Helmut Schmidt zur „starken“ deutschen Zahlungsbilanz.

Alle Achtung: Kein Parteitag wurde in diesem Jahr so eindrucksvoll eröffnet, wie es der SPD heute gelang. Ein politischer Ausweis großer Tradition und Regierungsfähigkeit.

Helmut Schmidts Rede zur europäischen Verpflichtung Deutschlands gebührt historischer Rang. Frank-Walter Steinmeier hat dieser Vorgabe durch eine herausragende außen- und europapolitische Rede entsprochen.

Helmut Schmidt warnte vor deutschem „Dominanzgehabe“. Wir müssen hoffen, dass es uns aus Europa nicht so zurück schallt, wie manch unwürdige Stimme aus dem Regierungslager hinaus hallt. Umso mehr als wirtschaftliche Stärke leicht auf „Beunruhigung und Argwohn“ treffen kann, wie Helmut Schmidt anmerkte. Eine leider sehr berechtigte Warnung an die Regierung und die eigene Partei. Erinnern wir uns an den Auftritt des Duos Schröder/Chirac gegenüber den östlichen Nachbarn.

Helmut Schmidt sprach die anhaltend hohen deutschen Überschüsse der Leistungsbilanz an. Bekanntlich bezieht sich wirtschaftliches Handeln über die Grenzen hinweg auf Güter, d.h. auf Waren und Dienstleistungen, und auf Forderungen. Letztere sind Banknoten, Ansprüche auf Zahlung allgemein, und auch der Erwerb von Vermögenstiteln im Ausland, wie Wohneigentum, Aktien, Staatsschuldpapiere, Beteiligungen an Unternehmen, gehört dazu.

Der Überschuss bzw. der positive Saldo der Leistungsbilanz eines Jahres drückt aus, dass Deutschland wertmäßig mehr Güter gegen Entgelt exportiert als importiert hat (vereinfachend sei angenommen, dass es im betrachteten Zeitraum keine Schenkungen gab). Daraus folgt ein Überschuss an deutschen Zahlungsansprüchen, genauer: ein Zuwachs an Forderungen im betrachteten Zeitraum gegen die Handelspartner. Wie Helmut Schmidt darlegt, entspricht den „übermässigen“ deutschen Exportüberschüssen ein Aufbau von Forderungen gegenüber den Handelspartnern. Also zunehmende Verschuldung dieser Partner bei deutschen Gläubigern – Banken, Firmen, privaten Investoren – in den Jahren, auf die sich Helmut Schmidt bezieht.

Helmut Schmidt wertet dies als „schwerwiegende Fehlentwicklung“ und als „ärgerliche Verletzung“ des „außenwirtschaftlichen Gleichgewichts“. Schon sah man den DGB-Vorsitzenden Michael Sommer applaudieren und die Linke dazu. In der nachfolgenden Debatte wurde schnell der Grund dieses Enthusiasmus klar: Denn eine „Fehlentwicklung“ wie der Leistungsbilanzüberschuss muss ja beseitigt werden, wenn Helmut Schmidt dies kritisiert.

Noch nie wurde Helmut Schmidts Worten solcher Wert beigemessen – von den Linken. Denn wie beseitigt man dies außenwirtschaftliche „Ärgernis“? Durch flächendeckenden Mindestlohn und überhaupt massive Lohnerhöhungen. Die altbekannte „Lohnpeitsche“ darf wieder geschwungen werden. Dazu endlich Steuern und Staatsausgaben erhöhen, so kriegen wir doch die Nachfrage rauf und den Leistungsbilanzüberschuss weg. Das Weltbild stimmt wieder. Das müssen die Stones aushalten!

Nun widerspricht man Helmut Schmidt ja nicht, wenn man längerfristige Positionen in die Betrachtung der deutschen Außenwirtschaftsbilanz einbezieht. Sehen wir nicht nur den Handel mit Waren und Dienstleistungen, sondern auch die „langfristigen“ Forderungen: z.B. „Direktinvestitionen“, damit ist der Erwerb von Beteiligungen an ausländischen Firmen oder von Grund und Boden, Wohneigentum im Ausland gemeint. Auch langfristige Kredite an Ausländer tragen zum Aufbau einer längerfristigen Gläubigerposition gegenüber dem Ausland bei.

Beide Transaktionen, Direktinvestitionen und langfristiger Kredit, sind integraler Teil unternehmerischer Aktivitäten im internationalen Handel. Und damit sind sie Bestimmungsgründe stabiler und stetig sich entwickelnder Außenwirtschaft, einer Situation, die als „gleichgewichtig“ im Sinne ungefähr erfüllter Erwartungen der international wirtschaftenden Akteure bezeichnet werden mag.

Blicken wir unter diesem Aspekt auf das außenwirtschaftliche „Gleichgewicht“: Der Wert der Güterexporte und längerfristigen Forderungen (Kapitalexporte) wird jetzt verglichen mit wertmäßigen Güterimporten und längerfristigen Kapitalimporten (dabei erwerben Ausländer Forderungen gegen Deutschland). Betrachten wir dazu Durchschnittswerte zur deutschen Zahlungsbilanz des Zeitraums 2004 bis 2008 (denn die Krisenjahre ab 2009 sind für eine Analyse zu verzerrt).

Dann stellen wir fest: Für dieses Jahrfünft 2004 – 2008 betrug der Überschuss der Leistungsbilanz im Jahresdurchschnitt 145 Mrd. Euro, der durchschnittliche Überschuss deutscher Direktinvestitionen im Ausland 47 Mrd. Euro, der durchschnittliche Überschuss langfristiger Kredite an das Ausland 83 Mrd. Euro (nach: Deutsche Bundesbank, Zahlungsbilanzstatistik, eig. Berechn.).

Dabei ist zu beachten, dass alle diese Salden aus Abertausenden von Einzelentscheidungen von Firmen, Händlern, privaten und staatlichen Haushalten im In- und Ausland resultieren. Diese Salden sind also nicht plan- und kontrollierbar, es sei denn, wir setzen Sahra Wagenknecht als Plankommissarin der deutschen Wirtschaft ein. Und alle diese Salden sind auf uns unbekannte Weise über die unzähligen Kaufentscheidungen der Wirtschaftssubjekte miteinander verwoben. Solche Salden sind also nur mit großer Vorsicht zu interpretieren.

Wenn wir jetzt ähnlich vorgehen wie Helmut Schmidt, aber uns nicht auf die Leistungsbilanz beschränken, können wir mit den genannten Salden grob rechnen (in Mrd. €): 145 minus 47 minus 83 ergibt 15. Das heißt, fassen wir den Saldo der Leistungsbilanz (Bereich der Güterbewegungen) mit dem gegenläufigen Saldo des langfristigen Kapitalverkehrs (Saldo der Direktinvestitionen plus Saldo der langfristigen Kredite von Banken und Versicherungen) zusammen, so erhalten wir einen Wert von „nur“ 15 Mrd. Euro.

Diesen Saldo (von 15 Mrd. Euro im Zahlenbeispiel) nennt man den Saldo der Grundbilanz. Er besagt: Die im genannten Zeitraum 2004-2008 durchschnittlich pro Jahr getätigten deutschen Güterexporte und langfristigen Kapitalanlagen im Ausland übersteigen jeweils die Güterimporte und die langfristigen Kapitalanlagen, die Ausländer in dieser Zeit in Deutschland vornahmen, um 15 Mrd. Euro. Dieser Saldo kann mit gebotener Vorsicht, ähnlich wie der Saldo der Leistungsbilanz, als Indikator „außenwirtschaftlichen Gleichgewichts“ verwendet werden. Danach hätten wir mit 15 Mrd. Euro also kein übermäßiges außenwirtschaftliches „Ungleichgewicht“ zu verzeichnen. Jedenfalls nicht im Vergleich zum Saldo der Leistungsbilanz mit 145 Mrd. Euro, den Helmut Schmidt als Indikator für das außenwirtschaftliche Ungleichgewicht verwendet.

Nebenbei ist vielleicht deutlich geworden, dass diese Salden, diese Aggregatgrößen, die aus Abertausenden uns unbekannter Entscheidungen und ihrer Bestimmungsgründe hervorgehen und im Nachhinein statistisch berechnet werden, nicht allzu aussagefähig sind. Es sei denn, man nimmt den Hinweis auf, dass jeder Gläubiger seinen Schuldnern ein „Ärgernis“ ist. Ein Ärgernis, dem außerdem „Argwohn“ entgegenschlägt. Verkehrte Welt? Wie schon Wilhelm Busch über Schuldner und ihre Gläubiger feststellte: vorher dicke Freunde, bis dem Schuldner Geld gepumpt wurde. „Und plötzlich war es sonderbar, dass er nicht mehr zu sehen war,“ jammert der Gläubiger dem Schuldner nach.

Meinte dies wohl Helmut Schmidt mit dem „Argwohn“ europäischer Partnerländer, einige davon „Schuldner“- Länder, der gegen Deutschland wachse? Deshalb ist ein Blick auf die Grundbilanz – ergänzend zur wichtigen Leistungsbilanz – vielleicht hilfreich. Denn so kommen deutsche Direktinvestitionen und langfristige Kredite als wichtiger Teil stabiler außenwirtschaftlicher Beziehungen in die Betrachtung des „Gleichgewichts“. Könnte diese Sichtweise nicht im Sinne Helmut Schmidts helfen, die Debatte um wachsende „Gläubigerposition“ Deutschlands gegenüber wachsender „Schuldnerposition“ z.B. in Südeuropa zu versachlichen? Sind staatliche Grenzen ökonomisch überhaupt noch besonders wichtig? Historische Linien, die den integrierten Europäischen Wirtschafts- und Währungsraum durchziehen und damit „Überschüsse“ und „Defizite“ nationaler Zahlungsbilanzen statistisch definieren?

Könnte solche Sicht auf unseren gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraum nicht jenseits der „Forderung-Schulden“-Debatte versöhnliche Perspektiven in Deutschland und auch in unseren Partnerländern eröffnen? Durchaus, wenn berücksichtigt wird, dass deutsche Leistungsbilanzüberschüsse beitragen, produktive Arbeitsplätze in den Partnerländern zu schaffen; Hotels, Wohnungen, Infrastruktur für Tourismus und maritime Dienstleistungen wie z.B. Hafenanlagen, Verkehrs- und Energienetze zu entwickeln. Die auch beitragen, wirtschaftliche Ziele wie finanzielle Konsolidierung und unternehmerische Wettbewerbsfähigkeit gegenseitig und solidarisch zu fördern. Und damit beitragen, den gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraum immer stärker zu integrieren. Denn je intensiver der gegenseitige Handels- und Kapitalverkehr verflochten ist, desto größer sind die Chancen für gemeinsamen europäischen Wohlstand!

Helmut Schmidts Warnung vor Dominanzgehabe wird die von deutscher Politik ausgehende europäische Kommunikationskultur sicher stark beeinflussen. Deutschland hat seine Außenhandelskunden und Partnerländer respektvoll, partnerschaftlich, kooperativ und solidarisch zu behandeln. Das ist bei allem Geschäftssinn beste Hamburger Kaufmannstradition.

Und es bleibt die Mahnung Helmut Schmidts gegen das Vergessen.