Hochmut kommt vor dem Fall!

So kommentierte Dr. Gesine Lötzsch (MdB, DIE LINKE) das neue Bundeswahlgesetz, das die Fraktionen der SPD, der GRÜNEN und der FDP (“Ampel“-Parteien) am 17.März 2023 im Deutschen Bundestag beschlossen haben. *1)

1. Wahlrechtsreform: Konflikt zwischen Regierungsparteien und Opposition im Deutschen Bundestag

Ist der Ampel-Regierungskoalition “Hochmut“ vorzuwerfen? Hat die Ampel mit ihrer Mehrheit im Bundestag eine Wahlrechtsreform durchgesetzt, die nicht nur die LINKE empört, sondern die auch einen „gezielten Angriff auf die CSU“ darstellt? Dies ist der Vorwurf des früheren Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble (MdB seit 1972). *2)

LINKE und CDU/CSU wollen gegen die Wahlrechtsreform beim Bundesverfassungsgericht klagen. Der Ministerpräsident Bayerns und CSU-Vorsitzende Markus Söder forderte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf, das Bundesgesetz zur Wahlrechtsreform nicht zu unterschreiben. *3) Dies ist bisher nicht geschehen.

Dieser schwere Konflikt im Deutschen Bundestag betrifft gerade die Wählerschaft und sollte daher auch aus Wählersicht untersucht und bewertet werden.

2. Wahlrecht: strikte verfassungsgerichtliche Kontrolle

Das Wahlrecht bildet den Kern unserer Demokratie, nach der alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht (Grundgesetz, Art. 20, 2). Und weil „gerade bei der Wahlgesetzgebung die Gefahr besteht, dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von Gemeinwohlerwägungen von dem Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt, unterliegt die Ausgestaltung des Wahlrechts einer strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle“. *4 (Ziff. 63)

Die Wählerschaft ist daher auf “strikte Kontrolle“ durch das Bundesverfassungsgericht angewiesen. Sie sollte umfassende Analyse  und Debatte der Ziele der Regierungsparteien einfordern, die diese mit der Änderung des Wahlrechtes verfolgen. Dies dient unserer Demokratie, unserem Recht auf freie und gleiche Wahlen, in denen wir die Arbeit der Bundesregierung bewerten. Eine Forderung, die umso wichtiger ist, weil das Volk in unserer “repräsentativen Demokratie“ außer bei den Bundestagswahlen keine Möglichkeit hat, direkt den politischen Kurs oder Maßnahmen der Bundesregierung zu beeinflussen.

3. Bisheriges Wahlrecht für die Bundestagswahlen 2013 – 2021

Zu Recht hatte MdB Sebastian Hartmann (SPD) ausgeführt, „das Wahlrecht ist aus Sicht der Wählerinnen und Wähler zu beurteilen“ *1).

Das bisher geltende Bundestagswahlrecht lässt sich durch folgende Merkmale kennzeichnen: *5)

  • Es ist eine Mischung von Personen- (Erststimme) und Listenwahlrecht (Zweitstimme), jeder Wähler hat daher zwei Stimmen.
  • Die nach dem Wahlgesetz des Bundes vorgesehenen 598 MdBs werden grundsätzlich in den 299 Wahlkreisen durch die Verhältniswahl gewählt und durch das Berechnungsverfahren nach der Wahl entsprechend dem Zweitstimmen-Ergebnis zugeteilt.
  • Im Rahmen dieser Verhältniswahl werden 299 Abgeordnete in Wahlkreisen über die Erststimme in relativer Mehrheitswahl gewählt, d.h. wer die meisten Erststimmen bekommt, wird MdB im Bundestag mit “Direktmandat“ (Personenwahlrecht).
  • 299 Abgeordnete (werden) auf vorgegebenen Listen in den Bundesländern (Landeslisten) über die Zweitstimme in einer so genannten Listenwahl gewählt. Die Summe aller für eine Liste (Partei) abgegebenen Stimmen entscheidet über die Zahl der MdBs einer Partei. Die Zweitstimme soll also die Verteilung der Bundestagssitze auf die Parteien bestimmen (“Landeslisten-Mandat“).
  • Zu den 598 Sitzen können noch zusätzliche Sitze kommen. Diese sind durch das Berechnungsverfahren der Sitzzuteilung auf die Parteien bedingt, damit die Sitzverteilung auf die Parteien dem Verhältnis entspricht, das durch das Zweitstimmen-Resultat bestimmt ist. (rs: 2021 waren es 138 sog. Überhang- und Ausgleichsmandate, dazu mehr unter *8)).

Dieses Wahlrecht, das die Verhältniswahl (Zweitstimme) mit einer Personenwahl (Erststimme) verbindet, sollte den Parteien einen starken Anreiz geben, die Wählerschaft mit überzeugenden Persönlichkeiten im Wahlkreis zu gewinnen. *6)

Das vor der Ampel-Reform bestehende Wahlrecht kann aus Wählersicht als zufriedenstellend beurteilt werden, wenn der Blick allein auf die Wahlentscheidung gerichtet bleibt:

  • „Das Recht der Bürger, in Freiheit und Gleichheit durch Wahlen .. die öffentliche Gewalt personell und sachlich zu bestimmen“ schien „als elementarer Bestandteil des Demokratieprinzips“ gewährleistet. *7 (Ziff. 52).
  • Die Wählerschaft konnte auch „vor dem Wahlakt erkennen .., welche Personen sich um ein Abgeordnetenmandat bewerben und wie sich die eigene Stimmabgabe auf Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerber auswirken kann“. *7 (Ziff. 57)

4. Übergroßer Bundestag: Reform des Wahlrechts notwendig.

Nun zeichnete sich seit Jahren das Problem eines scheinbar uferlos wachsenden Bundestages ab, wenn nach einer Bundestagswahl das im bisherigen Wahlrecht festgelegte Berechnungsverfahren der Sitzzuteilung auf die Parteien durchgeführt wurde:

  • Parteien können eine größere Zahl von Direktmandaten (Wähler-Erststimme) erreichen als ihnen nach dem für die Sitzverteilung maßgeblichen Verhältnis der Zweitstimmen zustehen.
  • Das Mehr an Direktmandaten wird als “Überhangmandate“ diesen Parteien zugeteilt.
  • Damit die Sitzverteilung der Parteien im Bundestag dem Verhältnis der von ihnen erhaltenen Zweitstimmen entspricht, werden den anderen Parteien entsprechend viele “Ausgleichsmandate“ zugeteilt.

In der Folge umfasste der 18. Bundestag (2013 – 2017) 631 MdBs, der 19. Bundestag (2017 – 2021) 709 MdBs und der 20. Bundestag (2021 – 2025) 736 MdBs, also weit über der gesetzlichen Größe von 598 MdBs bei 299 Wahlkreisen. *8)

Dies habe auch die Zahl der vom Bundestag und den Fraktionen eingesetzten Mitglieder in den mindestens 25 Fachausschüssen so erhöht, dass deren Arbeit — vor allem Beratung von Gesetzentwürfen oder Kontrolle der Regierung —  beeinträchtigt werde. *9) *10)

Daher bestand zwischen den Fraktionen im Deutschen Bundestag weitgehende Übereinstimmung, dass dieser verkleinert werden müsse.

5. Kontroverse um das neue Wahlrecht

Mit dem neuen Wahlgesetz für den Deutschen Bundestag, das die Ampel-Parteien (SPD, GRÜNE, FDP) mit ihrer Mehrheit durchgesetzt haben, sollen künftig bei Wahlen zum Bundestag folgende Ergebnisse erreicht werden:

  • Die Zahl von MdBs wird auf 630 festgelegt.
  • Die Anzahl von MdBs der Parteien im Deutschen Bundestag wird allein durch den Zweitstimmen-Anteil dieser Parteien bestimmt. Überhang- und Ausgleichsmandate werden abgeschafft.
  • Zwar wird wie bisher mit Erst- und Zweit-Stimme (jetzt Hauptstimme genannt) gewählt. Der einer Partei im Bundestag  entsprechende Zweitstimmen-Anteil begrenzt jedoch die Zahl ihrer möglichen Direktmandate (sogenannte “Zweit-Stimmen-Deckung“). Wenn z.B. eine Partei 50 Direktmandate gewonnen hat, ihr jedoch nach ihrem Zweitstimmen-Anteil nur 45 Parlamentssitze zustehen, müssen die fünf Direktmandate mit den prozentual geringsten Mehrheiten entfallen. Diese fünf Kandidierenden kommen also nicht in den Bundestag, obwohl sie ihren Wahlkreis mit den meisten Erst-Stimmen “gewonnen“ haben.
  • Außerdem wird die “Grundmandatsklausel“ abgeschafft. Sie ermöglichte Parteien, die zwar an der 5%-Sperrklausel scheiterten, dennoch den Einzug in den Bundestag, wenn sie mindestens drei Direktmandate gewannen. (2021 kam die LINKE trotz nur 4.9 % der Zweitstimmen in den Bundestag, weil sie drei Direktmandate gewonnen hatte.)

Hätte das neue Wahlrecht bereits bei der Bundestagswahl 2021 gegolten, wäre die Anzahl der MdBs von 736 auf 630 reduziert worden. Diese Verkleinerung des Bundestags hätte die Parteien jedoch sehr unterschiedlich getroffen. *11)

  • Verluste (von MdBs) der bisherigen “Kanzler-Parteien“ SPD (minus 8.7 %) und CDU (minus 9.2 %).
  • Verluste der aktuellen Regierungsparteien GRÜNE (minus 9.3 %) und FDP (minus 9.8 %):
  • Verluste der AfD (minus 9.6 %).
  • Verluste der CSU (minus 15.6 %; mit 5.2 % Zweitstimmen lag sie bundesweit nur knapp über der 5 %-Sperrklausel und ist damit vom Wegfall der Grundmandatsklausel in ihrem bundespolitischen Einfluss bedroht).
  • Die LINKE wäre nicht mehr im Bundestag vertreten (wegen Unterschreiten — 4.9 % Zweitstimmen — der 5%-Sperrklausel und Wegfall der Grundmandatsklausel).

Insbesondere für die CSU, die seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 im Bundestag ist, und für die seit der deutschen Vereinigung 1989/90 bestehende PDS/DIE LINKE bedroht das neue Wahlrecht deren bundespolitische Existenz durch den Wegfall der Grundmandatsklausel.

6. Konflikteskalation im Deutschen Bundestag

Wie kann eine Wahlrechtsreform als „demokratisch legitimiert“ beurteilt werden, die zwei politisch etablierte Regionalparteien (CSU und LINKE) in ihrer Existenz im Deutschen Bundestag bedroht? Eine “Reform“, die zudem von den Regierungsparteien SPD, GRÜNE, FDP eilig nur wenige Tage vor der geplanten Abstimmung im Bundestag mit dem Wegfall der Grundmandatsklausel versehen wurde.

Der fachlich außergewöhnlich ausgewiesene Verfassungsrechtler Prof. Dr. Christoph Möllers hat die Ampelkoalition bei der Wahlrechtsreform beraten und erläutert deren Ziele und Probleme: *12)

  • Drei Bedingungen sollten erfüllt werden: „erstens die Wahlkreise behalten, zweitens ein Verhältniswahlrecht haben und drittens einen kleineren Bundestag“.
  • „Diese Bedingungen erfüllt das neue Wahlrecht. Das ist nicht wenig. Alle Parteien und alle Bundesländer sind entsprechend ihrer Bevölkerungszahl und ihrem Zweitstimmenergebnis vertreten. Das ist aber nur möglich, wenn man etwas an der Wahlkreiszuteilung ändert.“
  • Möllers hält es für vertretbar, „die Bedeutung der Wahlkreise zu relativieren … Wer ein starkes Erststimmenergebnis holt, zieht auch in den Bundestag ein. Die Wahrscheinlichkeit, dass Wahlkreise nicht besetzt werden, ist gering.“ 

Aus Sicht der Wähler kann diese Einschätzung Prof. Möllers wegen des unabweisbaren Zieles, den Bundestag zu verkleinern, akzeptiert werden. Zumal den in den Wahlkreisen Kandidierenden mit den meisten Erststimmen hilft, dass die Größe des  Bundestages statt auf 598 Sitze auf 630 Sitze festgelegt wurde. 

Anders ist die Lage bei dem sehr kurzfristig in das Wahlgesetz aufgenommenen Wegfall der Grundmandatsklausel zu beurteilen. Prof. Möllers habe die Grundmandatsklausel — wie auch andere die Ampel beratende Verfassungrechtler — beibehalten wollen. Dies wäre verfassungsrechtlich möglich gewesen, argumentiert er. *12)

  • Möllers sieht in der regionalen Verankerung (rs hier: CSU und LINKE) „eine politische Option zur Belohnung einer starken regionalen politischen Repräsentanz.“
  • „Die Grundmandatsklausel beizubehalten .. (statt) „in eine gewachsene Struktur ein(zu)greifen“ wäre „politisch weniger riskant“ gewesen.
  • Denn die „Abschaffung der Klausel lässt den Eindruck zu, als wollte die Regierung mit der Reform der CSU und den LINKEN schaden … Das ist politisch ungünstig.“

Die Debatte im Deutschen Bundestag über das neue von der Ampel durchgesetzte Bundeswahlgesetz zeigte, dass dieses Urteil von Prof. Möllers sehr zurückhaltend formuliert ist. *1) 

Alexander Dobrindt, MdB, Vorsitzender der CSU-Landesgruppe im Bundestag, bezeichnete die Wahlrechtsreform der Ampelfraktionen als “Schurkenstück“: *1)

  • Es gibt in diesem Haus drei Oppositionsfraktionen, und zwei von diesen drei Oppositionsfraktionen werden in Ihrem Gesetz strukturell benachteiligt.
  • Durch die Abschaffung der Grundmandatsklausel wollen Sie DIE LINKE aus dem Parlament drängen (Zurufe von der SPD: Och!) und mit einer offensichtlichen Freude das Existenzrecht der CSU infrage stellen.
  • Dieser Versuch der Wahlrechtsmanipulation verkleinert das Parlament, aber er dient einem anderen Ziel, nämlich den Machtanspruch der Ampel zu zementieren.
  • Sie schaffen die Grundmandatsklausel ab, die in unserer Bundesstaatlichkeit tief verwurzelt und Ausdruck der regionalen Besonderheiten unseres Landes ist. … In einem Bundesland kann eine Partei (rs die CSU) alle Wahlkreise gewinnen — in Bayern beispielsweise wären das 46 —, aber nach Ihrem Wahlrecht besteht die Möglichkeit, dass kein einziger Kandidat in den Deutschen Bundestag einzieht. Und das nennen Sie „fair“ und „demokratisch“.
  • Ihre eigenen Experten haben Ihnen ins Stammbuch geschrieben, dass die Beibehaltung der Grundmandatsklausel „unabdingbar“ ist!
  • Das, was Sie hier heute beschließen wollen, ist allemal ein großes Schurkenstück.“

Jan Korte, MdB, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion DIE LINKE im Bundestag, verurteilte mit zunehmender Erbitterung den “Anschlag auf die Demokratie“: *1)

  • Der entscheidende Grundpfeiler der parlamentarischen Demokratie ist .. das Wahlrecht. Was Sie heute vorlegen, ist der größte Anschlag, den es auf diesen Grundpfeiler gab — seit Jahrzehnten. (Beifall bei der LINKEN und der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Oh!)
  • Ich will hier feststellen, dass Sie mit Ihrem Änderungsantrag — hier hingerotzt — zwei Oppositionsparteien aus dem Bundestag mal eben politisch eliminieren wollen. Hingerotzt!
  • Die Grundmandatsklausel ist ja nicht einfach vom Himmel gefallen. Die haben sich auch nicht die CSU oder meine Partei, DIE LINKE — die damalige PDS —, ausgedacht, sondern sie hat ja einen demokratischen großen Sinn.
  • Nehmen wir mal die CSU, damit ich hier nicht über mich sprechen muss: Ich kann einfach mal feststellen, dass die CSU eine in Bayern tiefverwurzelte Partei ist (Friedrich Merz (CDU/CSU): Und die SPD liegt bei 7 Prozent!) Es ist der Sinn dieser Grundmandatsklausel gewesen, dass so eine Strömung, so eine regional verankerte Partei hier vertreten ist. Das wollen Sie beenden. Das ist ein Anschlag auf die Demokratie, um es in aller Klarheit zu sagen.
  • Ich möchte zudem für meine Partei feststellen, dass die Grundmandatsklausel natürlich gerade für Ostdeutschland eine sehr wichtige Sache gewesen ist, weil nämlich die damalige PDS dadurch einem relevanten Teil von Menschen in Ostdeutschland hier eine Stimme und eine Repräsentanz gegeben hat. Das ist bis heute immer noch so. Auch das wollen Sie aufkündigen.
  • Sie überlassen mit dem, was Sie hier heute machen, der AfD den Osten. Das ist es, was Sie heute per Wahlrecht beschließen. Das ist die Sachlage; deswegen freuen die sich ja auch einen ab, Ihre Kumpels hier.
  • Ich will einmal .. vortragen, … was die Folge wäre, hätten wir dieses Wahlrecht bei der letzten Wahl gehabt: Ohne die Grundmandatsklausel und mit lediglich 0,3 Prozent weniger Stimmen für die CSU wären 2021 nicht 4 Millionen, sondern glatte 9 Millionen Stimmen einfach in den Papierkorb gewandert. Was ist das für ein Demokratieverständnis? Es ist an Schäbigkeit nicht zu überbieten.“

Unbegreiflich aus Wählersicht erscheinen vor allem zwei Reaktionen hochrangiger Vertreterinnen der Regierungsparteien auf diese Kritik: *1)

  • Britta Haßelmann, MdB, parlamentarische Geschäftsführerin der GRÜNEN-Fraktion, deutete an, dass die CSU sich ja ihr Überleben im Bundestag durch Aufgabe ihrer Eigenständigkeit und engere Bindung an die CDU sichern könne. Ähnlich anmaßende Überlegungen dürften in der SPD gegenüber der LINKEN kursieren.
  • Katja Mast, Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Bundestagsfraktion, kommentierte die Kritik von Dr. Dietmar Bartsch, Fraktionschef der LINKEN: „Wenn ich vom Kollegen Bartsch höre, das sei ein „Anschlag auf die Demokratie“, dann frage ich Sie: Echt jetzt?“ Eine besonders unwürdige Dreistigkeit angesichts des politischen Ranges dieser Debatte für die deutsche Demokratie!

7. Respekt vor demokratischer Tradition.

Weit über die Wählerschaft der von dem neuen Wahlrecht besonders betroffenen Regionalparteien CSU und LINKE hinaus werden Menschen die Missachtung der historisch gewachsenen, integrierenden Rolle der regional verwurzelten Parteien CSU und DIE LINKE verurteilen.

Das von den Ampel-Fraktionen (SPD, GRÜNE und FDP) geradezu handstreichartig durchgesetzte Wahlrecht demonstriert Gleichgültigkeit gegenüber dem Wert der in Generationen gewachsenen Struktur deutscher Parteiendemokratie. Damit wird der Grundkonsens der demokratischen Parteien schwer beschädigt, der gerade in diesen Zeiten schwerster Krisen notwendig ist.

An diesem für die deutsche Parteiendemokratie aus solcher Wählersicht fatalen Freitag, dem 17. März 2023, richtete unser Staatsoberhaupt, Frank-Walter Steinmeier, im Schloss Bellevue ein „Banquet républicain“ aus, ein “Republikanisches Bankett“. Damit bezeugte der Bundespräsident demokratischer Tradition den gebotenen Respekt: Durch Erinnern an die Märzrevolution von 1848. *13)

Zu diesem Rückblick auf freiheitliche Ideen, Forderungen nach einem allgemeinen Wahlrecht und nach Volkssouveränität im Jahre 1848 sagte Bundespräsident Steinmeier: *13)

  • „Es ist mir seit Beginn meiner Amtszeit wichtig, in diesen Räumen auch an die vielen Wegbereiterinnen und Wegbereiter unserer Demokratie zu erinnern, die in der deutschen Geschichte für Aufklärung, Freiheit und Selbstbestimmung eingetreten sind …
  • Nicht zuletzt wollen wir heute Abend daran erinnern, dass der Kampf für Menschenrechte, Freiheit und Demokratie schon vor 175 Jahren eine europäische Angelegenheit war.
  • ´Sie wollten ein Bankett; aber sie werden nicht mal die Krümel davon bekommen`, mit diesen Worten kommentierte Louis-Philippe, der sogenannte Bürgerkönig der Franzosen, das Verbot eines Festessens der liberalen und demokratischen Opposition in Paris.
  • Aber, nach dem schönen deutschen Sprichwort, Hochmut kommt vor dem Fall!

Louis-Philippe wurde gestürzt, und die französischen Revolutionäre — Studenten, Arbeiter, Handwerker — riefen die Zweite Französische Republik aus.

So erteilte Bundespräsident Steinmeier mit dem „Banquet républicain“ am Freitag, dem 17. März 2023, unserem Land eine Lehre über den Wert gewachsener demokratischer Tradition. Diese „gehört heute zum festen Fundament unserer Republik und unserer in Vielfalt geeinten Europäischen Union.“ *13)

Dagegen bleibt jedoch für viele Wählerinnen und Wähler an jenem Freitag, dem 17. März 2023, im Deutschen Bundestag der Eindruck brutaler Respektlosigkeit gegenüber unserer historisch gewachsenen Parteiendemokratie haften. Das rücksichtslos durchgesetzte Wahlrecht durch SPD, GRÜNE und FDP bedroht in machtpolitischer Geschichtsvergessenheit die systemrelevanten Regionalparteien CSU und DIE LINKE in ihrer Existenz.

Deshalb sei es hier wiederholt. Das auch von Bundespräsident Steinmeier zitierte „schöne deutsche Sprichwort“:

“Hochmut kommt vor dem Fall!“

*1) Deutscher Bundestag, 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 17. März 2023. Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes … https://dserver.bundestag.de/btp/20/20092.pdf

*2) RECHTSREFORM. Schäuble beklagt „gezielten Angriff auf die CSU“. AKTUALISIERT AM 17.03.2023; faz.net

*3) Verfassungsbeschwerde geplant. Wütende CSU zieht gegen Wahlrechtsreform ins Feld. 18.03.2023; https://www.n-tv.de/politik/Wuetende-CSU-zieht-gegen-Wahlrechtsreform-ins-Feld-article23994974.html

*4) Bundesverfassungsgericht: BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 19. September 2017 – 2 BvC 46/14 -, Rn. 1-119; http://www.bverfg.de/e cs20170919_2bvc004614.html

*5) Die Bundeswahlleiterin. Service. Wahllexikon. Wahlsysteme. Stand: 13. Februar 2023; https://www.bundeswahlleiter.de/service/glossar/w/wahlsysteme.html

*6) Quelle zu Erst- und Zweitstimme: Die Bundeswahlleiterin. Service. Wahllexikon. Stand: 13. Februar 2023. https://www.bundeswahlleiter.de/service/glossar/z/zweitstimme.html

*7) Bundesverfassungsgericht: BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 25. Juli 2012 – 2 BvF 3/11 -, Rn. 1-164; http://www.bverfg.de/e/fs20120725_2bvf000311.html

*8) Stark vereinfacht sei die Beziehung zwischen “Überhang“- und “Ausgleichsmandaten“ und damit das Wachstum der MdB-Zahl erläutert: Partei A habe durch Zweitstimmen 10 MdBs, Partei B 100 MdBs erhalten, damit sei ein Verhältnis 1:10 durch die Zweitstimmen vorgegeben. Bekäme A durch gewonnene Direktmandate in Wahlkreisen zusätzlich 5 MdBs (Überhangmandate), müsste also B 50 Ausgleichsmandate erhalten, damit das Verhältnis 1:10 im “Parlament“ gewahrt bliebe. In der Realität hatte das Verfahren der MdB-Sitzzuteilung im bisherigen Wahlrecht folgende Resultate nach der Bundestagswahl: 2013 (4 Überhang-, 29 Ausgleichsmandate, 631 MdBs), 2017 (46 Überhang-, 65 Ausgleichsmandate, 709 MdBs), 2021 (34 Überhang-, 104 Ausgleichsmandate, 736 MdBs). Quelle: Die Bundeswahlleiterin. Service. Wahllexikon. Überhangmandate. Rechtslage seit der Bundestagswahl 2013. Tabelle – Bei Bundestagswahlen entstandene Überhangmandate … (Stand bei der Wahl); https://www.bundeswahlleiter.de/service/glossar/u/ueberhangmandate.html

*9) „Vielleicht wird jetzt die Fünfprozenthürde fallen“. Der Verfassungsrechtler Florian Meinel hat die Ampel bei der Wahlrechtsreform beraten …  Interview: Lenz Jacobsen. Aktualisiert am 20. März 2023; https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-03/florian-meinel-wahlrechtsreform-ampel-regierung

*10) Deutscher Bundestag. Die Arbeit der Bundestagsausschüsse – Fragen und Antworten. Anhang 1 – In der 20. Wahlperiode im Ausschussbereich bislang eingesetzte Gremien (Stand: Dezember 2021). Stand Dezember 2021 wurden z. B. folgende Mitgliedszahlen von MdBs dem Arbeitsumfang entsprechend von den Fraktionen vereinbart:  Auswärtiger Ausschuss (46 Mitglieder), Finanzausschuss (45 Mitglieder), Haushaltsausschuss (45 Mitglieder), Ausschuss für Arbeit und Soziales (49 Mitglieder), Verteidigungsausschuss (38 Mitglieder), Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (19 Mitglieder), Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (40 Mitglieder), Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (24 Mitglieder), Ausschuss für Klimaschutz und Energie (34 Mitglieder); https://www.bundestag.de/resource/blob

*11) Problem, Ursache, Kritik. Neues Wahlrecht soll als Abspeckkur für den XXL-Bundestag wirken. 17.03.2023; https://rp-online.de/politik/deutschland/neues-wahlrecht-fuer-bundestag-alle-infos-zur-verkleinerung_aid-86822211. Dieser Beitrag enthält den Vergleich der Sitzverteilung für die Bundestagswahl 2021 nach altem (2021) und neuem (2023) Wahlrecht.  Altes Wahlrecht von 2021: SPD 206, CDU 152, CSU 45, GRÜNE 118, FDP 92, die AfD 83, DIE LINKE 39, SSW 1 (insgesamt 736 MdBs). Neues Wahlrecht 2023: SPD 188, CDU 138, CSU 38, GRÜNE 107, FDP 83, AfD 75, SSW 1 (insgesamt 630 MdBs; nach der Berechnung von Robert Verkamp, Bertelsmann-Stiftung). Auf diese MdB-Zahlen stützen sich obige Aussagen zur Benachteiligung der Opposition (CDU/CSU und LINKE) durch das neue Wahlgesetz der Ampel-Parteien.

*12) Verfassungsrechtler zum Wahlrecht. »Die Sonderrolle der CSU ist systematisch fragwürdig, aber historisch eingeübt«. Ein Interview von Timo Lehmann. 18.03.2023; https://www.spiegel.de/politik/deutschland/die-sonderrolle-der-csu-ist-systematisch-fragwuerdig-aber-historisch-eingeuebt-a-dcae8d4d-e4ea-496b-9e3c-d31d9d733a00

*13) Erinnern an die Märzrevolution von 1848. Schloss Bellevue, 17. März 2023; https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2023/03/230317-Republikanisches-Bankett.html