Fair play vs foul play.

 

In der Nacht zum Mittwoch, 30. September 2020, wurde die “first presidential debate“ zwischen Joe Biden und Donald Trump im Stil eines Streitgesprächs zweier Staatsmänner erwartet.

Als vorbildliches Signal für Debattenkultur aus der Führungsmacht des demokratischen Westens an die ganze Welt.

1. Das Format der Debatte.

Der Journalist Christopher W. Wallace, Moderator der Debatte, informierte über das Format, in dem sechs Themen zu diskutieren waren. *1)

Ungefähr 15 Minuten pro Thema, zwei Minuten Redezeit für jeden Kandidaten, um die erste Frage des Moderators zu beantworten, sodann offene Diskussion in der restlichen Zeitvorgabe für jedes Thema. Über die sechs Themen und die zugehörigen Fragen entschied allein Moderator Wallace. Er versicherte, dass weder den Kandidaten noch der fördernden “Commission on Presidential Debates“ die vom Moderator beabsichtigten Fragen mitgeteilt wurden.

Die folgenden sechs Themen sollten im Laufe der Debatte behandelt werden:

  1. The Supreme Court — der Oberste Gerichtshof der USA.
  2. Die COVID-19-Pandemie.
  3. The economy — die Wirtschaft.
  4. Race and violence in cities — Zu “Rasse“ und Gewalt in Städten.
  5. Records — Leistungsbilanz der Kandidaten.
  6. The integrity of the election — faire und freie Wahlen nach Recht, Gesetz und Standards.

Nach kurzer Dauer der Debatte wurde klar: Es muss hier leider ausreichen, die wesentlichen Streitfragen und den Stil des Streits im Rahmen des ersten der sechs Themen zu illustrieren.

2. The Supreme Court — schon bei Thema 1 entgleist die Debatte.

Präsident Trump hatte die Bundesrichterin Amy Coney Barrett als Nachfolgerin der verstorbenen Ruth Bader Ginsburg nominiert; der US-Senat muss zustimmen. Joe Biden verlangte dagegen, diese Nominierung dem Sieger der Präsidentschaftswahl am 03.11.2020 zu überlassen.

Biden begründete seine Forderung mit der kritischen Position von Coney Barrett zur Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes für bezahlbare Gesundheitsleistungen (Affordable Care Act, “Obamacare“), das Präsident Obama durchgesetzt hatte. Coney Barretts Ernennung könne den Gesundheitsdienst “Obamacare“ für ärmere Menschen gefährden, so dass über diese Nominierung nach der Wahl durch den dann gewählten Präsidenten zu entscheiden sei.

Der Moderator bat Trump zu erläutern, warum er die Abschaffung von “Obamacare“ plane, ohne dass er einen umfassenden alternativen Plan für die Gesundheitversorgung vorlege.  Wallace thematisierte auch die Sorge, dass Reformpläne der Demokraten die private Krankenversicherung beenden und die Gesundheitssicherung verstaatlichen würden.

Trump behauptete ohne Beleg, er habe einen alternativen und weit besseren Plan als Obama-Care vorgelegt. Statt die Frage des Moderators zu beantworten, karikierte Trump die Auswahl des Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei und beschäftigte sich mit Biden-Konkurrenten: die “sozialistischen“ Pläne von Senator Bernie Sanders oder Senatorin Elizabeth Warren, von Trump „Pocahontas“ (wegen entfernt indianischer Abstammung) genannt. Von denen und der linken Demokratischen Partei würde Biden dominiert werden. Biden sei überhaupt nur mit großem Glück Präsidentschaftskandidat geworden.

Biden versuchte vergeblich, seinen Plan für bessere Gesundheitsdienste darzulegen — Trump verwarf alles als “sozialistische“ Medizin der “radikalen Linken“, die die Politik Biden bestimme.

Nachdem Biden mehrfach vergeblich versucht hatte, die fortgesetzten Unterstellungen Trumps zu widerlegen, nannte Biden Trump schließlich einen Lügner. Trump bezeichnete Biden im Gegenzug als einen besonders dummen Studenten, den letzten seiner Klasse.

Der Moderator forderte Biden auf, zu erklären, ob er verhindern werde, dass die Demokraten im Senat durch Dauerreden (“filibuster“) die Ernennung Amy Coney Barretts verhindern oder bei Gelegenheit die Zahl der Verfassungsrichter erhöhen würden. Biden lehnte es ab, darauf zu antworten, was erneut höhnische Tiraden Trumps über Bidens Abhängigkeit von der “radikalen Linken“ auslöste. Ständig fiel Trump überdies Biden derart ins Wort, dass Biden kaum einen Gedanken ausführen konnte.

Der Moderator versuchte, diese Dreistigkeit Trumps zu stoppen, was nur selten gelang. Trump ging bei solchen Versuchen des Moderators soweit, dass er Wallace vorwarf, er, Trump, müsse gegen ihn, den Moderator, statt gegen Biden argumentieren. Das sei Trump aber gewohnt seitens der Vertreter ihm feindlich gesinnter Medien, der Produzenten von “fake news“ …

Spätestens jetzt wurde klar, dass es Trump nicht um politische Debatte, sondern um persönliche Angriffe im Stil eines “catch–as–catch–can“ ging.

Die Veranstaltung wurde systematisch von Trump zerstört. Es dominierte der Dauerton Trumps über seine Leistungen als “phenomenal job“ im Vergleich zu Biden “you were a disaster“. Nicht nur wurde Biden ständig unterbrochen und gehindert, seine Positionen vorzutragen. Wiederholt bezeichnete Trump ihn als Dummkopf, letzten seiner Klasse, unfähigen Berufspolitiker, zu dessen Meetings drei Leute kämen, zog sogar in schäbigster Weise über Bidens Sohn Hunter her, wieder und wieder …

Das letzte Thema “Integrität des Wahlprozesses“ nutzte Trump, um bereits massiven Wahlbetrug durch die Briefwahl festzustellen und seine Anhänger zur Überwachung der Wahllokale aufzurufen. Offenbar mit dem Ziel, Wähler einzuschüchtern, die gegen Trump abstimmen wollen.

Nach allen Maßstäben eines zivilisierten Streitgesprächs zwischen höchsten Führungspersönlichkeiten eines Landes war diese Veranstaltung völlig misslungen. Das Durcheinander war vor allem dadurch verursacht, dass Trump Biden ständig ins Wort fiel, Biden und seinen Sohn Hunter wiederholt beleidigte, sowie durch ständige Zwischenrufe Trumps mit Schlagworten und nicht belegten Behauptungen.

Diese von Trump zerstückelte Debatte machte es unmöglich, alternative Positionen der Kandidaten Trump und Biden zu erkennen, die nachvollziehbar argumentativ dargelegt worden wären. Der auf Streit statt Streitgespräch, auf Destruktion Bidens gerichtete Debattierstil Trumps hat Amerika und die Welt dieser Möglichkeit beraubt.

3. Trumps Auftritt —Tiefpunkt politischer Kultur.

Dass diese Feststellung nicht nur ein subjektiver Eindruck von außen ist, soll belegt werden durch Einschätzungen professioneller amerikanischer Wahlforscher.

Orientierung dazu bieten Kommentare junger Frauen und Männer, qualifizierte Wissenschaftler und Journalisten, die bei dem US-Dienst “FiveThirtyEight“ für Statistik und Datenjournalismus den Ablauf der Debatte verfolgten. *2) *3)

Wie beurteilten sie, wie die Debatte zwischen Biden und Trump auf die Wählerschaft wirken könnte?

3.1. Umfrage zu Biden vs Trump vor der Debatte.

Ausgangspunkt ist das vor der Debatte bestehende Wählerurteil über die beiden Präsidentschaftskandidaten Biden und Trump.

Eine Umfrage (21 bis 28. September 2020) von FiveThirtyEight/Ipsos (*3), Laura Bronner, 9:09) führt die Themen auf mit dem Anteil der Befragten, die das betreffende Thema als Top-Problem für die USA bezeichnen. Die Frage lautet: Wer bearbeitet das Thema besser, Trump oder Biden? Befragte, die kein Top-Thema nannten, wurden bei den Antworten nicht berücksichtigt.

Hier werden aus der Umfrage nur die besonders unterschiedlichen Wählerurteile über Trumps oder Bidens Fähigkeit, das betreffende Top-Problem zu lösen, berücksichtigt. Dies illustriert die relativen Vorteile der Kandidaten in den Augen der Wähler in markanter Weise.

Bei welchem Thema (Anteil der Befragten, für die es Top-Thema ist) liegt Biden deutlich vor Trump?

  • Covid-19 (31.7%): Biden (78,8 %) vor Trump (19.5 %). *4)
  • Gesundheitsleistungen (7.9 %): Biden (76,1%) vor Trump (22,0 %).
  • Problem “rassischer“ Ungleichheit (7,4 %): Biden (86,8 %) vor Trump (8,4 %).
  • Klimawandel (5,2 %): Biden (96,4 %) vor Trump (2,8 %).
  • Wirtschaftliche Ungleichheit (3,0 %): Biden (76,8 %) vor Trump (15,1 %).

Bei welchem Thema (Anteil der Befragten, für die es Top-Thema ist) liegt Trump deutlich vor Biden?

  • Wirtschaftslage (21,8 %): Trump (79,1 %) vor Biden (19,6 %).
  • Einwanderungspolitik (2,8 %): Trump (70,1 %) vor Biden (29,9 %).
  • Schwangerschaft-Abtreibung (2,3 %): Trump (96,0 %) vor Biden (2,1 %).
  • Waffenpolitik (1,9 %): Trump (66,9 %) vor Biden (30,3 %).

Die Zusammenstellung zeigt: Zum Zeitpunkt dieser Umfrage führt Biden bei mehr Themen mit deutlichem Vorsprung als Trump. Überdies liegt Biden bei Themen vorn, die für mehr Befragte Top-Thema sind als bei den Problemen, wo Trump deutlich führt.

Diese durch die Umfrage erkennbare Verteilung der Wählerpräferenzen erklärt, warum Biden die Debatte auf seinen Vorteil bei dem wichtigen Thema Covid-19 lenken und Trump das Thema Wirtschaft in den Vordergrund stellen wollte.

Zugleich sind damit die Gegenschläge auf die Stärke des Gegners erklärt: Biden kritisierte an der derzeit deutlichen wirtschaftlichen Erholung die starke Ungleichheit: Vor allem die Superreichen profitierten. Trump wiederum konterte Bidens Kritik an seiner Covid-19-Politik mit der Behauptung, Biden wäre nicht in der Lage gewesen, wie Trump frühzeitig die Einreise in die USA aus Ländern mit vielen Infizierten — wie China, Indien, Russland und der EU — zu verbieten. Damit habe Trump viele Leben in den USA gerettet, während Biden und die linken Demokraten Trumps Einreisesperre als rassistische Fremdenfeindlichkeit schlecht redeten.

3.2. Trump denunziert Biden und die Wahl — Wirkung auf Wähler?

Die landesweiten Umfragen sehen Biden seit Wochen stabil mit etwa 7 Prozentpunkten vor Trump. Biden führt auch in den meisten der hart umkämpften “Swing-States“. Dies mag Trumps Versuche erklären, Biden als dumm, als unfähigen Berufspolitiker mit einem korrupten Sohn, obendrein als schwach, senil und damit als Präsident der USA ungeeignet herabzusetzen.

Die bei FiveThirtyEight versammelten Wahl-Beobachter bezweifeln, ob Trump damit jenseits seiner Anhänger auch in der unabhängigen Wählerschaft überzeugen konnte. (*3) Vgl. Nathaniel Rakich 10:48 und Perry Bacon Jr. 10:47).

Micah Cohen (*3) 10:12): Da Trump 7 Prozentpunkte hinter Biden liegt, ist fraglich, ob es eine gute Strategie für Trump ist, einen schmutzigen (messy), unerträglichen Debattenstil zu verfolgen, um vielleicht ein Unentschieden zu erreichen. Auch Nathaniel Rakich (*3) 10:13) stellt angesichts des Rückstandes in Umfragen für Trump fest: Trump gelang es zwar, Biden zu hindern, seine Politik darzulegen. Trump hat jedoch nichts getan, um proaktiv Menschen davon zu überzeugen, ihn zu wählen, was er hätte tun müssen.

Zu Trumps Behauptungen, manipulierte Umfragen täuschten über seine Mehrheit bei den Wählern und ein riesiger Wahlbetrug würde vorbereitet, sagt Nate Silver (*3) 10:38):  Sollte Trump wirklich glauben, dass er in den “wahren Umfragen“ (real polls) vorne liegt, würde er nicht ständig über kommenden Wahlbetrug reden. Ähnlich Kaleigh Rogers (*3) 10:38): Sollte Trump die Wahl gewinnen, was macht er dann mit seiner Vorhersage weit verbreiteten Wahlbetrugs?

Wie wirkt das von Trump betriebene Chaos der Debatte und die von Trump ständig posaunten “Schwächen“ Bidens auf die Wählerschaft?

Amelia Thomson-Deveaux (*3) 10:44) sieht vor allem die Bereitschaft zur Wahl beschädigt: Die Debatte war extrem chaotisch und man konnte ihr kaum folgen. Sie wurde überaus gemein und persönlich. Der Moderator Wallace verlor völlig die Kontrolle. Da konnte keiner gewinnen, wir alle haben verloren. Ich kann mir keinen Wähler vorstellen, der diese Debatte beobachtet hat und denkt: Schön, ich bin erfreut über meine Möglichkeiten zur Wahl in diesem Jahr.

Ähnlich argumentiert Nate Silver (*3) 10:13): Obwohl Biden einige Beleidigungen ertragen musste und nicht gerade im Vergleich zu Trump als das größere “Alpha-Tier“ erschien, wirkt er als die entschieden würdigere Persönlichkeit. Allerdings mag diese “Debatte“ bei den Menschen zu gestiegenem Zynismus gegenüber der Wahl führen. Das könnte die Wahlbeteiligung senken, was für Trump vorteilhaft wäre.

Nate Silver betont jedoch am Schluss der Debatte, Joe Biden habe den besseren Eindruck auf die Menschen gemacht (*3) 10:47): Zwar habe Biden in den ersten 30 Minuten der Veranstaltung nicht als besonders scharfer Debattierer überzeugt. Aber er zeigte sich als feine Persönlichkeit: Er war nicht derjenige, der ständig den anderen unterbrach; oder der die Verpflichtung verweigerte, die Wahlergebnisse anzuerkennen; oder der sich vor der Aufforderung wegduckte, die rassistische Bewegung “Vorherrschaft der Weißen“ zu verurteilen; und Biden war nicht derjenige, der die Debatte gewinnen musste; denn er führt in den Umfragen. *5)

3.3. Beschädigtes Amerikabild.

Donald Trumps schmutziger (messy), extrem gemeiner (mean) Auftritt, wirkt weit über das Urteil bei FiveThirtyEight hinaus. Das Amerikabild in der Welt wurde durch Trump und seine Lügen über massiv vorbereiteten Wahlbetrug, die sogar vom FBI zurückgewiesen wurden (Nathaniel Rakich *3) 10:32), schwer beschädigt.

Aus der Führungsmacht des demokratischen Westens, vom amtierenden Staatspräsidenten der USA, Donald Trump persönlich, wurde der ganzen Welt das Bild unterster Stufe vulgärer Dreckschleuderei geboten. Statt der Welt ein Beispiel demokratischer Streitkultur der zwei führenden politischen Staatsmänner vor einer Wahl zu vermitteln, sieht die entsetzte demokratisch gesinnte Welt, wie Diktatoren und Autokraten triumphierend mit Fingern auf die amerikanische Demokratie zeigen.

Der Schaden für die politische Glaubwürdigkeit der USA als Führungsmacht der demokratischen Staaten der Welt ist so unabsehbar wie der Schaden für das internationale Ansehen der Demokratie.

Wird Trumps foul play am 3. November von der amerikanischen Wählerschaft zurückgewiesen?

*1) Read the full transcript of the first presidential debate. President Donald Trump and Democratic presidential candidate former Vice President Joe Biden, with moderator Chris Wallace of Fox News. Tuesday, Sept. 29, 2020, at Case Western University and Cleveland Clinic, in Cleveland, Ohio; https://www.concordmonitor.com/First-presidential-debate-Trump-Biden-full-transcript-36532544

*2) US-Dienst “FiveThirtyEight“, kurz 538 = Zahl der Wahlpersonen im Electoral College, das nach der Wahl am 03.11.2020 den Präsidenten und Vizepräsidenten wählt.

*3) What Went Down During The First Presidential Debate. UPDATED 10:56 PM | SEP. 29, 2020; https://fivethirtyeight.com/live-blog/first-presidential-debate-trump-biden/ Hinweis RS: Zitierten Kommentaren werden zur leichteren Prüfung in der FiveThirtyEight-Quelle Name und Uhrzeit beigefügt. (Die zitierten Kommentare wurden sinngemäß, aber zu besseren Verständlichkeit nicht wörtlich übertragen, RS).

*4) Lesebeispiel: Das Thema Covid-19 wird von 31,7 % der Befragten als Top-Problem für die USA gesehen. 78.8 % dieser Befragten halten Biden, nur 19.5 % Trump für besser geeignet, dies Problem zu lösen.

*5) Die vice presidential debate — am 7. Oktober zwischen den Kandidaten Kamala Harris (Demokraten) und Mike Pence (Republikaner) ausgetragen — wird an den Umfragen Biden vs Trump wenig ändern. Ohnehin werde sie im Vergleich zum “Duell“ der Präsidentschaftskandidaten weniger beachtet und wirke eher auf die eigene Stammwählerschaft. Ein Indiz für diese übliche Einschätzung in den USA ist das stark kommentierte Interesse an einer Fliege, die mehrere Minuten auf dem weißen Haupt von Mike Pence ruhte. Trotz des zeitweise scharf geführten Streitgesprächs, zeigten Harris und Pence zivilisierte Streitkultur. Die FiveThirtyEight-Beobachter konstatierten bekannte Standard-Positionen ohne neue politische Impulse (Sarah Frostenson, That`s a Wrap, 10:49). Siehe: What Went Down During The Vice Presidential Debate OCT. 7. By FiveThirtyEight; https://fivethirtyeight.com/live-blog/vice-presidential-debate-kamala-harris-mike-pence/