Weniger Demokratie.

Schon wieder will Bundestagspräsident (BTP) Lammert unser demokratisches Recht beschneiden, den Deutschen Bundestag für vier Jahre zu wählen. Lammert billigt uns dieses Recht nur alle fünf Jahre zu.

Für die älteren Bürger hieße das, dass sie nicht mehr 2- oder 3-mal die Bundespolitiker und ihre Parteien mit dem Stimmzettel bewerten können, sondern vielleicht nur noch einmal. Erstwähler mit hoffentlich mindestens 60-jähriger Lebenszeit als Wähler könnten die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag nur noch 12-mal und nicht wie bisher 15-mal bestimmen, wenn es nach Lammert ginge.

Lammert benötigt und fordert für dieses „Weniger Demokratie“ eine Änderung des Artikels 39, Absatz 1 unseres Grundgesetzes (GG), der unser Recht schützt, den „Bundestag auf vier Jahre“ zu wählen. Dieses „Weniger Demokratie“ bedürfte einer Mehrheit von mindestens „zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates“ (Art. 79, Abs. 2 GG).

Leider können wir Bürger Herrn Lammert — protokollarisch nach dem Bundespräsidenten der zweite Rang im deutschen Staat — nicht aus dem Amt wählen. Dies könnten jedoch die von uns gewählten Mitglieder des Deutschen Bundestags (MdB). Sie könnten BTP Lammert für diesen Anschlag auf die Rechte ihrer Wähler abstrafen. Sicher können wir Wähler gegen Lammerts Plan auf Hilfe „unserer Volksvertreter“ zählen! Oder etwa nicht?

Dürfen wir hoffen, unser demokratisches Recht als Wähler sei bei unseren „Volksvertretern“ in guten Händen? Den „Dienern“ des Volkes, des Gemeinwohls, die von uns gewählt, von uns bezahlt, von uns im Alter üppig versorgt und — was Büros, Personal und die Dienste des Parlaments betrifft — von uns im europäischen Vergleich allerbestens ausgestattet werden?

Können wir nicht alle dankbar feststellen: In vierjährigen Legislaturperioden des Deutschen Bundestages wurden der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg bewältigt, die Bundesrepublik in die westliche Wertegemeinschaft integriert, die neue Reform- und Ostpolitik gestaltet, die deutsche und europäische Einheit geschaffen, die Europäische Union vertieft und erweitert, die Finanz- und die Weltwirtschaftskrise überwunden?

Nein, fünf Jahre „fordert“ BTP Lammert, denn es „gibt gute Gründe, die Legislaturperiode des Bundestages auf fünf Jahre zu verlängern“. Vor allem — so brüstet sich Lammert mit seinem Anschlag auf unsere Rechte als Wähler — finde seine Forderung im Bundestag „seit langem eine haushohe, virtuelle Mehrheit“. *1)

Fassungslos hören wir Wähler, wie es aus dieser „haushohen, virtuellen Mehrheit“ unserer sogenannten Volksvertreter tönt.

Petra Pau (Vizepräsidentin des Bundestags, Linke): „Verlängerung der Legislaturperiode ist sicherlich sinnvoll“. Dietmar Bartsch (designierter Fraktionsvorsitzender der Linken): „Ich kenne fast keinen Kollegen im Bundestag, der nicht für eine fünfjährige Wahlperiode plädiert“.

Die Linken Pau und Bartsch haben weitere Gemeinsamkeiten: Mit ihrem 20. Geburtstag konnten sie bereits die Mitgliedschaft in der Sozialistischen Einheitspartei (SED) der DDR feiern. Diese hochrangigen Vertreter der „Jeunesse dorée“ in der DDR-Diktatur wurden durch die demokratische Wende 1990 zunächst böse überrascht. Dass diese Beiden freie Wahlen lieber nicht so häufig wollen, ist daher belanglos. Das kann abgebucht werden als weiterer Beleg für die These: „Immer mehr DDR in der BRD“.

Aber als skandalös dürften viele Menschen empfinden, mit welcher Bedenkenlosigkeit unsere MdBs, unsere „Volksvertreter“, ihr Eigeninteresse an einer auf fünf Jahre verlängerten Legislaturperiode des Bundestags über unser demokratisches Recht stellen, das Parlament alle vier Jahre zu wählen. Quer durch alle Parteien des Bundestags!

Wem dieses Urteil zu hart erscheint, der sollte sich etwas eingehender mit den Gründen beschäftigen, die Lammert und Co. vorbringen. Diese Begründungen — das sei vorausgeschickt — laufen darauf hinaus, dass es an ein Wunder grenze, wenn unser Bundestag überhaupt etwas zustande bringt. Denn nach Bundestagswahlen, so heißt es:

Der Bundestag muss sich erst finden. (Bartsch, Lammert unisono).

Bis sich die Damen und Herren MdB „gefunden“ haben, dauere es mindestens ein halbes Jahr.

Das mutet uns ein Volksvertreter wie Lammert zu, der seit 35 Jahren im Bundestag sitzt. Selbst Bartsch feiert bald sein 20. MdB-Jubiläum. Im Durchschnitt haben MdBs zwei Legislatur-Perioden gedient. Die Fraktionsvorsitzenden, ihre Stellvertreter und Geschäftsführer, die für die Leistung des Bundestags verantwortlich sind, stehen durch die Bank seit Jahrzehnten in hoher politischer Verantwortung.

Frau Hasselfeldt, Herr Kauder, Herr Oppermann, wollen Sie sich von Lammert und Bartsch kleinreden lassen? Dulden Sie, dass uns weisgemacht wird, der Bundestag sei nach der Wahl ein halbes Jahr arbeitsunfähig?

Das letzte Jahr steht im Zeichen des Bundestagswahlkampfes (Lammert).

Damit will BTP Lammert uns Wählern mitteilen, dass die von uns für vier Jahre gewählten Volksvertreter nur zwei Jahre und sechs Monate für uns arbeiten. Bedenkt man noch Urlaub, Krankheit oder Reisen, v.a. in beliebte Länder wie Kuba, Russland, Südafrika oder in die Anden u.ä.m., dann dienen unsere Volksvertreter dem Gemeinwohl in Deutschland am Ende nicht vier, sondern nur zwei Jahre.

Hätte Lammert die MdBs nicht mit dem Aufruf zu einer Legislaturperiode von fünf Jahren geködert, müsste Lammerts fast ehrenrührige Unterstellung seine sofortige Abwahl durch unsere Volksvertreter auslösen.

Ständige Wahlkämpfe schränkten die Gestaltungsmöglichkeiten des Bundestags ein. Eine fünfjährige Wahlperiode würde diesen Umstand relativieren (Lammert).

Gemeint sind vor allem die Wahlen für die Landtage unserer 16 Bundesländer. Hierzu ist mit Professor Dr. Frank Decker ein Forscher zu konsultieren, der auf dem Gebiet Parteien, Föderalismus und Demokratiereform ausgewiesen ist. Der Sozialdemokrat Prof. Decker ist darüber hinaus in der Leitung der von Bodo Hombach initiierten „Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik“ tätig. *2)

Professor Decker sagt zu Lammerts Behauptung folgendes: Eine längere Legislaturperiode des Bundestags von 5 Jahren würde kaum etwas daran ändern, dass Landtagswahlen auf die Bundespolitik ausstrahlen. Das eigentliche Problem liege darin, dass den Bundespolitikern der Mut fehlt, sich von Landtagswahlen unabhängiger zu machen.

Für ihn, Prof. Decker, liegen die Argumente Lammerts daher „überhaupt nicht auf der Hand“. Überdies müssten die Bürger im Gegenzug „ein Weniger an Demokratie“ hinnehmen. *2)

Diese Aussage des Experten muss sich der Wähler ganz klar vor Augen führen: Bequemlichkeit, mangelnder Mut gegenüber der Politik in den Bundesländern, wo die Wahlkreise sind und um die wahlsicheren Plätze auf den Partei-Landeslisten für die Bundestagswahl gekämpft wird — dafür sollen wir „ein Weniger an Demokratie“ hinnehmen?

Die von Lammert ebenfalls geforderte Änderung des Wahlsystems bezüglich Überhangs- und Ausgleichsmandaten, um einer theoretisch sehr stark steigenden Zahl von MdBs vorzubeugen, bleibt hier außer Betracht. Prof. Decker sieht dies nicht realisierbar: „Das kann Lammert jetzt noch so stark fordern. Er wird die beiden großen Parteien nicht zu einer solchen Änderung des Wahlrechts bewegen können.“ *2)

Jedoch nimmt Prof. Decker ein Interesse der GroKo-Parteien Union und SPD an einer Verlängerung der Wahlperiode wahr. Dieser zweite Teil der Forderungen Lammerts würde wahrscheinlich umgesetzt, damit Lammert „sein Gesicht wahren kann“. *2)

Träte dieses von Prof. Decker vermutete Ergebnis ein, hätten wir Bürger also ein „Weniger an Demokratie“, damit Bundestagspräsident Lammert aus GroKo-Raison „sein Gesicht wahren kann“. Höchste Zeit, dass Deutschlands Wähler und Demokraten aufwachen! Oder ist die Berliner Republik wie Weimar schon zu einer „Demokratie ohne Demokraten“ verkommen?

Setzen Lammert und seine „haushohe, virtuelle Mehrheit“ im Bundestag die 5-jährige Legislaturperiode durch, dann müssten wenigstens wir SPD-Mitglieder aufstehen. Dann müssten wir dem Vizekanzler und SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel vorwerfen: Dieses „Weniger Demokratie“ haben Sie uns nicht als GroKo-Projekt angekündigt, als wir SPD-Mitglieder um Zustimmung für den „Koalitionsvertrag 2013“ gebeten wurden. Mit dem ausdrücklichen Versprechen: „Auf uns können sich die Bürgerinnen und Bürger verlassen. Euer Sigmar Gabriel“. Mit handschriftlicher Unterschrift besiegelt!

Abschließend sei daran erinnert, dass Willy Brandts politisches Leitmotiv „mehr Demokratie wagen“ seit 1969 fester Bestandteil politischer Ansprachen ist. Brandts Wort wird von sämtlichen Einrichtungen politischer Bildung anerkannt, auch von der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS). *3)

Franz Müntefering hat Willy Brandts „Versprechen, mehr Demokratie zu wagen“ nach 40 Jahren in einer Rede in Berlin beschworen. *4) Dabei betonte der damalige SPD-Vorsitzende Müntefering: „Demokratie ist wählen und sich wählen lassen.“

Dass heute sogar die SPD-Bundestagsfraktion dem „Weniger an Demokratie“ zuzustimmen scheint, das Lammert mit der 5-jährigen Wahlperiode für den Bundestag fordert, ist für viele Sozialdemokraten kaum zu glauben.

Wo bleibt das Machtwort des SPD-Fraktionsvorsitzenden Oppermann? Wann macht der SPD-Vorsitzende Gabriel diesem skandalösen Versuch ein Ende, die demokratischen Rechte der Wähler zu kappen?

Weniger Demokratie? Wagt es nicht!

*1) DTS-Meldung vom 03.08.2015, Bundestagspräsident will 5-jährige Legislaturperiode. Sowie DTS-Meldung vom 04.08.2015, Pau unterstützt Vorschlag für längere Legislaturperiode. RS: Auch das Linsengericht einer „Kompensation“ durch ohnehin kontrovers beurteilte „Volksbefragungen“ auf Bundesebene weisen viele Demokraten zurück; selbst Lammert lehnt dies ab.

*2) Der effektivere Bundestag, 03.08.2015 // http://detektor.fm/politik/wahlrechtsreform-legislaturperiode-und-abgeordnetenanzahl. Audio-Interview mit Prof. Decker.

*3) Vgl. dazu den herausragenden Beitrag von Prof. Dr. Jörg-Dieter Gauger, Politik und politische Bildung: Bemerkungen zu einem vielschichtigen Verhältnis, http://www.kas.de/upload/dokumente/demokratie/gauger.pdf, S. 142. Übrigens hat Sigmar Gabriel sein Vorwort zum „Koalitionsvertrag 2013“ mit einem Zitat von Willy Brandt zum Wesen der Demokratie geschmückt.

*4) Willy Brandt und „Mehr Demokratie wagen“ 28.10.1969 – 28.10.2009.

Rede von Franz Müntefering, MdB, Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands bei der Festveranstaltung „Vor 40 Jahren – Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler“ der Bundeskanzler Willy Brandt Stiftung am 28. Oktober 2009 in Berlin.

***) Nachtrag 13.8.2015. Leider bin ich erst jetzt auf den überzeugenden Appell von Rechtsanwalt Professor Dr. Christofer Lenz    gestoßen. Prof. Lenz warnte bereits vor der Bundestagswahl vom 22.9.2013: „Wagt nicht weniger Demokratie“. Dieser Appell ermutigt gerade aus rechtskundiger Sicht den Widerstand gegen BTP Lammerts Zumutung, unser Recht einzuschränken, den Bundestag alle vier Jahre zu wählen. Siehe: http://www.ivr.uni-stuttgart.de/mitarbeiter/weitere/lenz/NVwZ-Editorial_-_Wagt_nicht_weniger_Demokratie.pdf