Friedensnobelpreis 1973: Bleibende Gedanken.

Am 16. Oktober 1973 wurden Henry Kissinger, USA, und Le Duc Tho, Demokratische Republik Vietnam, für ihr Aushandeln eines Waffenstillstands im Vietnamkrieg mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. *1)

1. Der Weg zu Frieden für Vietnam.

Fast vier Jahre hatten die Verhandlungen zwischen den USA und Nord-Vietnam im fortgesetzt blutigen Krieg gedauert. Noch zu Weihnachten 1972 bombardierten die USA das kommunistische Nord-Vietnam, während dessen Streitkräfte die Angriffe in Süd-Vietnam verstärkten. Inzwischen war offensichtlich geworden, dass die Staatlichkeit Süd-Vietnams trotz der Unterstützung durch die USA gescheitert war.

Am 27. Januar 1973 unterzeichneten Henry Kissinger und Le Duc Tho das Abkommen für einen Waffenstillstand. Dass dieses Ergebnis mit dem Friedensnobelpreis für die beiden Verhandlungsführer gewürdigt wurde, löste eine Kontroverse aus, die bis in unsere Zeit nachwirkt: *2)

Le Duc Tho weigerte sich, den Preis anzunehmen. Henry Kissinger konnte, nachdem er im September 1973 von US-Präsident Richard Nixon zum Außenminister berufen wurde, wegen Arbeitsüberlastung nicht am Zeremoniell der Preisverleihung in Oslo teilnehmen. Zum ersten Mal in der Geschichte des Friedensnobelpreises hatten zwei Mitglieder das Friedens-Preis-Komitee im Protest verlassen.

Heute erscheint die Nachwirkung der Gedanken bedeutsam, die Frau Aase Lionaes, Vorsitzende des Nobel-Komitees des Norwegischen Nationalparlamentes (Storting), in ihrer Rede zur Verleihung des Friedensnobelpreises im Dezember 1973 entwickelte.

Die Sozialdemokratin (norwegische “Arbeiderpartiet“) Aase Lionaes (1907 – 1999) war die erste Frau, die Mitglied im Stortings-Finanzausschuss und die erste Frau, die in das Stortingspräsidium gewählt wurde. Als Ökonomin wie als sozialdemokratische Politikerin bleibt sie durch herausragende Leistungen in Erinnerung. Auch Willy Brandt wurde von Aase Lionaes durch ihre Rede geehrt, als ihm der Friedensnobelpreises 1971 verliehen wurde.

Zum Friedensprozess für Vietnam hat Aase Lionaes hervorgehoben: *1)

  • Der Friedensnobelpreis sei auch Persönlichkeiten in politischer Verantwortung für Frieden oder Krieg verliehen worden, weil sie im Rahmen des politisch Möglichen für einen Weg zum Frieden eintraten.
  • So sei der Preis 1971 an einen verantwortlichen Staatsmann, Bundeskanzler Willy Brandt, für seinen persönlichen Beitrag zur Politik der Entspannung und zur Politik der Zusammenarbeit in Europa verliehen worden.
  • Der Preis 1973 habe zwei verantwortliche Politiker im Zentrum des Geschehens in Vietnam geehrt. Das Nobel Komitee hoffe, beide Staatsmänner würden das gleiche Verständnis für den Zweck des Preises zeigen, wie es Willy Brandt 1971 ausgedrückt habe: Der Friedensnobelpreis sei höchste Ehre und zugleich lege er dem politisch Verantwortlichen die größten Verpflichtungen auf.
  • Zu dieser Verpflichtung habe sich Henry Kissinger in seinem Brief an das Nobel Komitee vom 2. November 1973 ausdrücklich bekannt — zu der “moralischen Verantwortung“, den Waffenstillstand in Vietnam fortzuführen bis bleibender Frieden für die leidenden Menschen in Indochina erreicht sei.

2. Frieden durch Regeln internationaler Ordnung.

Aase Lionaes` Rede zielt weit über die Hoffnung auf Frieden für Vietnam hinaus. Sie greift die zentralen Gedanken Henry Kissingers zu einer Entspannungspolitik und zu einer regelbasierten internationalen Friedensordnung auf, für die er immer wieder in Moskau und Peking geworben habe.

Aase Lionaes würdigt Kissingers Botschaften als “großes Experiment“, das einen Weg aufzeige, der aus der weltpolitischen Situation herausführt, die durch den Zweiten Weltkrieg und den Kalten Krieg entstanden sei. Damit gewinnt Aase Lionaes` Rede zum Friedensnobelpreis 1973 für Henry Kissinger eine bis in die Gegenwart nachwirkende historische Dimension.

  • In den Konflikten, die zu Krieg führen können, müsse eine Lösung durch Verhandlungen gesucht werden — nicht über den totalen Krieg mit dem Ziel totalen Sieges. In einer Welt, die Frieden will, dürfe sich niemand das Recht anmaßen, mit militärischer Macht sein politisches System anderen aufzuzwingen. Nationen mit verschiedenen Regierungssystemen müssen in Frieden zusammen leben und ihre Konflikte durch Verhandlungen lösen. Diese Überzeugung leite das Nobel Komitee, wenn es den Friedenspreis verleihe.
  • Für Kissinger sei der Frieden an eine internationale Ordnung gebunden, die auf universell akzeptierten Grundsätzen beruhe, die das Verhältnis der Staaten untereinander bestimmen müssen. Die zentrale Idee Kissingers zur Außenpolitik sei, dass Frieden durch Regeln gesichert werde, an denen alle Staaten, vor allem die Großmächte, ihr Verhalten untereinander ausrichten.
  • In einer solchen Weltordnung, so argumentiere Kissinger, sollten die USA nicht versuchen, die Rolle eines “Weltpolizisten“ zu spielen. Vielmehr müssten die anderen Mächte, vor allem die Sowjetunion und China, als gleichrangige Partner eingeladen werden, mit gleichen Rechten und gleicher Verantwortung, an der Politik für Frieden in der Welt mitzuwirken.
  • Angesichts der Gefahren atomaren Krieges für die Menschheit müssten die Großmächte gerade wegen ihrer unterschiedlichen politischen Systeme und ihrer Interessenskonflikte eine Entspannungspolitik mit verbindlichen Regeln für eine Weltordnung herbeiführen, die den Krieg, insbesondere den Atomkrieg, vermeidet. Denn solche Ordnungsregeln ermöglichen den Regierungen, in Konfliktfällen zu verhandeln und mäßigend zu wirken.

3. Gefährdung der regelbasierten Friedensordnung.

Aase Lionaes betont in ihrer Rede zur Verleihung des Friedensnobelpreises 1973, Kissinger habe durch die Erfahrungen mit dem Hitlerregime stets die Gefährdung einer regelbasierten Weltordnung für Frieden befürchtet.

Sie zitiert aus Kissingers Dissertation von 1954: „Wann immer Frieden — verstanden als Vermeidung von Krieg — als primäres Ziel einer Gruppe von Mächten angestrebt wurde, war das internationale System dem rücksichtslosesten Mitglied der internationalen Gemeinschaft ausgeliefert.“

Mit dem Überfall auf die Ukraine hat sich Russlands Präsident Putin als “rücksichtslosestes Mitglied der internationalen Gemeinschaft“ erwiesen. Putin wird seit dem 17. März 2023 mit Haftbefehl durch den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) gesucht. Ihm wird das Kriegsverbrechen der Deportation ukrainischer Kinder nach Russland vorgeworfen.

Putin hat mit dem “großen Experiment“ (Aase Lionaes) einer internationalen regelbasierten Friedensordnung gebrochen, für die Henry Kissinger gut 70 Jahre geforscht und politisch gearbeitet hatte.

In seinem 100. Lebensjahr zog Henry Kissinger die Konsequenz aus der fortgesetzten Aggression Russlands gegen die Ukraine. Im September 2023 sagte er in Washington dem Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj: „Before this war, I was opposed to the membership of Ukraine in NATO because I feared that it would start the very process that we are seeing now. Now that this process has reached this level, the idea of a neutral Ukraine under these conditions no longer makes sense.“ *3)

Ermutigt durch diese Worte Kissingers, mögen wir hoffen, dass die langjährige Partnerschaft mit der demokratischen Ukraine ihre Erfüllung als Mitglied von EU und NATO finden wird.

4. Henry Kissinger: Deutschlands Dankesschuld

Aase Lionaes hatte in ihrer Rede zur Verleihung des Friedensnobelpreises 1973 Henry Kissingers Beiträge zur Entspannungspolitik im Sinne auch Willy Brandts gewürdigt.

Diese Erinnerung sei abschließend ergänzt durch bewegende Worte von Prof. Dr. Ulrich Schlie, dem aktuellen Inhaber der Henry-Kissinger-Professur für Sicherheits- und Strategieforschung an der Universität Bonn:

„Henry Kissingers persönlicher Werdegang hat ihn zu einem Brückenbauer zwischen Europa und Amerika werden lassen. Immer wieder hat er um Verständnis für Deutschland und die Sichtweise Europas geworben. Mit der Glaubwürdigkeit seiner Biografie und seiner Stimme hat er ganz wesentlich dazu beigetragen, dass das Vertrauen in Deutschland nach der politischen und moralischen Katastrophe des „dritten Reiches“ wieder wachsen konnte und dem freien Teil Deutschlands nach 1945 eine Bewährungsprobe geschenkt wurde.“ *4)

*1) Award ceremony speech. Presentation Speech by Mrs. Aase Lionaes, Chairman of the Nobel Committee of the Norwegian Storting; https://www.nobelprize.org/prizes/peace/1973/ceremony-speech/

*2) News in English.no. Views and News from Norway. Kissinger met by protesters in Oslo. December 12, 2016; https://www.newsinenglish.no/2016/12/12/kissinger-met-by-protesters-in-oslo/

*3) The Evolution of Henry Kissinger’s Views on Russia And Ukraine. By Robert Coalson. November 30, 2023; https://www.rferl.org/a/henry-kissinger-evolution-views-russia-ukraine-obituary/32708682.html (Robert Coalson is a senior correspondent for RFE/RL (Radio Free Europe/ Radio Liberty) who covers Russia, the Balkans, and Eastern Europe.)

*4) Universität Bonn. Zum Tod von Henry Kissinger. 30. November 2023; https://www.uni-bonn.de/de/neues/zum-tod-von-henry-kissinger