Gerechtigkeitspolitik.

In merkwürdigem Kontrast zur lautstarken „Gerechtigkeitspolitik“ im Wahljahr steht die Stille, wenn es um eine Frage der Gerechtigkeit geht, die gar nichts kostet außer dringend gebotenem Handeln von Rechtspolitikern in Bund und Ländern.

Das Bundesverfassungsgericht hat am 20.02.2013 auf rechtspolitische Probleme bei Gesetzen zum „Maßregelvollzug“ hingewiesen.*1). Der Maßregelvollzug regelt die Behandlung psychisch kranker (oder suchtkranker) Straftäter mit dem Ziel der öffentlichen Sicherheit und der erfolgreichen Behandlung im Hinblick auf die Entlassungsfähigkeit der Untergebrachten.

Die Bürger, die „Öffentlichkeit“ und die Einrichtungen politischer Bildung sollten den „Im Namen des Volkes“ getroffenen Beschlüssen der Verfassungsrichter erheblich mehr Aufmerksamkeit widmen. Denn „wir sind das Volk.“ Gerade wir juristischen Laien sollten uns sorgfältig informieren. Zumal sich unsere Verfassungsrichter vorbildlich klar ausdrücken.

Seit Anfang 2011 wurde in unser aller „Namen des Volkes“ bereits zum dritten Mal durch die Verfassungsrichter entschieden, dass Landesgesetze zur Zwangsbehandlung in psychiatrischen Kliniken nichtig und unvereinbar mit dem Grundgesetz seien.

In allen drei Fällen ging es um Verfassungsbeschwerden gerichtlich schuldunfähig beurteilter Menschen im „Maßregelvollzug“, die zwangsweise mit Medikamenten behandelt wurden. Einen Beschwerdeführer aus Baden-Württemberg zitiert das Bundesverfassungsgericht: „Er leide schwer unter den Nebenwirkungen der Medikation.“ Ähnlich informieren die Verfassungsrichter über Herrn Z. aus Sachsen: „Mit den schweren Nebenwirkungen wolle er nicht leben.“ (*1, Abs.31).

Diese Beschlüsse sind eine dringende Aufforderung an die Ministerpräsidenten der Bundesländer, auf die sich die Entscheidungen der Verfassungsrichter seit 2011 beziehen. Frau Malu Dreyer, Herr Winfried Kretschmann, Herr Stanislaw Tillich schulden der Öffentlichkeit „im Namen des Volkes“ Rechenschaft.

Was unternahmen sie seit den Beschlüssen zu den Beschwerden Betroffener, die das Bundesverfassungsgericht fällte, um das Grundrecht auf Würde und körperliche Unversehrtheit psychisch kranker Menschen zu schützen? Was haben sie getan, um für möglicherweise notwendige Zwangsbehandlungen eine unserem Grundgesetz und der Würde des Menschen entsprechende gesetzliche Grundlage zu schaffen?

Diese Fragen richten sich auch an die Bundesministerin der Justiz, Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, von der Partei der Freiheit. Hier mag besondere Sensibilität gegenüber dem Problem des Zwanges gegen Wehrlose vermutet werden.

Es geht hier nicht darum zu bestreiten, dass eine zwangsweise Behandlung psychisch Kranker geboten sein kann. Aber das Bundesverfassungsgericht hat zu dem jüngsten Fall in Sachsen für jeden Bürger, gerade auch für den juristischen Laien, Bedrückendes mitgeteilt.

Der Patient („Herr Z.“) wurde 2002 in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht, nachdem er wegen Schuldunfähigkeit von der Anklage schwerer räuberischer Erpressung freigesprochen wurde. Diagnose der Klinik: „chronifizierte paranoide Schizophrenie“. Die „Umgebung“ des Z. sei durch krankheitsbedingte „Verhaltensauffälligkeiten massiv“ belastet.

Die Belastung von Personal psychiatrischer Kliniken soll hier nicht klein geredet werden. Das Bundesverfassungsgericht zitiert in den „Gründen“ für seinen Beschluss Aussagen der Klinik über „fortgesetzt „animalisch und primitiv anmutende“ Verhaltensauffälligkeiten“ des Herrn Z. (*1), Abs. 34).

Herr Z. steht unter „rechtlicher Betreuung“. „Eine Betreuerin“ habe in seine zwangsweise Behandlung mit „antipsychotischen“ Medikamenten, sog. Neuroleptika, eingewilligt. Z. lehne die Behandlung ab, dulde sie nur „aus Angst vor Zwangsanwendung“ (*1), Abs. 30).

Seine Haltung kann der Laie nach kurzem Blick auf die Liste von Nebenwirkungen dieser Medikation verstehen: Dauerhafte Gehirnschäden, bleibende Bewegungsstörungen im Gesicht, Krämpfe, Zittern wie bei Parkinson, Unruhe, und eine Reihe organischer Schäden von Herz bis Nieren, Verlust von Mimik, zwanghafte Tippelschritte … Genug der Liste. „Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!“, wusste Dante Alighieri über die Hölle.

Die Umwelt der Bürger in den Großstädten und die Zeitungen sind voll von bandenmäßiger „Verhaltensauffälligkeit“ des Pöbels. Diese gesellschaftliche Realität hat der urbane Bürger weitgehend hinzunehmen.

Zu „guter Arbeit“ in abgeschlossenen, ummauerten psychiatrischen Kliniken gehört sicher auch, dass dort „verhaltensauffällige“ Patienten „ruhig gestellt“ werden können. Ist die Grenze definiert, ab der „abnormales“ Verhalten von phasenweise „psychotischen“ Patienten zwangsweise Medikation rechtfertigt? Oder kann unter Gewaltanwendung gespritzt werden, wenn einer „nervt“?

Zu solchem Eingriff reichte bei Herrn Z. aus dessen Sicht die Feststellung von Klinikpersonal, die „medikamentöse Zwangsheilbehandlung“ sei „notwendig“ und die Einwilligung seiner Betreuerin.*2).

Herr Z. und sein bevollmächtigter Rechtsanwalt scheiterten mit einem betreuungsgerichtlichen Verfahren gegen die „Einwilligung der damaligen Betreuerin“. Sie scheiterten vor dem Amtsgericht und vor dem Landgericht. Das Landgericht habe angenommen, fachärztlicher Rat und das Urteil der Betreuerin, dass die Zwangsbehandlung „erforderlich“ sei, reiche aus, um „bei einem krankheitsbedingt nicht einwilligungsfähigen Patienten“ die zwangsweise Behandlung einzuleiten *2). Damit war der dem Zwangseingriff entgegenstehende „natürliche Wille“ des „psychotischen“ und damit „nicht einwilligungsfähigen“ Herrn Z. als belanglos eingestuft.

Dessen Mangel an Einsicht – so die Klinik mit Schreiben vom 10. Oktober 2011 – gehe soweit, dass er „Störungen seines Befindens auf die Medikation und Fortschritte seiner Entwicklung auf die Beschäftigung mit heiligen Schriften (Hare Krischna)“ zurückführe. Daher beabsichtige die Klinik die Fortsetzung der antipsychotischen Medikation auch gegen den erklärten, „krankheitsbedingt verstellten“ Willen des“ Herrn Z. (*1, Abs. 31).

Herr Z. und sein Anwalt waren auch vor dem Oberlandesgericht gescheitert. Das hatte offenbar entgegen den bis dahin vom „Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fällen“ einen ganz besonderen Ansatz.

Sollte – so das Oberlandesgericht – bei Herrn Z. „die Zwangsbehandlung .. unterlassen werden, sei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu befürchten (! RS), dass sich der Gesundheitszustand .. dramatisch verschlechtern werde. (Z.) werde dann erneut die massiven Verhaltensauffälligkeiten zeigen, deretwegen er in der Vergangenheit fortgesetzt im Kriseninterventionsraum habe untergebracht werden müssen.“ Die Zwangsbehandlung – so der Schluss – sei also „nicht nur durch das grundrechtlich geschützte Freiheitsinteresse des Untergebrachten selbst gerechtfertigt,  sondern auch durch die sich aus Art. 1 Abs. 1 GG ergebende Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, die unantastbare Würde des Menschen zu achten und zu schützen.“ *2)

Wessen „Würde“ ist geachtet, wessen „Würde“ wird geschützt, wenn ein Mensch „aus Angst“ vor physischer Gewalt gegen seinen erklärten Willen duldet, dass ihm Neuroleptika verabreicht werden, mit deren schweren Nebenwirkungen er nicht leben will?

Der „Bundesgerichtshof wies mit Beschluss vom 16. Februar 2011 die Rechtsbeschwerde des Herrn Z. als unbegründet zurück … Für das mit der Rechtsbeschwerde verfolgte Ziel fehle das Rechtsschutzinteresse“ liest der Bürger im Beschluss der Verfassungsrichter (*1), Abs. 29, Hervorhebung RS).

Der Auftrag der Verfassungsrichter für die derzeit anscheinend nur auf die Wählerklientel fixierte „politische Klasse“ lautet: Schafft ein verfassungskonformes allgemeines Gesetz als Grundlage für Eingriffe in Grundrechte psychisch Kranker.

Selbst dann, wenn für eine Zwangsbehandlung „gute oder sogar zwingende sachliche Gründe sprechen mögen“, sei eine mit unserem Grundgesetz konforme gesetzliche Grundlage für Eingriffe in Grundrechte notwendig. Damit „die Grenzen … zwischen zulässiger und unzulässiger Grundrechtseinschränkung nicht fallweise nach eigener Einschätzung von beliebigen Behörden oder Gerichten, sondern primär – in der Form eines allgemeinen Gesetzes – durch den Gesetzgeber gezogen werden.“ *2).

Für ein solches verfassungskonformes Gesetz, das Eingriffe in Grundrechte regelt, formulieren die Verfassungsrichter einige Vorgaben und Maßstäbe:

Die „medizinische Zwangsbehandlung des Untergebrachten zur Erreichung des Vollzugsziels“ müsse als letzte Möglichkeit auf den Fall „krankheitsbedingt fehlende(r) Einsichtsfähigkeit“ beschränkt sein, damit sie mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Die Einwilligung eines Betreuers „in die Zwangsbehandlung eines im Maßregelvollzug Untergebrachten“ sei nicht als Beleg für dessen „krankheitsbedingt fehlende Einsichtsfähigkeit“ zu werten. *2)

Zwecke, Zumutbarkeit und Verhältnismäßigkeit eines Grundrechtseingriffs, wie ihn eine Zwangsbehandlung von psychisch Kranken darstellt, müssen „gesetzlich konkretisiert“ werden.

Ferner müsse geregelt sein, „dass der Zwangsbehandlung eine hinreichend konkrete Ankündigung vorauszugehen hat und dass sich das Krankenhaus vor der Zwangsbehandlung ernsthaft um eine auf Vertrauen gegründete und freiwillige Zustimmung des Betroffenen bemühen muss.“ *2)

Bevor eine Klinik über Zwangsbehandlung entscheide, müsse die „vorausgehende Überprüfung der Maßnahme in gesicherter Unabhängigkeit von der Unterbringungseinrichtung“ nach vorgegebenen gesetzlichen Maßstäben gewährleistet sein. Die Entscheidung des Betreuers, in Zwangsbehandlung einzuwilligen, könne nicht „an die Stelle solcher Maßstäbe“ treten. *2)

Wie viele traurige menschliche Schicksale mögen dem unkontrollierten Ermessens- und Entscheidungsspielraum von Klinikärzten, Betreuern und rechtlichen Mängeln in Landesgesetzen geschuldet sein? Nunmehr hat das Bundesverfassungsgericht gefordert, ein Gesetz zu schaffen, das Eingriffe in Grundrechte psychisch Kranker so bestimmt, dass sie verfassungskonform sind.

Ein Gesetz, dessen Maßstäbe die Würde, die Freiheit, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit auch für die verwundbarsten Menschen in unserer Gesellschaft, die psychisch Kranken im Falle einer Unterbringung in psychiatrischen Kliniken schützt. Ein Gesetz, das mehr Sicherheit ermöglicht vor den Gefahren, die in allen Institutionen von Macht, Trägheit, Willkür, Böswilligkeit oder schlichter Inkompetenz ausgehen können.

Einen Bürger, der den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur erfolgreichen Verfassungsbeschwerde eines im „Maßregelvollzug Untergebrachten“ sorgfältig liest, könnte der Zorn packen. Wenn er vergleicht, wie schnell die Interessen der großen organisierten Klientelgruppen mit dem Geld Dritter und zu Lasten Dritter vor den Wahlen bedient werden. Wenn er die selbstzufriedenen Sonntagsreden von Gerechtigkeit, Menschenrechten und Rechtsstaat hört.

Vergegenwärtigt sich der Bürger die Mißbräuche selbst in „heiligen Kirchen“, mag er gar nicht erst darüber nachdenken, was hinter den Mauern psychiatrischer Kliniken gegenüber Kranken vorgefallen sein mag.

Nichts davon scheint unsere Medien-Öffentlichkeit oder die politischen Parteien zu kümmern. Dies verwundert Bürger, die noch die öffentliche Skandalisierung durch Frau Rundt, SPD, zum Thema Qualität der Patientenversorgung in Landeskliniken für Psychiatrie erinnern. Gerade erst im Januar 2013, im niedersächsischen Wahlkampf (s. Blog Wahlkampf .., 11. Januar 2013). Und nach der Wahl war von diesem Thema und dem angeblichen Skandal nichts mehr zu hören.

Gerechtigkeit der Anspruch – rechtspolitische Bräsigkeit die Realität?

Abschließend muss jetzt zur Frage „Gerechtigkeitspolitik“ gefolgert werden:

Eine Klinikleitung und eine Betreuerin stellen fest, Zwang ist notwendig, also wird mit Gewaltanwendung gegen die Wehrlosen gespritzt.

Gerechtigkeitspolitiker wie Herr Trittin stellen fest, der Staat ist unterfinanziert, also werden die wehrlosen Fleißigen und die Sparer unter Zwang geschröpft.

Steckt sie alle in die selbe Klinik!

*1) BVerfG, 2 BvR 228/12, Beschluss vom 20.02.2013, Absatz-Nr. (1 – 76).

*2) Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung Nr. 14/2013 vom 28.02.2013.