Gier, Güte, Goethe.

„Es leuchtet die Sonne über Bös und Gute“ — an diese Zeile Goethes denkend, schleppte ich mich um Hamburgs Binnenalster. Dafür gab es triftige Gründe.

Lektüre, Gespräche und brandaktuelle Erfahrungen hatten mich zur Gedankenwelt von Betrügern geführt.

Erstaunlich erschien mir bei dem Versuch einer Analyse, dass Großbetrüger eher primitive, Kleinbetrüger dagegen bei allerhöchstem Risiko durchaus komplexe Taktiken anwenden.

Während Großbetrüger in der Regel ihr Anliegen und ihr eher einheitliches Auftreten gegenüber den Opfern durch hohen „Status“ unterstreichen, treten viele Kleinbetrüger je nach Adressat angepasst auf.

Diese scheinbaren Widersinnigkeiten bei gemeinsamer Kriminalität gingen mir durch den Kopf. Bis mir vor dem Luxushotel „Vier Jahreszeiten“ die Lösung einfiel.

Sie lässt sich sicher nicht gänzlich verallgemeinern, dürfte aber auf viele Fälle krimineller Annäherung zutreffen. Und damit dem Zweck dieses kleinen Beitrags dienen, Mitmenschen eindringlich zu warnen und zur Wachheit aufzurufen.

Großbetrüger nutzen die Gier, Kleinbetrüger die Güte der Menschen. Gier treibt viele Menschen ständig an, sonst wären der Kapitalismus und die Marktwirtschaft nicht so erfolgreich. Güte überkommt den Menschen dagegen eher anfallsweise.

Mit Gier kann fest kalkuliert werden. Dem Großbetrüger, so er pompös genug auftritt, reicht meist das mit eindrucksvollen Namen und Prospekten garnierte Versprechen hoher Gewinne, um an das Geld vermögender Menschen zu kommen.

Die letzten 50 Jahre „Investmentgeschichte“ zeigen unzählige Geldtransfers vom etwas zu gierigen Opfer zum Täter, der die “Krötenwanderung“ organisiert, wie es im „Steuer-Song“ des Imitators von Bundeskanzler Schröder hieß. Also ein eher banales Phänomen, das außer Mitgefühl für Geschädigte wenig Interesse weckt.

Wenn der Schluss von mir selbst auf andere zutrifft, dass Güte den Menschen eher anfallsweise überkommt, dann liegt nahe, dass Kleinbetrüger darauf setzen, die Opfer zu überrumpeln, um den gütigen Impuls hervor zu locken. Dazu gehören dreister Mut, schlaue Taktik und kriminelle Energie; denn der einzelne Fang beim Raubzug ist in der Regel eher gering.

Der massenhaft angewendete „Enkeltrick“ ist ein Beispiel für besonders perfide Täter, weil sie sich, oft bandenmäßig organisiert, auf alte, vereinsamte Menschen spezialisiert haben, um deren Güte auszunutzen.

Hier möchte ich zwei selbst erlebte Fälle beschreiben, wo wahrscheinlich Kleinbetrüger als Einzeltäter unterwegs waren. Der oder die sind vom Rhein bis an die Alster tätig, appellieren eher an Güte als an Gier und schaffen es nicht selten, uns zu überrumpeln, indem sie unsere Schläfrigkeit oder Zerstreutheit ausnutzen. Richtige Menschenkenner also! Mit denen hat der unaufmerksame “Normalbürger“ wohl häufiger zu tun als mit den großen Haien.

Beginnen wir an der Alster, dort, wo man von der Lombardsbrücke kommend, rechts abbiegt, am Ufer der Binnenalster entlang Richtung Neuer Jungfernstieg geht, direkt auf das GIGA-Forschungsinstitut zu.

Wie gesagt, ich schleppe mich einer breiten Treppe entgegen, wo rechts wie links Buschwerk dem Beobachter ermöglicht, selbst ungesehen, den müden Heranwandernden zu beurteilen und zu überrumpeln.

Zwei junge Damen stellen mich, nachdem ich die dreistufige Treppe hinter mir habe. Ich sehe eine Broschüre „Taubstummenhilfe Hamburg E.V.“. Die beiden taubstummen Damen signalisieren in gestenreicher Gebärdensprache, dass ich mich den gütigen Spendern auf der Liste anschließen möge: Name, Adresse, 10 Euro.

Von der langen Wanderung geschwächt, beschränke ich mich darauf, meinen Namen halb leserlich zu kritzeln, da tippen die taubstummen Damen schon drängend auf den von bereits eingetragenen Spendern bestätigten Betrag über 10 €. Heftigen Gebärden und flehender Mimik zum Trotz lasse ich mir nicht mehr als 5 € entwinden. Weg sind die beiden “Taubstummen“ von der „Taubstummenhilfe Hamburg E.V.“.

Ich biege nach links in den Neuen Jungfernstieg. Und brauche bis zum „Vier Jahreszeiten“ als mir einfällt, dass die „wortführend“ gebärdenreich agierende „Taubstumme“ sich ihre lange, dicke Mähne mit der Chemiekeule so gegerbt haben muss, dass ein fuchsblonder Farbton und damit fast eine waschechte Hamburgerin herauskam. Und dann erinnere ich den Typus südosteuropäischer Herkunft. Ohne Groll danke ich der Schwäche, die mich zwar gehindert hatte, dem gerissenen Schauspiel zu widerstehen, aber auch davor bewahrte, meine häusliche Anschrift zu offenbaren.

Wanderer, bleibe wachsam! Gerade in Hamburg. Gerade in nobelsten Vierteln, an den beiden Alsterseen.

Beenden wir den Ausflug in die Amateur-Kriminologie mit einem Fall am Rhein. Stark erkältet aus dem Fenster dösend, sehe ich einen gut gekleideten Herrn mit Mappe, der einen amtlichen Eindruck macht und prompt klingelt. Ich öffne. „Ja“, ruft der Herr jovial, „hier ist wieder der Herr Vosswinkel von der Kindernothilfe in Königswinter.“ Schon hält er mir neben einer Liste eine bunte Sammelbüchse vor die Nase, und ich beeile mich, zwei Euro zu holen und hineinzustecken. Fröhlich winkend verabschiedet sich der Herr Vosswinkel und wandert weiter.

Eine gute Weile brauchte ich für den Gedanken und noch länger für den Verdacht: Zu seriös, zu glatt, zu geschwind, um wahr zu sein. Ich rufe bei der Gemeinde Königswinter an und frage die freundliche Beamtin nach der dortigen Kindernothilfe und Herrn Vosswinkel. Die Dame hat zwar von beiden noch nie gehört, verspricht aber, sich bei Kirche und Jugendamt zu erkundigen und mir Bescheid zu geben.

Ich kann nur sagen, dass mich an jenem Tag nichts so erheitert hat wie die Auskunft der tüchtigen Beamtin: „Tja, Herr Sohns, da haben Sie wohl nicht den Kindern in Not, sondern dem Herrn Vosswinkel geholfen.“