Herrschende Meinung zur Einheit.

„Eine Erfolgsgeschichte“ sagte Bundestagspräsident Norbert Lammert beim Festakt des 3. Oktober.

Große Verdienste um dieses Gelingen – die der Regierung Helmut Kohl und die von Millionen zupackend tätiger Menschen in Ostdeutschland – werden jedoch kontrovers beurteilt.

Das sollte auch so sein. Aber mit den Jahren werden zentrale strategische Entscheidungen der Wiedervereinigung – es sei vorsichtig formuliert – einseitig beleuchtet. Das falsche oder einseitige Urteil wird festgeschrieben, wird „herrschende Meinung“.

Da mag Bequemlichkeit, auch Opportunismus im Spiel sein. Und „Vergangenheitspolitik“ – der Transfer politischer Korrektheit, der herrschenden Meinung, auf die Geschichte; in diesem Fall sind Zwischenrufe geboten.

„Rückgabe vor Entschädigung“.

Gestern im TV bewertete der Politikwissenschaftler Professor Everhard Holtmann, Universität Halle, eine der strategischen politischen Entscheidungen. Der Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung“ sei ein schwerer Fehler gewesen, er habe zu gewaltiger „Umverteilung von Ost nach West“ geführt. Dem wird heute kaum noch widersprochen.

Erinnern wir wenigstens hier, was die herrschende Meinung unterschlägt:

In ungezählten Fällen war Rückgabe enteigneten oder geraubten Eigentums gar nicht möglich oder wurde verhindert.

Landwirtschaftliche Betriebe über 100 ha., mindestens ein Drittel der land- und forstwirtschaftlichen Fläche, waren 1945-1949 unter oft brutalen Umständen durch die sowjetische Besatzung und ihre Helfer „enteignet“ worden. Es war „willkürliche Strafenteignung. Der bloße Besitz, nicht die unterstellte Gesinnung, war der Enteignungsgrund.“ (Hans Schueler; zeit.de; 26.04.1991). Rückgabe wurde im Einigungsvertrag ausgeschlossen.

Die Behauptung, dass durch die „Rückgabe“ von Ost nach West umverteilt wurde, unterschlägt ferner: Wenn DDR-Flüchtlinge, die nicht zuletzt wegen eigentumsfeindlicher Schikanen flohen, ihr Eigentum überhaupt zurück bekamen, wurde nicht selten schäbigstes Unrecht notdürftig repariert.

Privatisierung durch die Treuhandanstalt.

„Gnadenlose Deindustrialisierung“ habe stattgefunden, so fasste Ministerpräsident Platzeck die „herrschende Meinung“ 20 Jahre nach Unterzeichnung des Einigungsvertrages zusammen (SPIEGEL, 29.8.2010). Dies gibt auch heute den offenbar gebotenen Ton vor. „Die Strategie der Treuhand, schnell zu privatisieren, wirkt nach, und sie wirkt verheerend.“ (SZ, 02.10.2012). „Platt gemacht“ ist die vergangenheitspolitische Formel.

Herrn Ministerpräsident a.D. Professor Biedenkopf ist der einsame Widerspruch im TV am Tag der Einheit 2012 zu danken: Die DDR-Industrie sei nicht durch die Wiedervereinigung plattgemacht worden, „die war platt“!

Hätte denn 1990 ein industrieller Neubeginn mit den alten „Plattmachern“ erfolgen können?

Die Treuhandanstalt hatte in einem halben Jahrzehnt rd. 15 000 VEB-Gesellschaften zu privatisieren. Dabei gab es große Erfolge (Jenoptik, Werften und viele mehr), aber auch eklatante Misserfolge, industriepolitische Fehler, Korruption. In fünf Jahren für 15 000 Gesellschaften eine Perspektive für die Zukunft zu entwickeln – war anderes zu erwarten?

Wenn man die Herausforderung nur grob abschätzt: Pro Gesellschaft waren zwei bis drei geeignete Manager zu suchen, um eine europäische Marktperspektive und ein angepasstes Produktionsprogramm aufzubauen. Dies erforderte rd. 40 000 erfahrene Marketingexperten, Techniker und Kenner westlicher Zuliefer- und Absatzmärkte. Woher sollten die denn kommen, wenn nicht aus dem „Westen“ und seinen Unternehmen?

Manager aus dem Westen haben sicher den Markt „bereinigt“. Aber sie hatten Helfer, die wir heute oft im Chor der Ankläger gegen das „Plattmachen“ finden.

Konsultieren wir dazu den Arbeitsmarktexperten und langjährigen Vorsitzenden der „Wirtschaftsweisen“ Professor Wolfgang Franz.*) Vor 20 Jahren machte er eine wichtige Gruppe von „Plattmachern“ aus: „Experten der DGB-Gewerkschaften“ (S. 264).

Diese Experten „traten etwa seit März 1990 … aktiv als Berater auf, und seitdem wirkten Vertreter des DGB an praktisch allen ostdeutschen Tarifverhandlungen mit (Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung 1991). Verhandlungsziel der Gewerkschaften war eine möglichst rasche Angleichung der ostdeutschen Löhne an das Niveau in Westdeutschland … Dahinter stand die Befürchtung der Gewerkschaften … , dass ein migrationsinduzierter Druck auf die Zuwachsraten westdeutscher Effektivlöhne die Folge einer zu ausgeprägten Lohndifferenzierung (zwischen West- und Ostdeutschland, RS) sein könnte.“ (S. 264 f.)

So erklärte Professor Franz, „wie es überhaupt zu solchen Lohnabschlüssen (in Ostdeutschland, RS) kommen konnte, die anscheinend jedem konventionellen Modell des Lohnbildungsprozesses Hohn spotten.“ (S. 263).

Reflektieren wir einen Moment über die Frage von Professor Franz: „Wie hoch ist die Arbeitsproduktivität  eines Betriebes, der unverkäufliche Produkte herstellt?“ (S. 250). Dann haben wir das Ergebnis der Experten-Beratungen in den neuen Bundesländern: Dass „nur die Arbeitsplatzbesitzer in den Genuss der Lohnerhöhungen kamen und die Folgekosten dieser Lohnpolitik … der Treuhandanstalt oder der Arbeitslosenversicherung, kurzum dem westdeutschen Steuerzahler und damit auch den westdeutschen Arbeitnehmern, aufgebürdet wurden.“ (S.265)

Soviel zu den Jubiläumsphrasen von „Plattmacherei“ und „Umverteilung von Ost nach West“.

Natürlich spielte auch die Politik bei diesem Prozess mit und zwar die gesamte politische Klasse, in Bund, Ländern, Gemeinden, Regierung und Opposition. Wer mag das heute kritisieren? „Deutschland, einig Vaterland“!

Aber bitte, bleibt bei den historischen Fakten. Kommt uns nicht immer wieder, immer alle Jahre wieder, am 3. Oktober mit „Plattmacherei“ und mit „Umverteilung von Ost nach West.“

*) Wolfgang Franz, Im Jahr danach – Bestandsaufnahme und Analyse der Arbeitsmarktentwicklung in Ostdeutschland, in: Bernhard Gahlen, Helmut Hesse, Hans-Jürgen Ramser; Herausgeber; Von der Plan- zur Marktwirtschaft, Eine Zwischenbilanz; Tübingen 1992.