Fremdwort Fraktionsdisziplin.

Das aktuelle Geschrei in der Qualitätspresse über den Fraktionsvorsitzenden der Union, Volker Kauder, kann Politikbeobachter nur erheitern. Ein Lehrstück zum Thema: Wann entdecken die Abgeordneten des Bundestages, dass sie Vertreter des ganzen Volkes und nur ihrem Gewissen unterworfen sind (Artikel 38, Abs. 1 Grundgesetz)?

Das Gewissen der MdBs als Vertreter des Volkes, ihrer Wählerinnen und Wähler, rührt sich überhaupt nicht, wenn Bundestagspräsident Lammert mit Vorteilen zu Lasten der Wählerrechte winkt: Statt alle vier nur alle fünf Jahre Rechenschaft vor dem Wähler. Wunderbar! „Ich kenne fast keinen Kollegen im Bundestag, der nicht für eine fünfjährige Wahlperiode plädiert“, hören wir vom Linken Dietmar Bartsch. *1)

Keine Skrupel scheinen die „haushohe virtuelle Mehrheit“ des Bundestages (Lammert) zu behelligen, wenn sie plant, nicht sich ihrem Gewissen nach Art. 38 GG, sondern uns Wähler ihrem Eigeninteresse zu „unterwerfen“.

„Demokratie heißt wählen“ (Franz Müntefering) — schon möglich; aber wie oft gewählt wird, das bestimmt nicht das Grundgesetz, schon gar nicht das Wahlvolk, sondern Herr Lammert und die „haushohe virtuelle Mehrheit“ im Bundestag. Wenn das Grundgesetz deren Interessen nicht passt, wird es eben passend gemacht. Gewissen hin, Gewissen her — Hauptsache das Projekt „Weniger Demokratie“ geht stiekum über die Bühne.

Ganz anders sieht das aus, wenn die Politik ins Feuer der Wutbürger und der Presse gerät. Wie im Fall der Europapolitik und ihrer Hilfskredite und Subventionen für Griechenland. Da die Union (CDU/CSU) 2013 den Löwenanteil der Wahlkreise direkt gewonnen und knapp die absolute Mehrheit im Bundestag verfehlt hat, spürt sie Wut und Medienkritik besonders schmerzhaft.

Das von EU-Kommission, Europäischem Stabilitätsmechanismus (ESM), Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) mühsam mit den Regierungen der Euro-Länder ausgehandelte “Dritte Hilfsprogramm“ für Griechenland muss demnächst vom Deutschen Bundestag genehmigt werden. Der Union und ihrer Bundeskanzlerin Merkel droht eine öffentliche Blamage, da mindestens 60 Abgeordnete der Union ankündigen, gegen das Hilfspaket für Hellas zu stimmen.

Diese „Abweichler“ der Unionsfraktion und ihr „Gewissen“ genießen ein verdächtiges Maß an fürsorglicher Aufmerksamkeit in Medien und Politik.

In dieser Situation redete der Fraktionsvorsitzende der Union, Volker Kauder, für seine Kanzlerin Klartext: „Mich stört schon der heroische Begriff ´Abweichler`. Ein Nein ist nicht mehr wert als ein Ja. Und es stimmt nicht, dass die Nein-Sager keine Aufgaben mehr bekämen. Bosbach durfte Vorsitzender des Innenausschusses bleiben. Aber diejenigen, die mit Nein gestimmt haben, können nicht in Ausschüssen bleiben, in denen es darauf ankommt, die Mehrheit zu behalten: etwa im Haushalts- oder Europaausschuss. Die Fraktion entsendet die Kollegen in Ausschüsse, damit sie dort die Position der Fraktion vertreten.“ *2)

Da schlug die Stunde für die Heuchler der Republik, denen zwar kein kritisches Wort einfiel zur politischen Enteignung der Wähler durch den Lammert-Plan und dessen „haushohe virtuelle Mehrheit“ im Bundestag. Die aber nun in pompöser Weise über Fraktionszwang und das Gewissen unserer Volksvertreter schwadronieren. Zu den ganz großen Kommentatoren gehört Professor Ernst Elitz: „Mit seinen Drohgebärden hat Kauder dem Ansehen des Parlaments geschadet … Die Abgeordneten kennen ihre Pflicht. Wenn der Wähler fragt, ob sie ihrem Gewissen folgen werden, kann es nur eine Antwort geben. Die lautet: JA!“ *3)

Professor Elitz verleugnet hier sein Wissen um das Spannungsfeld vom einzelnen Abgeordneten, seiner Partei, seiner Fraktion und der Funktionsfähigkeit von Bundestag und Bundesregierung. Deshalb sei an einen herausragenden Politikwissenschaftler erinnert, Professor Dr. Uwe Thaysen, der dieses Spannungsfeld analysiert hat.

„Die parteipolitischen Bindungen des Abgeordneten stehen in einem Spannungsverhältnis zu seinem Freien Mandat (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG), demzufolge er ´Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur seinem Gewissen unterworfen` ist. Das Präsentationsrecht, die Kandidatenauslese, liegt heute praktisch bei den Parteien. Im Moment seiner Wahl zum Mitglied des deutschen Bundestages können die Parteien den Abgeordneten jedoch weder abberufen (´recall`) noch können sie ihm bindende Anweisungen erteilen (imperatives Mandat). Der Freiheitsraum des Abgeordneten ist über Art. 38 GG hinaus verfassungsrechtlich mehrfach gesichert (durch Art. 20, 21 und 46 GG). Daraus ergibt sich zwar eine rechtlich eindeutige Ablehnung des Fraktionszwanges, nicht aber der Fraktionsdisziplin. Auch das Bundesverfassungsgericht erkannte die Notwendigkeit an, durch Wahlen ein Parlament zu schaffen, das von seiner Fraktionsstruktur her in der Lage ist, eine aktionsfähige Regierung zu bilden.“ *4)

Diese Analyse Prof. Thaysens war schon vor 40 Jahren allgemeiner Kenntnisstand in der Wissenschaft von der Politik. Daher erheitert das Gezeter von Gewissen, Fraktionszwang und zum Fremdwort Fraktionsdisziplin.

*1) DTS-Meldung vom 03.08.2015, Bundestagspräsident will 5-jährige Legislaturperiode.

*2) Griechenland-Krise. Kauder geht mit Abweichlern hart ins Gericht. Interview mit Volker Kauder von Robin Alexander; http://www.welt.de/144968562; 09.08.15.

*3) Kauders Drohung. VON ERNST ELITZ; 10.08.2015, bild.de.

*4) Uwe Thaysen, Parlamentarisches Regierungssystem in der Bundesrepublik Deutschland. 2. Auflage, Opladen 1976, Uni-Taschenbücher UTB, S. 70. Hervorhebung im Original. Kurze, vereinfachte Erläuterung (RS): Der von Thaysen erwähnte Art. 20 GG betrifft die Festlegung unseres Staates auf die Demokratie und räumt jedem Deutschen das Recht auf Widerstand gegen Jeden ein, der diese Ordnung beseitigen will. Art. 21 legt den Parteien auf, sich demokratisch zu organisieren und definiert, unter welchen Bedingungen Parteien verfassungswidrig sind. Art. 46 schützt die Freiheit der Abstimmung oder der Äußerungen des Abgeordneten im Deutschen Bundestag oder seinen Ausschüssen und sichert seine bedingte Freiheit vor Sanktionen oder Strafverfolgung („Indemnität und Immunität des Abgeordneten“).