Irrwege zum „moral highground“.

In Deutschland wird es eng auf dem moral highground. Dem hochgelegenen Ort, an dem sich die moralische Elite als Wächter über politischen Anstand und als Hüter des Gemeinwohls versammelt. Und wo es eng wird, kann es ungemütlich werden.

Warum? Ganz einfach. Ein Platz auf dem moral highground ist mit dem Anspruch auf Vertrauen verbunden, einer begehrten Ressource der Politik. Wer gehört zum Klub? Einige gewichtige Stimmen haben für sich Platz eingefordert.

1. Sigmar Gabriel und Margot Kässmann.

Beide bestätigten sich, dass SPD und Evangelische Kirche „im Gemeinwohl“ den Rahmen für Politik sehen. Anlass dieser Feststellung: schwarz-gelbe Klientelpolitik (vgl. www.sigmar gabriel.de; 19.01.2010).

Gerhard Schröder wird nicht darum gebeten haben; aber Sigmar Gabriel sieht auch ihn auf dem moral highground: „Ihm ging es immer um das Gemeinwohl des ganzen Landes. Schröder war auch als SPD-Vorsitzender immer zuerst Kanzler. Merkel ist immer Parteivorsitzende und nie Kanzlerin.“ (Interview, Tagesspiegel, 15.11.2010).

Das reicht: die Kanzlerin ist draussen, Gabriel und Kässmann nehmen Platz.

2. Steffi Lemke und Renate Künast.

Am 18.11.2010 wagt die SZ zu fragen: „Frau Lemke, Ihre Partei macht Politik für die Windkraft- und Solarindustrie, Renate Künast will in Berlin Lehrer wieder verbeamten, unter denen Sie viele Wähler haben. Sind die Grünen eine Klientel-Partei?“

So nicht mit Bundesgeschaftsführerin Steffi Lemke! Denn: „Unsere Orientierung ist das Gemeinwohl. Uns geht es um die Lebensgrundlagen aller Generationen in unserer einen Welt. Uns geht es um die Zukunft.“ Renate Künast hatte schon im Jahr zuvor für Klarheit gesorgt (ddp, 08.10.2009): „Das am Gemeinwohl orientierte Bürgertum hat uns gewählt.“

Also: Steffi Lemke, Renate Künast und das ganze am Gemeinwohl orientierte Bürgertum auf den moral highground!

3. MdB´s Katrin Göring-Eckardt und Siegfried Kauder.

Kaum war der Bundeskanzlerin der Satz entflohen: „Ich freue mich darüber, dass es gelungen ist, Bin Ladin zu töten“, wurde diese Steilvorlage vom moral highground gerügt (Vgl. faz.net, dapd, 04.05.2011).

„Als Christin kann ich nur sagen, dass es kein Grund zum Feiern ist, wenn jemand getötet wird … Es wäre richtig gewesen, ihn festzunehmen und einem ordentlichen Verfahren zuzuführen.“ Und Herr Siegfried Kauder (CDU): „Das sind Rachegedanken, die man nicht hegen sollte. Das ist Mittelalter.“

Bei solcher Kommentarlage ist Michael Sahr von Phönix zu verstehen. „Der wehrlose, ältere Grandseigneur“, barmt er am 5. Mai. Allerdings besteht bei Narrenfreiheit der Jugend noch kein Anrecht auf Platz am moral highground.

Leider sehen wir nun auch den wirklich um Gemeinwohl und politische Kultur verdienten Heiner Geißler mit der Kanzlerin draußen vor der Tür: „Also, ich finde es eine total verquere Diskussion … eine typisch deutsche Diskussion, wo halt Leute völlig falsche Wertbegriffe haben. Man muss nun einmal sehen, dass jeder demokratische Staat ein Notwehrrecht hat.“ (dlf, 05.05.2011).

4. Dr. Michael Naumann, Chefredakteur, Cicero – Magazin für politische Kultur.

Zunächst verdeutlicht uns Herr Naumann die staatspolitische Bedeutung des moral highground (April-Heft 2011, S. 8):

Erstens, das „Vertrauen der Bürger zueinander und zu den staatlichen Institutionen ist die Voraussetzung einer demokratischen und freien Gesellschaft.“

Zweitens, „Gefährdet ist die Ordnung eines Staates, in dem nicht Vertrauen, sondern allgemeines Misstrauen angesichts der offenen und verborgenen Motive der politischen und juristischen, der ökonomischen, militärischen und wissenschaftlichen Elite, also der sogenannten ´Entscheidungsträger`, vorherrscht.“

Drittens, wann gefährdet Misstrauen gegen die „Elite“ aus Sicht Dr. Naumanns die staatliche Ordnung? Wenn es die Verpflichtung der Elite gegenüber „dem ´common good`, dem Gemeinwohl“ begründet in Zweifel zieht.

Da haben wir den Maßstab, den die passieren müssen, die den moral highground erreichen wollen. Angelegt an die Kanzlerin und ihre Regierung, misst Naumann „Kernschmelze ihrer Glaubwürdigkeit“ und des Vertrauens.

Könnten gegenüber solch hehrem Maßstab und vernichtender Diagnose die für das Urteil herangezogenen Sachverhalte – Hotelierbesteuerung, AKW-Moratorium – nicht etwas klein wirken? Auch diese leisen Zweifel retten nichts mehr: Vom moral highground aus gesehen, ist die Kanzlerin weg vom Fenster.

Aber auch große Sozialdemokraten müssen um ihren Ehrenplatz bangen. Richtet Herr Naumann über sie und ihre Glaubwürdigkeit, wenn er die „sozialen Fürsorgeleistungen des Staates … urplötzlich gestrichen“ sieht und darauf Verlust an Vertrauen zurückführt?

Was bleibt von unserem Land, wenn Cicero von hoch oben zur „moralischen Lage in der Bundesrepublik“ urteilt: „Ohne Haltung und Anstand“?

Siegfried Kauders Verdikt „Das ist Mittelalter“ hat mich auf eine Spur der Hoffnung geführt. Herr Werner Dicke erwähnt Jacob Burckhardts (1818 – 1897) Vorliebe für die viel verkannte Epoche des Mittelalters (Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 02.10.2010).

Herr Dicke zitiert Jacob Burckhardt mit dem Satz „Ohnehin sollten wir schon deshalb das Maul halten, weil jene Zeiten ihren Nachkommen keine Staatsschulden hinterließen, schon diese Art, das Vermögen der künftigen Generationen vorweg zu verschleudern, beweist einen herzlosen Hochmut.“

Das ist es, zurück in die Zukunft! Direkt vor der Nase des gesamten deutschen moral highground ist die moralische Großtat der Politik unserer Jahre zu besichtigen! Gegen die Aufforderung des DGB, die Stimmen der Grünen und der Linken hat die große Koalition Ende Mai 2009 eine „Entscheidung von historischer Tragweite“ getroffen und die „Schuldenbremse“ im Grundgesetz verankert.

Finanzminister Peer Steinbrück beschrieb dem Parlament die Weichenstellung: „Wer zukünftig einen handlungsfähigen Staat will, … der muss dafür sorgen, dass Schuldenstand und Zinslast reduziert werden … das (ist) auch die Basis einer verantwortungsvollen, generationengerechten Politik.“ (Deutscher Bundestag, 29. Mai 2009).

Wir brauchen kein Vertrauen in gemeinwohlorientierte Eliten. Wir brauchen das Bundesverfassungsgericht, die Gesetze und ihre Vollzugsorgane, skeptische Wähler und Öffentlichkeit, Wettbewerb in Wirtschaft und Politik. Kein Politiker muss die Ebene der Sachfragen verlassen und uns etwas über „Gemeinwohl“ erzählen.

Denn das Gemeinwohl hat die letzten 40 Jahre hergehalten für den Griff in unsere Kasse und außerdem den Staat „sehr leichtfüssig in eine Verschuldung hineingetrieben … Wir haben in schlechten Zeiten Schulden gemacht, diese aber in guten Zeiten nicht zurückgezahlt.“ (Peer Steinbrück).

„Haltung und Anstand“ hat die große Koalition gegenüber kommenden Generationen bewiesen. Ich sehe nicht, dass sich an ihrer Vorgabe zur Schuldenbremse etwas geändert hat. Keine Sorge, Cicero, um die moralische Lage der Bundesrepublik! Der hoffentlich misstrauische Bürger ist auf der Hut, vergleicht Anspruch und Wirklichkeit.