Humanität, Diplomatie, Politik.

Zunächst ein Lehrstück aus der Literatur. Personen und Gegenstände des Gesprächs: Der Präsident P, der Botschafter B, die Flüchtlinge und Verfolgten V, der Verfolgerstaat T. Vorbereitung einer Internationalen Konferenz zum Schutz der V.

Botschafter B: Ich möchte Sie um konkrete Weisungen bitten, Herr Präsident.

Präsident P: Was verstehen Sie darunter?

B: Wenigsten Sie und ich müssen uns über unser Verhalten gegenüber Staat T einig sein. Wenn es uns darum geht, T zu brüskieren, werden wir uns wahrscheinlich von den übrigen Konferenzteilnehmern isolieren und den Verfolgten V wenig nützen.

Wollen wir dagegen eine verhältnismäßig große Zahl von Verfolgten V retten, müssen wir eine moralische Verurteilung des Staates T vermeiden, ein sachlicher Kontakt mit der T-Regierung muss unser Ziel sein.

Den Gedanken, dass es Staat T um die Vernichtung der V geht, dürfen wir nicht aussprechen, ja nicht einmal andeuten; wir würden sonst den Anschein erwecken, als wären wir uns der Hoffnungslosigkeit unseres Unternehmens bewusst und hätten es nur auf ein politisches Manöver angelegt.

P: Wir wollen nicht so verächtlich über Politik sprechen. Politik ist für mich, im besten Sinne, der Zwang, den die gerechten Kräfte ausüben, um die Kräfte des Bösen aus der Dunkelheit zu locken …

Unser erstes Ziel ist die Rettung von möglichst vielen Flüchtlingen V. Schonen Sie die Empfindlichkeiten des Staates T, solange Sie das Gefühl haben, dass wir mit der T-Regierung zu einem Arrangement gelangen können.

Schwindet diese Hoffnung, dann schwinden auch unsere Rücksichten. Arrangement oder — Verurteilung.

Jetzt sei offengelegt: Dies fiktive Gespräch zwischen dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika und seinem Botschafter im Deutschen Reich der Nazis gestaltete Hans Habe in seinem Roman „Die Mission“. *1)

Dabei ging es um die letztlich gescheiterte internationale Konferenz in Évian-les-Bains, Frankreich, im Juli 1938. Diese Konferenz war auf Initiative des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt einberufen worden. Von den Vertretern der über 30 teilnehmenden Länder wurde die Zusage erhofft, möglichst vielen der in Nazi-Deutschland verfolgten Juden eine neue sichere Heimat zu geben.

Im Juli 1979 beschrieb der Vizepräsident der Vereinigten Staaten, Walter Mondale, die gescheiterten Hoffnungen, die sich mit der Konferenz von Évian verbunden hatten:

„At stake at Evian were both human lives — and the decency and self-respect of the civilized world. If each nation at Evian had agreed on that day to take in 17,000 Jews at once, every Jew in the Reich could have been saved. As one American observer wrote, ´It is heartbreaking to think of the …desperate human beings … waiting in suspense for what happens at Evian. But the question they underline is not simply humanitarian … it is a test of civilization.‚“ *2)

In Syrien sind vor der „Haustür“ der Europäischen Union bereits Hunderttausende den „Kriegsverbrechen“ (François Hollande) des Assad-Regimes und seines mächtigen Alliierten Russland zum Opfer gefallen: durch Giftgas, Fassbomben, bunkerbrechende Bomben. Millionen syrischer Bürger werden aus ihrer Heimat vertrieben. Und wieder erhofft die Welt Frieden durch Konferenzen — in der neutralen Schweiz.

Bundeskanzlerin Merkel hatte in den letzten Tagen versucht, durch die Ankündigung, dass neue wirtschaftliche Sanktionen möglich seien, Druck gegen Putins und Assads Krieg und Kriegsverbrechen im syrischen Bürgerkrieg aufzubauen. *3) Vielleicht hat dies Putin zu einer kurzfristigen „Feuerpause“ für einen „Waffenstillstand“ veranlasst.

Am Freitag, 21.10.2016, konstatierte die UN ohne Schuldzuweisungen, dass die von den UN angekündigte Rettungsaktion für Verwundete und Kranke im Osten der geteilten syrischen Metropole nicht umgesetzt werden konnte. „Die Sicherheit der Helfer sei trotz vorheriger Zusagen aller Konfliktgegner nicht gewährleistet, sagte der Sprecher des UN-Koordinierungsbüros für Nothilfe (OCHA), Jens Laerke, in Genf.“ *3)

Bundeskanzlerin Merkel kritisierte nach dem EU-Gipfel in Brüssel (20.-21.10.2016) die Lage in Aleppo: „In diesen kurzen Zeiten des Waffenstillstands ist es bislang auch nicht gelungen, wirklich humanitäre Hilfe leisten zu können.“ In der nordsyrischen Stadt gebe es „barbarische Situationen.“ *3)

Nicht nur einige EU-Länder, sondern — fataler noch — gerade auch Deutschlands sozialdemokratische Außenpolitiker, Außenminister Steinmeier und sein „Russlandbeauftragter“ Gernot Erler, stellten sich gegen Sanktionen und damit gegen die Kanzlerin.

Steinmeier: „Sanktionsandrohungen helfen niemandem, keinem Kind, keiner Mutter, keinem Vater, keinem Kranken oder Verletzten, der in Aleppo Brot oder medizinische Versorgung braucht.“ *4) Weil die russischen Bombardements auf Aleppo momentan gestoppt seien und eine „Feuerpause“ gelte, folgert Erler: „Meines Erachtens ist damit zumindest vorläufig das Thema Sanktionen im Zusammenhang mit Syrien vom Tisch“. *5)

Offenbar unterstellen Steinmeier und Erler, dass neben der Bundeskanzlerin auch die Premierministerin von Großbritannien und Frankreichs Staatspräsident mit ihrer Sanktionsdrohung den falschen Ansatz gegenüber Russlands Kriegspolitik verfolgen.

Bürger mögen zu solcher Außenpolitik fragen: Könnten Sanktionen bewirken, dass Putin zunehmend den innenpolitischen Preis spürt für militärische Aggression und Bedrohung? Auf der Grundlage einer Wirtschaftskraft Russlands, die der von Italien entspricht? *6)

Anscheinend bleibt dem Westen derzeit kein anderes Instrument, um Russland zu bewegen, Krieg und Kriegsverbrechen in Syrien zu beenden, humanitäre Hilfe zu ermöglichen.

Eine merkwürdige Außenpolitik gegenüber Putins Verbrechen an Völkerrecht und Menschenrecht: „Sanktionen vom Tisch“ (Erler)! Und die Welt sieht zu, wie Putins Kriegs-Flotte weitere Bomber durch Europa nach Syrien transportiert. Die Waffenruhe blieb kurze Episode — völlig nutzlos für die Zivilbevölkerung Syriens. Das Massaker an der syrischen Bevölkerung durch die weit überlegene Streitmacht Putins und Assads sei nach heutigen Meldungen schon wieder fortgesetzt worden.

Jedenfalls hat die Kontroverse zwischen Bundeskanzlerin und Außenministerium über neue Sanktionen wegen der Kriegsverbrechen Russlands und Assads an der syrischen Bevölkerung die Position Merkels beim EU-Gipfel beschädigt. Deutschlands sozialdemokratische Außenpolitiker, Außenminister Steinmeier und sein „Russlandbeauftragter“ Gernot Erler, haben Putin und seiner militärischen Entourage im Ergebnis Entwarnung signalisiert.

Putins Berlin-Besuch war wohl ohnehin eher gegen die USA gerichtet, sollte Amerika zeigen, dass in Deutschland „Sanktionen vom Tisch“ (Erler) sind; sein Täuschungsmanöver hat Deutschland, die EU und den Westen gespalten, wieder einmal.

Steht der demokratische Westen gegenüber dem Krieg in Syrien jetzt vor einer vergleichbaren Situation wie der amerikanische Präsident im Juli 1938 in Hans Habes „Die Mission“? Besteht noch Hoffnung auf Frieden in Syrien durch ein Arrangement mit Russland?

So hatte der US-Präsident in Hans Habes Roman entschieden: „Schwindet diese Hoffnung, dann schwinden auch unsere Rücksichten. Arrangement oder — Verurteilung.“

Wer Putin nichts als Gespräche zu bieten hat, sollte wenigstens erkennen, wann die Stunde der „Verurteilung“ geschlagen hat, wann die Zeit für neue wirtschaftliche Sanktionen gegen Putins Russland gekommen ist.

Was bleibt? Hoffen auf Amerika!

Die EU findet zum Völkermord vor ihrer Haustür nur Worte ohne Handeln. *7) Fällt im heutigen „test of civilization“ für Europa die Humanität der Diplomatie zum Opfer? Verkommt Politik zu Beschwichtigung, zu „Appeasement“ gegenüber den Treibern militärischer Eskalation — Putin und Assad?

*1) Hans Habe, Die Mission, Ullstein Buch 569, Frankfurt, Berlin 1966, S. 48 f. (Abkürzende Bezeichnungen und Hervorhebung, RS)

*2) Évian Conference. From Wikipedia, the free encyclopedia; https://en.wikipedia.org/wiki/Évian_Conference. (Hervorhebung, RS).

*3) Syrien-Krieg. Russland verlängert Waffenruhe in Aleppo bis Samstag. 21.10.2016, http://www.t-online.de/nachrichten/ausland/id_79325682/

*4) Frank-Walter Steinmeier im Interview. „Sanktionsdrohungen helfen keinem Kind, keiner Mutter“; http://www.rp-online.de/politik/deutschland/frank-walter-steinmeier-zu-syrien-sanktionsdrohungen. 20. Oktober 2016.

*5) Putin in Berlin. Wagenknecht warnt vor Konfrontationskurs mit Russland.

Der Streit mit Russland schade Deutschland, sagt Sahra Wagenknecht. SPD-Politiker Gernot Erler lehnt neue Sanktionen gegen Putin ab. 19. Oktober 2016; http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-10/.

*6) Abbruch der Syrien-Gespräche. „Russland hat sich nicht an seine Zusagen gehalten“. Der ehemalige CDU-Außenpolitiker Ruprecht Polenz findet es verständlich, dass Washington die Friedensverhandlungen zu Syrien abgebrochen hat. Er sagte im Deutschlandfunk, jetzt könne sich Russland nicht mehr hinter der Aussage verstecken, dass es eigentlich Frieden wolle.

Ruprecht Polenz im Gespräch mit Christine Heuer; Polenz: „Russland ist zwar jetzt wirtschaftlich kein bedeutender Staat, hat ein Bruttosozialprodukt in der Größe von Italien“; http://www.deutschlandfunk.de. 05.10.2016.

*7) Der Glaube Steinmeiers und Erlers an Erfolg reiner Gesprächsdiplomatie mit Russland „als globalem Player“ findet Resonanz in TV-Gesprächsrunden.

So beklagt der LINKE Dietmar Bartsch, MdB, wie viele Linke den angeblichen Mangel an besonderem Respekt gegenüber Putins Russland: „Asiatische Mittelmacht, das trifft die Seele!“

Und Russland-Experte Alexander Rahr über Putin, „der für die multipolare Welt steht“ (Rahr): „Mein Gott, der Mann will doch auch eine Lösung haben!“ (Maybrit Illner, Feldherr Putin — starkes Russland, schwacher Westen? ZDF, 20.10.2016).

Wo bleibt die Antwort auf eine ganz einfache Frage der Journalistin Sabine Adler: „Niemand hat in Zweifel gezogen, dass Russland ein Player auf der internationalen Bühne ist. Warum muss man das durch eine Kriegshandlung beweisen?“ (Anke Plättner, „Putin in Berlin — Ende der Eiszeit?“ — phoenix Runde vom 19.10.2016).

Wundert es, wenn reine Gesprächsdiplomatie mit Großsprecherei garniert wird? „Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) nimmt Russland in die Pflicht in Syrien.“ DTS-Meldung vom 22.10.2016.