Wissenschaft und Beratung.

Der Erfolg demokratischer Ordnung hängt zunehmend von der Qualität und Akzeptanz wissenschaftlicher Politik- und Gesellschaftsberatung ab. Wie ist die Lage in Deutschland?

1. Wissenschaftliche Beratung — Leibniz-Gemeinschaft.

Die “Angebotsseite“ ist durch die Leibniz-Gemeinschaft geprägt. *1) Sie verbindet 97 eigenständige Forschungseinrichtungen: der institutionelle Bogen reicht von den Natur-, Ingenieur- und Umweltwissenschaften, Wirtschafts-, Raum- und Sozialwissenschaften bis zu den Geisteswissenschaften. „Aufgrund ihrer gesamtstaatlichen Bedeutung fördern Bund und Länder die Institute der Leibniz-Gemeinschaft gemeinsam. Die Leibniz-Institute beschäftigen rund 20.500 Personen, darunter 11.500 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Das Finanzvolumen liegt bei 2 Milliarden Euro.“ *1)

Wer als interessierter Staatsbürger bei Informationsbedarf Beiträge dieser Institute konsultiert hat, ist gewiss beeindruckt von der Qualität ihrer anwendungsorientierten Forschung und dem Beratungsangebot für Politik und Öffentlichkeit.

2. Medien: Unangemessener Umgang mit wissenschaftlicher Beratung?

Gerade in unserer Zeit vielfacher Krisen erregt daher eine Art von “Kampagne“ in einigen Medien gegen die angesehene Ökonomin Prof. Dr. Claudia Kemfert, Abteilungsleiterin des DIW für Energie, Verkehr und Umwelt, besondere Aufmerksamkeit.

Denn die Energiepolitik steht derzeit durch den Aggressionskrieg Russlands gegen die Ukraine und die Forderungen des Klimaschutzes inmitten der politischen Debatte. Und Prof. Kemfert ist auf diesem Gebiet durch Forschung und Beratung so profiliert und mehrfach hochrangig ausgezeichnet worden, dass die Angriffe in einigen Medien (bisher SPIEGEL, ZEIT, und zuletzt FOCUS) zu prüfen sind. Dabei reicht es, sich auf den aktuellen Focus-Artikel zu beschränken, da dieser sich weitgehend auf die vorhergehenden stützt. *2)

Der Gastautor des Focus, der langjährig erfahrene Wirtschaftsjournalist Thorsten Giersch (https://www.handelsblatt.com/autoren/thorsten-giersch/1986500.html; jetzt Chefredakteur bei “Markt und Mittelstand“), stellt im Fall von Prof. Kemfert die Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit der Wissenschaft beim Themenkreis Energiepolitik, nachhaltiger Klima- und Umweltschutz in Frage.

Giersch entwertet einige seiner höflichen Floskeln zu Kemfert durch die folgenden Aussagen, deren fachliche Qualität schnell überprüfbar ist. *2)

  1. „Der ´SPIEGEL` urteilte schon Mitte des vergangenen Jahres, dass sie auch Deutschlands Energie-Expertin ´mit den meisten Fehlprognosen` sei.“
  2. „´Wendig` sei sie zudem, weil sie ihre Ansichten regelmäßig anpasse – was für eine Wissenschaftlerin nicht gerade üblich sei.“ Eines der Beispiele von Giersch: „Im Oktober 2021 sagte Kemfert: ´Die Angst vor dem Blackout wird nur von Ewiggestrigen geschürt.` Neun Monate später: ´Wir müssen uns leider Gedanken über einen Blackout machen.`“
  3. „Ihr Buch lässt sich in etwa so zusammenfassen: Vieles sei bei der Energiewende falsch gelaufen, auch weil man immer wieder nicht auf sie gehört hat.“
  4. „Fragen zu der Kritik an ihr will Kemfert auf Anfrage nicht beantworten.“
  5. „Ein Chef eines namhaften Wirtschaftsforschungsinstituts lästert, ohne seinen Namen sehen zu wollen: ´Kemfert forscht eigentlich nicht, sie betreibt grüne Politik mit akademischen Fußnoten. Solche Kritik ist mit Vorsicht zu genießen, weil sie von womöglich eifersüchtigen Wettbewerbern stammt.`“

Der fachliche Gehalt der vorstehenden Aussagen Gierschs kann nicht überzeugen:

  1. Zu 1. Ein unsinniges Urteil über Prof. Kemfert, das ebenso für viele Prognosen des Sachverständigenrates Wirtschaft gilt: Wissenschaftliche Prognosen beruhen auf bestimmten Annahmen, sind also immer bedingte Prognosen. Ändern sich die Annahmen oder Situationen und Fakten, auf denen die Annahmen beruhen, wird das bedingt prognostizierte Ergebnis nicht eintreten.
  2. Zu 2. Das zu 1. Gesagte wird in diesem Beispiel Gierschs offensichtlich: Zwischen Oktober 2021 und Juli 2022 (“neun Monate später“) lag der “Epochenbruch“ (Bundespräsident Steinmeier) oder die “Zeitenwende“ (Bundeskanzler Scholz). Schon aus diesem Grund ist die Feststellung “wendigen“ Widerspruchs in Kemferts Aussage so unsinnig wie unfair.
  3. Zu 3. 4. 5. Dies sind unangenehm persönliche Angriffe. Giersch bezieht seine Kritik ja aus dem SPIEGEL. Der hatte das Anliegen Prof. Kemferts abgelehnt, eine Richtigstellung der dort erhobenen Vorwürfe zu veröffentlichen. Daraufhin hat Kemfert in überzeugender und detaillierter Analyse die herabsetzenden Behauptungen des SPIEGEL-Artikels zurückgewiesen. *3)

Gewiss hat sich Prof. Kemfert stark gegen den weiteren Betrieb von Atomkraftwerken (AKW) engagiert, so dass ihre Stellungnahmen auf Interesse bei den GRÜNEN stießen. So wie in vorangegangenen Jahren der ehemalige CDU-Umweltminister Röttgen oder der ehemalige hessische Oppositionsführer Schäfer-Gümbel (SPD) bei Prof. Kemfert Beratung einholten.

Der AKW-Weiterbetrieb scheint in Deutschland trotz weiter bestehender Uneinigkeit in dieser Frage vorerst beendet.

3. Prof. Dr. Carl Friedrich von Weizsäcker: Die offene Zukunft der Kernenergie.

Zu dieser Frage seien abschließend Überlegungen des Physikers Carl Friedrich von Weizsäcker referiert, der 1979 Sorgen der Öffentlichkeit durch die “Erforschung der Lebens- und Überlebensbedingungen unserer zunehmend konfliktträchtigen Welt“ aufgegriffen hatte. *4, S. 1)

Zum Thema AKWs berichtet von Weizsäcker über ein Gespräch mit dem Fachkollegen Professor Norman C. Rasmussen (Massachusetts Institute of Technology, MIT), der Pionierarbeiten auf dem Gebiet der Risikoschätzung von AKWs geleistet hatte, für die er höchste Auszeichnungen erhielt. *4, S. 31 f.)

„Wir kamen auf die Frage, wie man einen Reaktor, der abgeschaltet wird, kühlt. Er: „Das dauert vier Wochen.“ Ich: „Wer macht das?“ Er: „Die Crew.“ Ich: „Und wenn die Crew versagt?“ Er: „Warum sollte sie?“ Ich: „Wenn sie wegläuft“? Er: „Das tut sie doch nicht.“ Ich: „Aber wenn sie es tut?“ Er: „Das darf sie nicht, sonst geschieht ein Unglück. Also tut sie es nicht.“ Ich: „Sie verkaufen doch auch Reaktoren ins Ausland. Angenommen bei Beirut steht ein Reaktor, die Crew besteht aus Christen, die Syrer kommen, die Crew läuft weg.“ Er: „Sie darf nicht weglaufen.“ Pause. Dann ein Zuhörer: „Ich glaube, ich habe in den letzten zehn Minuten mehr gelernt als seit Monaten.“

„Fortsetzung drei Wochen später. Ich erzähle die Geschichte einem deutschen Fachmann. Er: ´Bei den amerikanischen Reaktoren ist das wohl so. Die unseren kühlen automatisch. Da dürfte die Crew weglaufen.`“

„Folgerung: 1. Man sollte die ´inhärente Sicherheit` der Geräte soweit als möglich steigern. 2. Reicht das für die Fälle, die uns nicht eingefallen sind?“

Die Fälle, die Professor von Weizsäcker 1979 nicht einfallen konnten, sind: Tschernobyl (1986), Fukushima (2011). Und nicht zuletzt das AKW Saporischschja, mit sechs Reaktoren das größte Kernkraftwerk Europas im umkämpften Südosten der Ukraine. Seit Anfang März 2022 „kontrollieren“ es russische Truppen. Immer wieder kommt es zu Beschuss und Einschlägen russischer Raketen in der Nähe. Es heißt, die ukrainische Crew arbeite weiter unter russischer Aufsicht …

4. Fazit.

Die Angebotsseite des Wissenschaftstransfers in die Öffentlichkeit erscheint seriöser als mancher Nachfrager. Den Medien ist anzuraten, mit der gebotenen Sorgfalt und fachlicher Kompetenz in kritischen Dialog mit Wissenschaftlern zu treten. Dies scheint im geschilderten Fall von Prof. Claudia Kemfert nicht geschehen zu sein.

*1) Siehe: https://www.leibniz-gemeinschaft.de/ueber-uns/ueber-die-leibniz-gemeinschaft. Für wirtschaftspolitische Themen sind die folgenden Leibniz-Institute in den Medien häufig präsent: DIW Berlin – Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW); ifo Institut – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München e. V. (ifo); Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW); Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH); RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (RWI); ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft (ZBW); ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW)

*2) Siehe Thorsten Giersch: Claudia Kemfert. Deutschlands prominenteste Energie-Expertin und ihre grüne Schieflage. 21.04.2023; https://www.focus.de/finanzen/klima-und-wirtschaftsforscherin-claudia-kemfert-deutschlands-bekannteste-energie-expertin-und-ihre-gruene-schieflage_id_191538320.html

*3) Siehe Claudia Kemfert: Fakten noch und nöcher – Korrektur einer Kolumne. Faktencheck zur Spiegel Kolumne 23.09.2022. 15. März, 2023; https://www.claudiakemfert.de/6943/

*4) Carl Friedrich von Weizsäcker (1912-2007). Diagnosen zur Aktualität. Beiträge. Carl Hanser Verlag. München, Wien 1979.