übereinkommen solle den dargelegten fünf Grundsätzen für die „updated“ EU entsprechen: „More flexible, more adaptable, more open – fit for the challenges of the modern age.“

Camerons Kalkulation für EU-Verhandlungen.

David Cameron hat offenbar die Chancen auf Erfolg seines Vorstoßes für ein Aggiornamento, eine Anpassung der Europäischen Union an die heutigen Herausforderungen der Globalisierung, nüchtern kalkuliert.

Wer seine EU-Vision zurückweise, werde auch die Zusammenarbeit an einem Übereinkommen für Erneuerung verweigern. Diese Kräfte sähen die Briten auf einem selbstgewählten „path to inevitable exit.“ Ihnen hält Cameron entgegen: „Nehmt die Sichtweisen anderer Parteien in anderen europäischen Ländern zur Kenntnis, die sich für eine Rückübertragung von Macht und Zuständigkeiten an die europäischen Staaten einsetzen.“

Solche EU-Mitgliedsländer und die britischen Bürger ermutigt er mit den Worten: Seht, was wir bereits erreicht haben. „Ending Britain’s obligation to bail-out Eurozone members. Keeping Britain out of the fiscal compact. Launching a process to return some existing justice and home affairs powers. Securing protections on Banking Union. And reforming fisheries policy.“

Man kann hin zu fügen, dass es beim EU27-Gipfel Anfang Februar 2013 Großbritannien mit Deutschland und weiteren Partnern erstmals gelang, den EU-Haushalt für die EU-Budget-Periode 2014-2020 um rd. 40 Mrd. Euro im Vergleich zu 2007-2013 zu kürzen. Wie immer dies bewertet wird, Camerons Protest gegen die EU-Routine des „more of the same“ erscheint zunächst als vernünftiges Reformsignal gegen die ständige Expansion der Aufgaben und Ausgaben Brüssels.

Einige Reformschritte erfordern aus Camerons Sicht in den kommenden Jahren Änderungen am EU-Vertrag: „die langfristige Zukunftssicherung für den Euro und die Verankerung des vielfältigen, wettbewerbsfähigen, demokratisch kontrollierten Europa, das wir anstreben.“ Damit verknüpfen sich für Premierminister Cameron die Interessen der beiden EU-„Lager“ in wechselseitiger Abhängigkeit des do ut des – die Interessen der Euro-Gruppe einerseits sowie jene Großbritanniens und seiner Partner andererseits, die vertiefte politische Integration jenseits der Vollendung des Binnenmarktes ablehnen oder skeptisch beurteilen.

Auf diese Wahrnehmung der Interessenlage unter den EU-Mitgliedern stützt Cameron seine Kalkulation, dass er durch Verhandlungen eine Europäische Union erreichen werde, für die sich britisches Engagement lohnt. Für diese Verhandlungen über eine reformierte EU sucht er 2015 ein Mandat der britischen Wähler, denen er für 2017 ein „in-out referendum“ zusagt, wenn das Verhandlungsergebnis vorliegen werde.

Und dann fasst er seine Vision in einem Schlusswort zusammen, das seiner Rede historischen Rang gibt: „I believe something very deeply. That Britain’s national interest is best served in a flexible, adaptable and open European Union and that such a European Union is best with Britain in it. Over the coming weeks, months and years, I will not rest until this debate is won. For the future of my country. For the success of the European Union. And for the prosperity of our peoples for generations to come.“

3. Zum Echo auf Premier Camerons EU-Vision.

Dieser Bürger-„Journalist“ hat die Reaktionen auf Premierminister Camerons Beitrag ebenso eingehend studiert wie dessen große Rede. Das Gesamturteil zum Echo: Kleines Maß.

Vorgebliche Sorge um das Wohl der britischen Wirtschaft bedrückt Chefs deutscher Wirtschaftsverbände. Sie sollten die Stellungnahme ihres Kollegen John Cridland, Generaldirektor des Dachverbandes der britischen Industrie, CBI, zur Kenntnis nehmen: “The EU single market is fundamental to Britain’s future economic success, but the closer union of the Eurozone is not for us … The Prime Minister rightly recognises the benefits of retaining membership of what must be a reformed EU and the CBI will work closely with government to get the best deal for Britain.”

Seitens des DGB wird Cameron vorgeworfen, sozialen „Kahlschlag“ zu planen. Dem DGB sollte bekannt sein, wie nachhaltig die britische Wirtschaftskraft durch dortige Gewerkschaften ruiniert worden ist. Tony Blairs Regierung hatte deshalb die Reformen des Arbeitsmarktes der Thatcher-Jahre nicht angetastet.

Kritik aus dem Europa-Parlament an Camerons EU-Vision ist sicher nicht frei von Eigeninteresse. Dennoch fällt die absurde Gehässigkeit des SPÖ-Europaabgeordneten Hannes Swoboda auf: „Der britische Premier wolle ´nur den gemeinsamen Markt`, an den anderen Werten der EU wie etwa den Menschen- und Freiheitsrechten sei er nicht interessiert. Man hätte Cameron vor die Wahl stellen sollen: ´Entweder Du hältst Dich an die Regeln oder Du gehst heraus aus der EU`, so Swoboda.“ Bei solchen Tönen erfreut die Antwort, klugerweise anonym, hoffentlich aus einem gemütlichen Wiener Café: „Der Herr Swoboda scheint wohl ein bisserl fertig zu sein weil Cameron das getan hat was man bei Verhandlungen tut: er hat verhandelt und gesiegt. Gratulation an England und seine Bevölkerung, da werden offenbar keine geistigen Nackerpatzln zu sowas entsandt“ *4).

Manche Sozialdemokraten, z. B. der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Axel Schäfer, verkennen, dass es sich bei Camerons Rede eben nicht um simple Parteitaktik dreht und setzen auf die Labour-Party, um Camerons Ziele zu vereiteln. Diese Freunde Labours sollten sich gründlicher über Politik im Vereinigten Königreich informieren: „Großbritannien ist nicht das einzige Land, in dem das Vertrauen in die Brüsseler Führung erschüttert ist. In ganz Europa gibt es das Gefühl, dass wir diese großartige Institution des letzten Jahrhunderts für das 21. Jahrhundert runderneuern müssen.“ (David Miliband, MP, Labour-Party, spiegel.de, Interview, 07. Februar 2013).

Und David ist der Pro-Europäer bei Labour; dagegen ist der Vorsitzende und britische Oppositionsführer Ed Miliband als EU-Skeptiker einzuschätzen. Übrigens könnten zur EU noch ganz andere Stimmen aus der Labour-Party zitiert werden; halten wir diese Kiste lieber verschlossen.

Alles in allem also, sehen wir von wenigen Ausnahmen ab, antworten Deutschland und auch das Europa-Parlament mit kleiner Münze auf Camerons EU-Rede. Ob Camerons strategische Kalkulation, das Referendum für den Verbleib Großbritanniens in der EU zu gewinnen, aufgehen wird, sei dahin gestellt. Jedenfalls kann argumentiert werden, dass ohne seine Initiative den britischen Anti-EU-Kräften das politische Feld kampflos überlassen worden wäre.

Zwei alternative Visionen für Europa wurden hier besichtigt: Joschka Fischers Weg „vom Staatenverbund zur Föderation“ mag das Visionäre zu sehr betonen. David Camerons Vision der EU als „offenes, flexibles Netzwerk“ mag sich zu sehr auf den Common Sense der Briten verlassen. Beide Visionen zur Zukunft der Europäischen Union können scheitern. Das ändert nichts an der Faszination, die von den großen Reden ausgeht, die Joschka Fischer und David Cameron uns Bürgern der EU gewidmet haben.

*1) Joschka Fischer, Die rot-grünen Jahre, München, Knaur, 2008, S. 306 ff.

*2) David Cameron´s EU speech in full, telegraph.co.uk/news/23 Jan 2013, (Übersetzung RS).

*3) zur Einstimmung: www.parliament.uk; Wikipedia the free encyclopedia, Philip Howard, The Times, 2 November 1973.

*4) derstandard.at, EU-Budget: Heftige Kritik an Großbritannien, 9. Februar, 2013.

*5) Matthias Jestaedt, Wer hat in diesem Lande den Hut auf?, zeit.de, 28.07.2012.