Ganz einfach Nein?

Am Donnerstag, dem 16. Januar 2020, fand im Deutschen Bundestag die abschließende Debatte um die Reform der Organspende statt. Hier folgt der Versuch, das Ergebnis der Abstimmung zu erklären.

1. Im Bundestag zählt das Gewissen.

Wer diese Bundestagsdebatte im TV gesehen oder im Plenarprotokoll *1) gelesen hat, wird von den meisten Beiträgen unserer MdBs tief beeindruckt gewesen sein. Denn trotz des Streitens um die Sache, wurde überwiegend das gemeinsame Ziel hervorgehoben und geachtet.

  • Gestritten und abgestimmt wurde “über eine hochethische Frage: Wie kommen wir zu mehr Transplantationen? Wie retten wir mehr Leben? Wem gehört der Mensch?“ (Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)).
  • “Was uns alle hier heute im Plenum eint, ist doch der Wunsch, dass die Zahl der Organspenden in Deutschland massiv steigt.“ (Christine Aschenberg-Dugnus (FDP)).
  • “Jede Entscheidung in dieser Frage verdient Respekt – eine gegen die Organspende genauso wie eine für die Organspende.“ (Katja Suding (FDP)).

„Wir sind heute hier, um Leben zu retten. Das eint beide Gesetzentwürfe“, diese Feststellung von Annalena Baerbock wurde sicher über die Parteien hinweg geteilt. Innerhalb der Parteien konnten jedoch die Meinungen kaum unterschiedlicher sein.

So sahen wir Staatsbürger ein eher seltenes parlamentarisches Ereignis: Für die Wählerschaft wie für die Abgeordneten ist die Organspende eine zutiefst persönliche Entscheidung. Die Regie der Parteien versagte, gleich ob bei Regierungsparteien oder der Opposition. Der “Fraktionszwang“ wurde aufgehoben, die Debatte frei gegeben, die Abgeordneten waren “nur ihrem Gewissen unterworfen“, wie es im Artikel 38 (1) unseres Grundgesetzes heißt.

2. “Doppelte Widerspruchslösung“ vs. “Erweiterte Entscheidungslösung“.

Zur Debatte standen zwei Gesetzentwürfe, die Aussicht hatten, von der Mehrheit des Bundestages beschlossen zu werden. Vereinfacht dargestellt, ging es um folgende Alternativen.

  • Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), von einer parteiübergreifenden MdB-Gruppe unterstützt, schlug die “doppelte Widerspruchslösung“ vor: Jeder Bürger kann als Organspender gelten, es sei denn, er hat dem nachweislich widersprochen. Ist dies nicht festzustellen, müssen die Ärzte bei Angehörigen nachfragen, ob ihnen der Widerspruch des sterbenden “hirntoten“ Patienten bekannt ist.
  • Eine andere MdB-Gruppe um Annalena Baerbock (Vorsitzende der Grünen), die auch durch die Amtsvorgänger von Bundesgesundheitsminister Spahn, Ulla Schmidt (SPD) und Hermann Gröhe (CDU), unterstützt wurde, schlug die “erweiterte Entscheidungslösung“ vor: Organspender kann nur sein, wer zu Lebzeiten ausdrücklich die Bereitschaft erklärt hat, seine Organe nach dem Tod zu spenden. Die Möglichkeit, Schweigen als Zustimmung zu deuten, wie es die “doppelte Widerspruchslösung“ ermögliche, stünde im Widerspruch zu unserer Rechtsordnung.

Kern der Kontroverse um die beiden Gesetzentwürfe schien die Frage: Wenn jeder Mensch hierzulande potenzieller Organempfänger ist, ist es dann zumutbar, von jedem volljährigen Bürger zu verlangen, dass er „begründungsfrei – ganz einfach Nein“ (Jens Spahn) sagt, wenn er nicht Organspender sein will?

Sag ganz einfach Nein! Dieser Vorgabe des Gesetzentwurfs zur “doppelten Widerspruchslösung“ von Gesundheitsminister Jens Spahn wurde von Anhängern der “erweiterten Entscheidungslösung“ entschieden widersprochen.

Kathrin Vogler (DIE LINKE) argumentierte, dass die “Sag` ganz einfach Nein“-Forderung Spahns die “Lebensrealität“ vieler Menschen ignoriere:

  • Menschen, die dazu nicht in der Lage sind oder die von Informationen nicht erreicht werden, wie Obdachlose, oder “Menschen, die unsere Sprache nicht sprechen, oder die sieben Millionen funktionalen Analphabeten in unserem Land“;
  • Menschen, die “aus Angst vor Rechnungen, Mahnungen, Gerichtsvollziehern ihre Post überhaupt nicht mehr öffnen“;
  • Menschen, denen “eine Depression vielleicht nicht ihre Fähigkeit zur Entscheidung geraubt hat, aber doch die Fähigkeit, die Entscheidung umzusetzen“;
  • Menschen im jugendlichen Alter, die in dieser Lebensphase auch “das verdammte Recht … auf ganz andere Dinge im Kopf (haben), als sich mit ihrer eigenen Sterblichkeit auseinanderzusetzen“.
  • Menschen schließlich in ständiger “Angst vor Diskriminierung, Ausgrenzung und Stigmatisierung (werden) nicht zum Amt gehen und sagen: Hallo, ich möchte kein Organspender sein … ich kann nicht lesen und schreiben. Können Sie mir mal bitte bei dem Formular helfen?“

Ähnliche Bedenken hat Ulla Schmidt (SPD) vorgetragen: „Wenn wir nicht aufpassen, verschiebt sich etwas in der Debatte. Wenn die Widerspruchslösung und damit die Bereitschaft zur Organspende zur Norm werden, dann könnten die Menschen, die Nein sagen, sich in eine Ecke gedrängt fühlen.“

Auch Hermann Gröhe (CDU) weist das “Man wird doch wohl sagen können ´Entscheidet euch!`“ des Spahn-Entwurfs zur Widerspruchslösung zurück: Wer “aus welchen Gründen auch immer diese Entscheidung nicht trifft“, dürfe niemals sein Recht auf Selbstbestimmung verlieren. Unser Grundgesetz erlaube nicht, dass “der Staat das Selbstbestimmungsrecht des Menschen unter eine Bedingung stellt … das Recht auf körperliche Unversehrtheit muss ich nicht durch eine Widerspruchserklärung aktivieren; ich habe es bedingungslos, und nur meine eigene Einwilligung (in die Organspende, rs) kann es zurücktreten lassen.“

3. Warum fiel die “doppelte Widerspruchslösung“ durch?

Warum ist der von Bundesgesundheitsminister Spahn vorgelegte Gesetzentwurf der “doppelten Widerspruchslösung“ mit nur 43 % Ja-Stimmen im Deutschen Bundestag deutlich zurückgewiesen worden? Warum konnte die “erweiterte Entscheidungslösung“ (Baerbock u. a.) in der Schlussabstimmung einen Ja-Stimmenanteil von 65 % erreichen?

Ganz abgesehen von dem Rechtsprinzip, dass Schweigen nicht als Zustimmung zu werten sei, mögen weitere Gründe das Abstimmungsergebnis erklären. Ich vermute, dass die Einlassungen einiger weniger Anhänger der “doppelten Widerspruchslösung“ zu diesem Ergebnis führten, weil sie den Eindruck aufkommen ließen, dass mit hochfahrenden Werturteilen, ja, nahezu brutal die “Organbeschaffung“ betrieben wurde.

Gewiss mag angesichts des Bedarfs schwer kranker Menschen und des mutmaßlichen Defizits an gespendeten Organen, um Leben zu retten, die Dringlichkeit einer Lösung stark empfunden werden.

Es liegt leider in der Natur von uns Menschen, dass wir allesamt unsere größte Unterstützung für jede “gute Sache“ zwar erklären, doch bleiben tätige Leistungen weit hinter der guten Absicht zurück. Zu sehen an der Zahl von Organspende-Ausweisen mit positiver Bereitschaft, Organe zu spenden. Oder ähnlich bei der überwältigend deklarierten Opferbereitschaft für Klima- und Umweltschutz und dem realen Verhalten. Die Beispiele lassen sich fortsetzen …

Und dennoch mögen nicht wenige Abgeordnete die folgenden Äußerungen während der Debatte im Bundestag als abwertend gegenüber der Meinung anderer empfunden haben.

Thomas Oppermann (SPD) erwartet und fordert, dass die “Widerspruchslösung“ neben dem “gesetzlichen Paradigmenwechsel auch einen Mentalitätswechsel“ bewirke. Eine “Kultur der Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe“ mit “gemeinschaftsbezogenen, gemeinschaftsgebundenen Menschen“ statt dem “auf sich selbst bezogenen, egoistischen Individuum“ hält Oppermann den Bürgern als “mein Menschenbild“ entgegen.

Dr. Karl Lauterbach (SPD) weiß als Mediziner und Ökonom offenbar auch, dass “eine unethische Haltung“ vorliegt, wenn man nicht für die “Widerspruchslösung“ ist: „Es ist unethisch, ein Organ nehmen zu wollen, aber nicht bereit zu sein, zumindest Nein zu sagen, wenn man nicht bereit ist, zu spenden.“ Für dieses Werturteil vom Ausmaß nahezu eines Generalverdachts gegen alle Andersdenkenden bemühte Lauterbach in höchst fragwürdiger Weise die Bibel, die Goldene Regel und Immanuel Kant.

Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) weiß auch, warum die “Widerspruchslösung“ unabweisbar zustimmungspflichtig ist:Im Ergebnis sage ich: Die Freiheit der Lebenden ist wichtiger als die Freiheit der Toten. Die Selbstbestimmung der Lebenden ist wichtiger als die nicht genutzte Chance zur Selbstbestimmung Toter. Und ich füge hinzu: Die Solidarität mit den Lebenden ist mir wichtiger als die Solidarität mit den Toten, und die Würde der Lebenden ist wichtiger als die Würde der Toten.“

Gegen zuviel Selbstgefälligkeit auf dem “moral highground“ hatte Ulla Schmidt (SPD) deutliche Worte gefunden: „Hier wird gesagt: Jeder kann sich frei entscheiden. Aber die Gefahr ist – auch wenn man die Debattenbeiträge heute hört –, ob dann nicht doch die Frage aufkommt, wie sich das “egoistische Individuum“ (Oppermann, rs) gegenüber der Gesellschaft verhält.“

Vielleicht wollten mehr Abgeordnete als erwartet nicht von den drei zitierten Werte-Richtern der Widerspruchslösung, Oppermann, Lauterbach und Birkwald, in die Ecke (Ulla Schmidt) des “auf sich selbst bezogenen, egoistischen Individuums“ (Oppermann) gedrängt werden.

Mit GroKo-Minister Spahn “ganz einfach Nein sagen“? Das reicht bei weitem nicht in der Debatte über die Organspende.

*1) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 140. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Januar 2020; http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19140.pdf