Insulaner: Bleibt gesund!

Die Nordseeinseln sind überaus schwerwiegend von den seit Mitte März geltenden staatlichen Anordnungen getroffen, die wegen der Coronakrise den Zugang von Touristen unterbinden.

Diese Maßnahmen sollen die Inselbevölkerung und die Gäste schützen, denn die medizinische Kapazität auf den Inseln und auch dem benachbarten Festland ist einer größeren Zahl von erkrankten Menschen nicht gewachsen.

1. Zielkonflikt 2020: Gesundheit vs. Wirtschaft.

Welche Härte die Abriegelung der Inseln bedeutet, sei am Beispiel der Insel Juist veranschaulicht. *1)

Juist zählt 1500 Einwohner. Jährlich kommen pro Einwohner etwa 100 Gäste, insgesamt 150 000 Gäste, auf der Insel an. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer liegt bei 8 bis 10 Tagen, was zu 1.2 bis 1.5 Millionen Übernachtungen führt. Dies erhellt, dass die Erwerbsmöglichkeiten der Einwohner von Juist nahezu vollständig vom Tourismus abhängen. Über 90 % der Juister arbeiten für den Tourismus der Insel.

Welch` düstere Erwartungen mögen die Juister mit dem Jahr 2020 verbinden!

  • Zumal ihr Ministerpräsident, Niedersachsens Stephan Weil, vor dem Osterfest darum bat, dass „alle Bürgerinnen und Bürger Niedersachsens sowie der Nachbarländer möglichst zu Hause bleiben und auf Reisen verzichten.“ *2)
  • Und die Aussichten für den Rest des Jahres 2020 werden nach Auffassung von Bundeskanzlerin Angela Merkel „ganz davon abhängen müssen, an welchem Punkt der Ausbreitung des Virus wir dann in Deutschland stehen und wie sich das in den Krankenhäusern auswirkt.“ *3)
  • Der Kanzleramtsminister Helge Braun dämpft voreilige Hoffnungen: „Die Zeit mit den höchsten Infektionszahlen liegt noch vor uns. Die Vorstellung, dass wir in Deutschland vielleicht bald manche Kranke nicht mehr versorgen können, weil die Zahl der Infektionen hochschießt, ist so schwerwiegend, dass ich sage: Das Wichtigste ist zunächst, dass wir das vermeiden. Dahinter steht die Wirtschaft erst mal einen großen Schritt zurück.“ *4)

Damit wird das Jahr 2020 durch einen sehr harten Zielkonflikt zwischen Schutz der Gesundheit und Förderung der Wirtschaft geprägt sein.

2. Juist: Touristisches Leitbild 2020.

Diesen Zielkonflikt müssen gerade die Juister schmerzlich empfinden. Denn 2010 wurde den Bürgerinnen und Bürgern von Juist als Ergebnis intensiver gemeinsamer Arbeit für die Zukunft ihrer Insel das “Touristische Leitbild 2020 Juist“ vorgelegt. *5)

Bürgermeister Dietmar Patron: „Dieses Leitbild soll uns bei zukünftigen Entscheidungen und Aktivitäten eine wichtige Richtschnur sein. Ich lade alle Bürger, Unternehmen und Vereine ein, sich bei der Umsetzung dieses Leitbildes zu beteiligen. Nur mit der Unterstützung aller Beteiligten können die geplanten Projekte und Maßnahmen realisiert und die gesetzten Ziele erreicht werden.“ *5, S. 3)

Blicken wir aus der Perspektive vieler gesundheitsbewusster Gäste auf die spezifischen Vorzüge der Insel Juist:

  • Die autofreie Insel hat eine abgas- und staubfreie, pollen- und allergenarme Luft mit hohem Gehalt an Feuchtigkeit, Jod und Salz.
  • Vor allem am Spülsaum der Wellen atmet der Spaziergänger im feinsten Salznebel der Brandung, was die Atemwege stärkt. Wegen dieses Reizklimas verbringen viele Menschen mit empfindlichen Atemwegen und Lungen ihren Urlaub an der Nordsee.
  • Die meisten regelmäßigen Inselurlauber werden gespürt haben, dass Beschwerden des Nasen- und Rachenraumes sowie der Lungenbronchien in den Erkältungsperioden gemildert wurden.

Solche Menschen — immerhin 70 % der Juist-Urlauber seien Stammgäste — begrüßen die hervorgehobene Stellung des Themas Gesundheit in Juists Leitbild 2020: in den “Strategischen Themensäulen“, den “Top-Projekten“, sowie bei Kur- und Informationsangeboten.

Hier ist nicht der Raum, um auf die vielfältigen Entwicklungsprogramme einzugehen, mit denen die Zukunft der Insel Juist gesichert werden soll. Wie ernst diese Arbeit genommen wird, zeigt, dass 2017 eine Bewertung und Aktualisierung des Touristischen Leitbildes 2020 “von und mit Bürgern“ erarbeitet wurde. *6)

Den Stammgast der Insel freut nach sorgfältiger Lektüre dieser Analyse: Nicht nur die Gäste mit dem Gesundheitstourismus als Schwerpunkt für Juist, sondern gerade auch die Bedürfnisse der “Insulaner“ werden bei der Projektplanung und -umsetzung berücksichtigt.

Der Rahmen eines gemeinsamen “Lebensraumkonzepts“ verbindet die Einheimischen mit dem “Urlaubsraum“ der Gäste durch Projekte und Maßnahmen so, dass höhere Lebensqualität der Insulaner und höhere Urlaubsqualität der Gäste als “Win-Win-Situation“ gestaltet wird.

Das “Lebensraumkonzept“ erweitert also das zukunftsgerichtete Entwicklungsprogramm für die Insel über rein touristische Anliegen hinaus: „weg von dem was ´nur` den Gästen gut tut, hin zu ganzheitlichen Überlegungen, in denen die Einheimischen einer Destination im Mittelpunkt stehen.“ *7)

In einem Prozess demokratischer Beteiligung sollen „die verschiedenen Interessensgruppen (Tourismus, Landwirtschaft, Handel, Handwerk, Gemeinde, Jugend, Senioren, Soziales, Vereine, „Nur-Einwohner“ etc.) als eigene Gruppen, die Vorarbeiten kritisch hinterfragen, die gegenseitigen Wünsche auflisten und die zukünftigen Leitlinien für sich selbst und für die Gemeinde/die Destination festlegen.“  Die in solch partizipativer Zukunftsplanung entwickelten “Schlüsselprojekte“ umfassen dann nicht nur Maßnahmen der Tourismusförderung, sondern bringen “den Ort in seiner Gesamtentwicklung“ voran. *7)

Konkret erwarten auch die mit Juist vertrauten Stammgäste: Maßnahmen mit Relevanz für die Insel als “Gesundheits-Destination“ werden nicht nur für die Gäste, sondern — in enger Zusammenarbeit mit den Ärzten und weiteren Anbietern für Gesundheits- und Kurangebote — gerade auch für die Einheimischen entwickelt. Dies kann den erfreulichen Beziehungen der Juister Gäste mit ihren Gastgebern nur zum besten gereichen.

3. Juister Zielkonflikt: Gesundheit vs. Wirtschaft.

Mit großer Betroffenheit haben mit Juist besonders verbundene Gäste von dem Konflikt zwischen Fachärzten und der Verwaltung erfahren.

Die beiden geschätzten Fachärzte für Allgemeinmedizin, Dr. med. Paul Okot-Opiro und Dr. med. Heike Göttlicher, hatten brieflich (03.04.2020) gegenüber dem Landratsamt Aurich gegen die angekündigte Lockerung der Strategie strenger Zugangsbeschränkungen für Juist protestiert. Nur um vom Landratsamt zu erfahren, dass von der Juist-Verwaltung selbst darauf gedrängt worden sei, den Zugang für u. a. Bauarbeiter und Handwerker zur Insel zu ermöglichen. *8)

Offenbar mussten die Ärzte zur Kenntnis nehmen, dass bei dieser Initiative von Gemeinderat und Stadtverwaltung in schwerster gesundheitlicher Gefahrenlage durch den Corona-Virus kein Interesse an der Meinung der Inselärzte bestand. In dem Brief von Dr. Okot-Opiro heißt es dazu: *8)

  • Zunächst hatten wir nicht die geringste Ahnung, dass diese Forderung von der Insel selbst ausging, weil dies so nicht kommuniziert, ja teilweise sogar bestritten wurde …
  • Am 06.04.2020 wurde um 15:00 Uhr eine erweiterte Krisenstabsitzung einberufen. Nebenbei sei erwähnt, dass ich, als seit über 17 Jahren hier tätiger Inselarzt, bisher dazu nicht hinzugezogen wurde, obwohl es sich augenscheinlich beim Thema Corona-Pandemie, um eine medizinische Problematik handelt. Jetzt war auch uns klar, die Lockerung der Zugangsbeschränkung war gewollt und bereits entschieden. Es bestand an diesem Nachmittag auch keinerlei Interesse, durch einen evtl. Widerspruch diese Lockerung aufzuheben. Warum auch? Es war wie immer — Stillschweigen von denen, die hinter vorgehaltener Hand sprechen …
  • In Zeiten, wo medizinisches „Know-how“ auf der ganzen Welt gefragt ist — scheint dies für Juist eher zweitrangig zu sein! Hier setzt man andere Prioritäten: Baustellen aktivieren, Einkaufsfahrten ans Festland forcieren usw. Wir stehen vor einer großen medizinischen Herausforderung, in der uns die Politik — auch die Lokale, sprich Sie und der Gemeinderat, eigentlich unterstützen, statt in den Rücken fallen sollte. Das ist ein Vertrauensbruch und hat wenig mit Ehrlichkeit, Respekt und Wertschätzung zu tun. Ich bin sehr enttäuscht worden über die Art und Weise, wie Sie und der Gemeinderat sowie einige Interessengruppen, handeln.
  • Vielleicht haben Sie noch nicht realisiert, was es bedeutet, wenn sich auf Juist eine Corona-Infektionskette ausbreitet. Schon jetzt ist zu wenig Schutzkleidung für Ärzte, Rettungsdienst und Pflegekräfte vorhanden. Ein Covid-19 infizierter Patient, der in der Praxis behandelt werden muss, führt zur kompletten Schließung der Praxis. Bei nur zwei vorhandenen Arztpraxen führt das schnell zur Aufhebung der kompletten medizinischen Versorgung auf Juist. Wir müssen insbesondere sowohl unsere älteren und schwerkranken Mitbürger, als auch die vielen jüngeren Menschen mit chronischen Erkrankungen z.B. der Atemwege (Asthma bronchiale usw.) schützen. Diese Patientengruppen werden zuerst betroffen sein und vor allem am Schlimmsten.
  • Wir sind seit über 17 Jahren hier auf der Insel Tag und Nacht für die Einwohner und ihre Gäste medizinisch im Einsatz. Deshalb ist es uns nicht gleichgültig, was momentan geschieht. Aus Verantwortlichkeit für die Inselbewohner müssen wir zu diesem Thema Stellung nehmen, auch wenn man uns hier, aus politischen Gründen, lieber außen vor lassen möchte.

Der Juist eng und langjährig verbundene Stammgast, der über die Professionalität und die herausragende menschliche Glaubwürdigkeit von Dr. Paul Okot-Opiro sehr gut informiert ist, liest dieses bittere Schreiben mit Fassungslosigkeit.

Vom Stammgast an die Stadtverwaltung und den Gemeinderat:

  • Habt Ihr gar nichts gelernt aus den hervorragenden Berichten zum “Touristischen Leitbild 2020. Insel Juist“? Habt Ihr nur geblättert, gelacht, gelocht?
  • Wie ist die von Ihnen praktizierte einseitige, schräge Vorstellung von Beteiligung der Bürger im Lichte des im Leitbild 2020 Empfohlenen und Versprochenen zu erklären?
  • Seid Ihr so verquickt mit engen Bau-Interessen, dass Euch die Gesundheitsrisiken durch Einsatz auswärtiger Handwerker und Bauarbeiter sowie verstärkter Festlandsaktivitäten gleichgültig sind?
  • Jeder Stammgast wird sich überlegen, ob er die “Gesundheits-Destination“ Juist besucht, wenn die dortige Politik ihre Verpflichtung gegenüber der Gesundheit Einheimischer und der Gäste in so leichtfertiger Weise wahrnimmt, wie Ihr Verhalten gegenüber den Inselärzten belegt.

Und allen Bürgern des Töwerland wünschen wir trotz solcher Insel-Politik: Insulaner, bleibt gesund! Denn wir wollen wieder zu Euch kommen!

*1) Diese Zahlen sind für den Zweck der Illustration vereinfacht  aus verschiedenen Quellen geschätzt.

*2) Bitte bleiben Sie zu Hause! (Stand 11.04.2020); https://www.niedersachsen.de/startseite/

*3) Zweite Corona-Ansprache der Bundeskanzlerin im Wortlaut. Meldung der dts Nachrichtenagentur vom 03.04.2020.

*4) Kanzleramtsminister: Höhepunkt der Krise kommt noch. Meldung der dts Nachrichtenagentur vom 04.04.2020.

*5) Touristisches Leitbild 2020. Insel Juist. Kurzfassung 2010. Auftraggeber: Gemeinde- und Kurverwaltung Juist. Ausgearbeitet wurde das Leitbild von von der österreichischen Consulting für Tourismus, KOHL UND PARTNER, einem international angesehenen Beratungsunternehmen, das auf die Beratung und Entwicklung von Tourismusprojekten spezialisiert ist.

*6) Endbericht Lebensraumkonzept „Lebendiges Juist“. Alexander Seiz, Gernot Memmer. 26. Januar 2018. Auftraggeber: Gemeinde- und Kurverwaltung Juist. Bearbeitung: Kohl & Partner Stuttgart, Hotel und Tourismus Consulting; https://oc.gemeinde-juist.de/wp-content/uploads/sites/3/2018/01/Endbericht-Seiz-_Lebensraumkonzept_final-1.pdf.

*7) DIE IDEE VOM LEBENSRAUM. Kohl & Partner beschäftigt sich mit diesen Fragen bereits seit vielen Jahren und hat als mögliche Antwort das sogenannte „Lebensraumkonzept“ initiiert; https://www.kohl.at/de/magazin/die-idee-vom-lebensraum/95-21217.html

*8) News: Ist medizinisches „Know how“ auf Juist nur zweitrangig? Beigetragen von JNN am 08. Apr 2020; http://www.juistnews.de/artikel/2020/4/8/ist-medizinisches-know-how-auf-juist-nur-zweitrangig/